Urteil des VG Münster vom 07.03.2000

VG Münster: werkstatt, behinderung, eingliederung, altersgrenze, vollstreckung, arbeitsmarkt, behinderter, vollstreckbarkeit, leistungsfähigkeit, auflage

Verwaltungsgericht Münster, 5 K 4036/96
Datum:
07.03.2000
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 K 4036/96
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht der
Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Der am 0 geborene Kläger ist geistig behindert. Er lebt seit 0 im Haus Früchting, einem
Wohn- und Pflegeheim der Brüdergemeinschaft der Canisianer. Seit 0 ist er in der
Werkstatt für Behinderte dieser Einrichtung beschäftigt. Der Beklagte bewilligte ihm
durch Bescheid vom 13. September 1989 für diese Beschäftigung Eingliederungshilfe
nach § 40 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).
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Nach Anhörung des Klägers stellte der Beklagte durch Bescheid vom 27. Juni 1996 die
Bewilligung von Eingliederungshilfe für die Beschäftigung in der Werkstatt für
Behinderte mit Wirkung vom 1. Mai 1996 mit der Begründung ein, daß der Kläger nach
Vollendung seines 65. Lebensjahres vergleichbar wie erwerbstätige Arbeitnehmer
behandelt werden müsse und deshalb nicht mehr beanspruchen können, daß seine
Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte im Rahmen der Eingliederungshilfe
finanziert werde.
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Der Kläger legte am 16. Juli 1996 Widerspruch ein und verwies darauf, daß es eine
Altersgrenze für die Beschäftigung von Behinderten in Werkstätten für Behinderte nicht
gebe und daß deshalb in jedem Einzelfall entschieden werden müsse, ob ein
Behinderter auch nach der Vollendung seines 65. Lebensjahres auf die Bewilligung von
Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten einer Beschäftigung in einer Werkstatt
für Behinderte angewiesen sei; diese Einzelfallprüfung habe der Beklagte nicht
vorgenommen; für ihn, den Kläger, sei es weiterhin sinnvoll, auch nach Vollendung
seines 65. Lebensjahres in einer Werkstatt für Behinderte tätig zu sein.
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Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 2.
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Dezember 1996 zurück mit der Begründung, daß im Falle des Klägers keine
Verpflichtung bestehe, ihm aus Mitteln der Eingliederungshilfe die Beschäftigung in
einer Werkstatt für Behinderte nach der Vollendung seines 65. Lebensjahres zu
ermöglichen.
Der Kläger hat am 24. Dezember 1996 Klage erhoben. Er wiederholt und vertieft sein
bisheriges Vorbringen und beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 27. Juni 1996 in der Gestalt
seines Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1996 zu verpflichten, ihm
Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten seiner Beschäftigung in der Werkstatt
für Behinderte von I für die Zeit vom 1. Mai 1996 bis zum 31. Dezember 1996 zu
gewähren.
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Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Gründe seines
Widerspruchsbescheides,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der
Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 1996 in der
Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1996 ist rechtmäßig, denn
der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß ihm der Beklagte Eingliederungshilfe
bewilligt, indem er die Kosten seiner Beschäftigung in der Werkstatt für Behinderte für
die Zeit vom 1. Mai 1996 bis zum 31. Dezember 1996 aus Mitteln der Sozialhilfe
übernimmt.
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Eingliederungshilfe wird gemäß § 39 Abs. 4 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG)
gewährt, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach Art
und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, daß die Aufgabe der
Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gemäß §
39 Abs. 3 Satz 1 BSHG u. a., eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu
beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern.
Hierzu gehört gemäß § 39 Abs. 3 Satz 2 BSHG vor allem, dem Behinderten die
Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die
Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit
zu ermöglichen oder ihn soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.
Behinderten, bei denen wegen der Art oder Schwere ihrer Behinderung arbeits- und
berufsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Eingliederung auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt nicht in Betracht kommen, soll nach § 40 Abs. 2 BSHG in der bis zum 31.
