Urteil des VG Münster vom 13.08.2008

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Verwaltungsgericht Münster, 1 K 1518/08
Datum:
13.08.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 1518/08
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 3. Juni 2008 wird aufgehoben und der
Beklagte verpflichtet, die Schülerfahrkosten für die Beförderung der
Kinder K. und U. der Kläger zur Andreas- Grundschule in W. für das
Schuljahr 2008/2009 zu übernehmen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in
Höhe des beizutreibenden Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor
der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leisten.
T a t b e s t a n d :
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Die Gemeinde W. ist Schulträgerin der Andreas- Grundschule in W., die von den
Kindern K. und U. der Kläger im Schuljahr 2008/2009 besucht wird. K. besucht derzeit
die vierte Klasse, U. ist im Schuljahr 2008/2009 eingeschult worden. Bis zum Schuljahr
2007/2008 übernahm der Beklagte die Schülerfahrkosten für die Beförderung von K. mit
der Buslinie 000.
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Mit Schreiben vom 19. Mai 2008 teilte der Beklagte den Klägern mit, eine Überprüfung
der Länge des Schulwegs anlässlich der Einschulung von U. habe ergeben, dass der
Schulweg lediglich 1,8 km lang sei. Schülerfahrkosten könnten daher nicht (weiter)
übernommen werden.
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Mit Schreiben vom 22. Mai 2008 wandten die Kläger ein, der Schulweg ihrer Kinder
führe über einen unbeleuchteten Wirtschaftsweg - den G. -, der zudem regelmäßig mit
überhöhter Geschwindigkeit genutzt werde. Die Schülerfahrkosten müssten daher
(weiter) übernommen werden.
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Mit Bescheid vom 3. Juni 2008 lehnte der Beklagte die (weitere) Übernahme der
Schülerfahrkosten für die Beförderung von K. und U. ab. Der einfache Schulweg weise
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nicht die nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SchfkVO erforderliche Länge von 2 km auf. Er sei auch
nicht besonders gefährlich oder ungeeignet im Sinne von § 6 Abs. 2 SchfkVO. Der G.
befinde sich in einem guten baulichen Zustand und verfüge zu beiden Seiten über
hinreichend breite Bankettstreifen, die von Fußgängern, Radfahrern und
Kraftfahrzeugen genutzt werden könnten, falls sie einem größeren landwirtschaftlichen
Fahrzeug ausweichen müssen. Von dem dort üblichen Fahrzeugverkehr gingen keine
besonderen Gefahren für Grundschüler aus. Der G. sei zwar nicht beleuchtet, aber in
ausreichender Weise für Passanten einsehbar und werde - zum Teil als Bestandteil von
vier offiziellen Rad- und Wanderwegen - regelmäßig von Fußgängern, Radfahrern und
anderen Verkehrsteilnehmern genutzt, so dass auch die notwendige Sozialkontrolle
gesichert sei.
Die Kläger haben am 27. Juni 2008 Klage erhoben und zugleich die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung nahmen die Kläger am 10. Juli 2008 zurück (1 L 379/08).
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Sie machen in Ergänzung zu ihrem bisherigen Vorbringen geltend, der G. weise von
ihrem Wohnhaus bis zu seiner Einmündung in die O.-Straße keine Wohnbebauung auf.
Auch bei guter Witterung könne er nur teilweise eingesehen werden. Der angrenzende
Wald und die saisonale Maisbepflanzung der angrenzenden Felder böten ein ideales
Versteck für Straftäter. Er sei häufig verschmutzt, werde nur wenig (von Anwohnern,
Lieferanten, Landwirten und Personen auf dem Weg nach H.) befahren und als Radweg
nur an warmen, trockenen Wochenenden genutzt. Die wenigen Kraftfahrer zeichneten
sich zum Teil durch eine besonders rücksichtslose Fahrweise mit überhöhter
Geschwindigkeit aus, die dazu führe, dass Fußgänger - insbesondere kleine Kinder -
nicht rechtzeitig bemerkt würden oder für sie nicht rechtzeitig gebremst werden könne.
Die Bankettstreifen seien als Fußweg wegen der seitlich angrenzenden Gräben, der aus
dem Wald herausragenden Äste und der nur geringen Breite des G. nicht geeignet. Im
übrigen habe der Beklagte durch die bisherige Übernahme einen Vertrauenstatbestand
geschaffen.
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Die Kläger beantragen schriftsätzlich sinngemäß,
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den Bescheid des Beklagten vom 3. Juni 2008 aufzuheben und den Beklagten zu
verpflichten, die Schülerfahrkosten für die Beförderung ihrer Kinder K. und U. zur
Andreas- Grundschule in W. im Schuljahr 2008/2009 zu übernehmen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er macht geltend, eine Verkehrszählung im Zeitraum vom 4. August 2008, 10:51 Uhr, bis
zum 6. August 2008, 7:09 Uhr, habe den von den Klägern behaupteten Verkehr mit
überhöhter Geschwindigkeit nicht bestätigt. Im Messzeitraum seien insgesamt 341
Fahrzeuge erfasst worden, von denen lediglich eines eine Geschwindigkeit zwischen
60 und 70 km/h gefahren sei. Höhere Geschwindigkeiten seien nicht gemessen worden.
Am 5. August 2008 hätten im Zeitraum von 7:24 Uhr bis 8:24 Uhr 26 Fahrzeuge und im
Zeitraum von 11:09 Uhr bis 14:24 Uhr 51 Fahrzeuge den G. überquert. Tags zuvor seien
im gleichen Zeitraum mittags 34 Fahrzeuge erfasst worden. Der G. werde unter dem
Gesichtspunkt der Sozialkontrolle mithin ausreichend befahren und unterscheide sich
nicht von vielen anderen Schulwegen im Außenbereich. Im übrigen legten die Kinder
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der Kläger den Schulweg gemeinsam zurück oder hätten zumindest die Möglichkeit
hierzu.
Das Gericht hat den Schulweg im Rahmen eines Erörterungstermins vor Ort in
Augenschein genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und des Vorbringens der
Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 1 K 1518/08 und 1 L 379/08
und des vorgelegten Verwaltungsvorgangs ergänzend Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Beklagten vom 3. Juni 2008, mit dem der sinngemäße Antrag der
Kläger vom 22. Mai 2008 auf (weitere) Übernahme der Schülerfahrkosten für das
Schuljahr 2008/2009 abgelehnt worden ist, ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in
ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben gegenüber dem
Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Fahrkosten für die Beförderung ihrer
Kinder K. und U. zur Andreas- Grundschule im Schuljahr 2008/2009.
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Der Anspruch folgt aus § 97 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SchulG NRW in Verbindung mit
§§ 4 Abs. 1 Satz 1, 5 Abs. 1, 6 Abs. 2 Satz 1 SchfkVO. Nach §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 5 Abs. 1
SchfkVO besteht ein Anspruch auf Übernahme der notwendigen Kosten für die
Beförderung von Schülerinnen und Schülern. Unabhängig von der Länge des
Schulwegs entstehen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 SchfkVO Fahrkosten notwendig, wenn der
Schulweg nach den objektiven Gegebenheiten besonders gefährlich oder nach den
örtlichen Verhältnissen für Schülerinnen und Schüler ungeeignet ist.
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Diese Voraussetzungen erfüllt der Schulweg der Kinder der Kläger zur Andreas-
Grundschule in W. Er ist, soweit er über den Wirtschaftsweg G. führt, als besonders
gefährlich im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 SchfkVO zu qualifizieren, weil dort die
gesteigerte Gefahr krimineller Übergriffe auf die im Bewilligungszeitraum noch keine 14
Jahre alten Kinder der Kläger besteht.
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Eine besondere Gefährlichkeit des Schulweges im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1
SchfkVO kann sich nicht nur aus Gefährdungen durch den motorisierten Straßenverkehr
ergeben. Eine besondere Gefährlichkeit besteht auch im Falle der gesteigerten
Wahrscheinlichkeit sonstiger Schadensereignisse, die mit der Benutzung des
Schulweges verbunden sein können. Hierzu gehört auch die Gefahr krimineller
Übergriffe, wenn der Schüler zu Beginn des streitigen Bewilligungszeitraums zu einem
risikobelasteten Personenkreis gehört und er sich auf dem Schulweg in einer
schutzlosen Situation befindet, weil etwa nach den örtlichen Verhältnissen eine
rechtzeitige Hilfeleistung durch Dritte nicht gewährleistet ist. Vgl. OVG NRW,
Beschlüsse vom 21. November 2006 - 19 A 4673/04 -, 28. Januar 2005 - 19 A 5177/04 -,