Juli 1996 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 23. März 1994, BGBl. I S. 646
nach Möglichkeit Gelegenheit zur Ausübung einer der Behinderung entsprechenden
Beschäftigung, insbesondere in einer Werkstatt für Behinderte, gegeben werden.
Anstelle dieser Regelung sieht § 41 in der seit dem 1. August 1996 geltenden Fassung
von Artikel 1 Nr. 16 des Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23. Juli 1996,
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BGBl. I S. 1088 vor, daß Behinderten, bei denen wegen Art oder Schwere ihrer
Behinderung arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Eingliederung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in Betracht kommen, die aber die
Voraussetzungen für eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte erfüllen
(Aufnahmevoraussetzungen), Hilfe zur Beschäftigung in einer anerkannten Werkstatt für
Behinderte gewährt wird. § 54 Abs. 1 des Schwerbehindertengesetzes sieht vor, daß
eine Werkstatt für Behinderte eine Einrichtung zur Eingliederung Behinderter in das
Arbeitsleben ist.
Aus dem Zusammenhang der vorgenannten Vorschriften ergibt sich, daß die
Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte Eingliederungshilfe zur Teilnahme am
Leben in der Gemeinschaft ist und daß diese Eingliederungshilfe an die Stelle arbeits-
und berufsfördernder Maßnahmen tritt, die wegen der Art oder Schwere der
Behinderung des Hilfeempfängers noch nicht oder nicht mehr durchgeführt werden
können. Aufgabe der Eingliederungshilfe bei der Beschäftigung von Behinderten in
Werkstätten für Behinderte ist es demgemäß, die vorhandene Behinderung und deren
Folgen zu beseitigen oder jedenfalls zu mildern, wie dies vergleichsweise bei einem
Hilfesuchenden erreicht werden kann, der am Arbeitsleben teilnimmt. Diese Zielsetzung
schließt es in der Regel aus, die Ziele der Eingliederungshilfe nach Vollendung des 65.
Lebensjahres zu erreichen, weil dies die Altersgrenze für im Erwerbsleben Beschäftigte
ist (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Mai 1991 - 6 S
888/90 -, Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte -
FEVS - 43, 467). Allerdings gibt es für behinderte Beschäftigte in Werkstätten für
Behinderte, die nicht am Arbeitsleben teilnehmen können, keine starre Altersgrenze.
Vielmehr ist nach der Besonderheit des jeweiligen Einzelfalles zu entscheiden
(Schellhorn-Jirasek-Seipp, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 15. Auflage 1997,
§ 39 Randziffer 45 und Meusinger in Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, 1999, § 39
Randziffer 44). Im Fall des Klägers hat sich der Beklagte unter Berücksichtigung seines
besonderen Lebensschicksals zutreffend dafür entschieden, die Beschäftigung in der
Werkstatt für Behinderte nach Vollendung des 65. Lebensjahres nicht mehr mit Mitteln
der Eingliederungshilfe zu fördern. Den Entwicklungsberichten des Hauses Früchting
über den Kläger aus den Jahren 1988, 1991 und 1994 ist zu entnehmen, daß die
Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit des Klägers im Laufe der Jahre ständig
abgenommen haben. Auf dieser Grundlage ist der Beklagte zu Recht davon
ausgegangen, daß bei dem Kläger die Aufgabe der ihm gewährten Eingliederungshilfe,
ihn am Leben in der Gemeinschaft durch Ausübung einer Beschäftigung in einer
Werkstatt für Behinderte teilnehmen zu lassen, nicht mehr dadurch erreicht werden
kann, daß er weiterhin in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt ist. Vielmehr reichte
es bei dem Kläger aus, wenn er - insoweit vergleichbar mit einem erwerbstätigen
Hilfeempfänger - in der Einrichtung weiterhin betreut wird, ohne „Arbeiten" zu gehen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 188 Satz 2, 154 Abs. 1 VwGO, ihre vorläufige
Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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