29. Juni 2000 - 19 A 4710/98 -, und 16. November 1999 - 19 A 4395/96 -, m. w. N.
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die im Bewilligungszeitraum noch keine 14
Jahre alten Kinder der Kläger gehören zu einem risikobelasteten Personenkreis. Denn 6
bis 14 Jahre alte Schüler sind dem gesteigerten Risiko von kriminellen Übergriffen
ausgesetzt. Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 21. November 2006 - 19 A 4673/04 -, und
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vom 16. November 1999 - 19 A 4395/96 -.
Die Kinder der Kläger befinden sich im Schuljahr 2008/09 auf dem Teilstück G. bis zur
Einmündung in die O.-Straße im Falle eines kriminellen Übergriffs auch in einer
schutzlosen Situation. Das Teilstück ist nach dem Ergebnis der gerichtlichen
Inaugenscheinnahme 1100 m lang. Auf dem gesamten nicht beleuchteten Teilstück
befinden sich rechts und links der Straße ausschließlich Acker- und Waldflächen.
Wohnhäuser oder andere Gebäude, in denen sich Menschen nicht nur sporadisch
aufhalten, sind nicht vorhanden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass im Falle eines
kriminellen Übergriffs eine rechtzeitige Hilfe durch andere Verkehrsteilnehmer
hinreichend sichergestellt ist. Wie die gerichtliche Inaugenscheinnahme bereits
vermuten ließ und die von dem Beklagten im Zeitraum vom 4. bis 6. August 2008
durchgeführte Verkehrsmessung bestätigte, ist das Verkehrsaufkommen auf dem G.
sehr gering. Stündlich - auch zu den Zeiten, in denen sich die Kinder der Kläger auf dem
Schulweg befinden - verkehren dort weniger als 30 Fahrzeuge.
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Ein ausreichender Schutz ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kinder der Kläger den
Schulweg im Schuljahr 2008/2009 gemeinsam zurücklegen oder hierzu die Möglichkeit
hätten. Dass sich zwei Grundschüler im Falle eines kriminellen Übergriffs durch einen
erwachsenen Straftäter gegenseitig erfolgversprechend Hilfe leisten könnten, ist nicht zu
erwarten.
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Die gesteigerte Wahrscheinlichkeit der Gefahr krimineller Übergriffe auf die Kinder der
Kläger wird auch nicht dadurch in beachtlicher Weise gemindert, dass der über den G.
verlaufende Teil des Schulwegs weitgehend einsehbar wäre. Denn dies ist während der
Wintermonate in den frühen Morgenstunden ohne ausreichendes Tageslicht und
während der Sommermonate bei auf den angrenzenden Feldern angepflanztem Mais
nicht der Fall. In diesen Zeiträumen ist der G. allenfalls bis zu der etwa an der Hälfte des
Schulwegteilstücks einsetzenden Wegbiegung einsehbar, ohne dass aus der Richtung
der O.-Straße eine Einsichtnahme von Passanten zu erwarten wäre.
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Unabhängig davon würde die Einsehbarkeit dieses Teilstücks die Gefahr eines
kriminellen Übergriffs nicht reduzieren. Nach der Lebenserfahrung bieten nicht nur
günstige Versteckmöglichkeiten für potentielle Straftäter einen Anreiz, an einem
bestimmten Ort Straftaten etwa gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu begehen. Der
Entschluss zur Begehung einer Straftat kann in gleicher Weise dadurch hervorgerufen
werden, dass sich das Opfer aus anderen Gründen in einer Situation befindet, die aus
der Sicht des Straftäters eine rechtzeitige Hilfe nicht gewährleistet. In einer derart
schutzlosen Situation befindet sich ein Opfer auch auf einer wenig befahrenen Straße,
an der sich keine Wohnbebauung befindet. Daran ändert auch eine etwaige
Einsehbarkeit der Straße nichts.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. November 2006 - 19 A 4673/04 -.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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