Urteil des VG Münster vom 03.02.2010
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Verwaltungsgericht Münster, 8 K 1330/09
Datum:
03.02.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 K 1330/09
Tenor:
Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung von Rechtsanwalt V. aus F. wird abgelehnt.
G r ü n d e
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Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres
Prozessbevollmächtigten ist abzulehnen. Die gesetzlichen Voraussetzungen der §§ 166
VwGO, 114 ZPO für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen nicht vor. Die Klage
hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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1. Die Klägerin zu 1. hat keinen Anspruch auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
aus humanitären Gründen.
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Die Klägerin zu 1. erfüllt nicht die Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Sie
sichert ihren Lebensunterhalt im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG nicht ohne
Inanspruchnahme öffentlicher Mittel.
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Ein Ausnahmefall von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor. Ein
Ausnahmefall von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1
AufenthG besteht, wenn entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so
bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen
Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels ist aus Gründen
höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten (zu
§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 -,
www.bverwg.de = InfAuslR 2009, 330 = NVwZ 2009, 1239; Urteil vom 26. August 2008 -
1 C 32.07 -, www.bverwg.de = InfAuslR 2009, 8). Solche Gründe bestehen nicht.
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Die Versorgung der minderjährigen Kläger zu 2. bis 6. begründet keine solche
Ausnahme. Der Sinn und Zweck der Regelungen der §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3
AufenthG besteht darin, neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden.
Die Lebensunterhaltssicherung wird als eine der Erteilungsvoraussetzungen von
grundlegendem staatlichen Interesse und als wichtigste Voraussetzung, um die
Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern, bezeichnet (BVerwG, a.a.O.). Als ein
Maßstab für die Bestimmung der Regel-/Ausnahmeverhältnisse können bei
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erwerbsfähigen Ausländern damit die entsprechenden bundesrechtlichen
Bestimmungen des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs - SGB II - herangezogen
werden. Wenn bereits nach diesen Regelungen eine Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger
Versorgung der Kinder zumutbar ist, kann daraus kein Ausnahmefall von § 5 Abs. 1 Nr.
1 AufenthG folgen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. August 2008, a.a.O. zur
Maßstabsbildung des SGB II für den notwendigen Bedarf und das erforderliche
Einkommen). Nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II ist einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen
jedoch jede Arbeit zumutbar, es sei denn, dass die Ausübung der Arbeit die Erziehung
seines Kindes gefährden würde. Die Erziehung eines Kindes, das das dritte Lebensjahr
vollendet hat, ist nach dieser Vorschrift jedoch in der Regel nicht gefährdet, soweit seine
Betreuung in einer Tageseinrichtung oder in Tagespflege im Sinne der Vorschriften des
Achten Buches Sozialgesetzbuch oder auf sonstige Weise sichergestellt ist. Ein
derartiger Regelfall ist gegeben, der der Klägerin zu 1. zumindest die Aufnahme einer
Teilzeittätigkeit ermöglicht. Die Kinder der Klägerin zu 1. haben alle das dritte
Lebensjahr vollendet. Die Betreuung der Kinder ist jedenfalls während ihres
Schulbesuchs sichergestellt. Gesichtspunkte für eine Ausnahme von dieser Regel des
SGB II sind nicht dargetan oder sonst ersichtlich.
Bei dieser Sachlage begründet die Einwendung, Kinder zu versorgen, auch keine
Gründe im Sinne des § 5 Abs. 3 AufenthG.
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§ 23 AufenthG in Verbindung mit dem Beschluss der Innenminister und -senatoren der
Länder vom 18./19. November 1999 ("Altfallregelung 1999"; vgl. IM NRW, RdErl. vom
23. November 1999 - I B 3/44.53 -) begründet ebenfalls keine Ausnahme von der Regel
des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Auf der Grundlage der o. a. Ausführungen erfüllt die
Kläger zugleich nicht mehr die Voraussetzungen der Regelung zu Nr. 3.2 Buchstabe a
der Altfallregelung 1999. Die dort mit erfasste Vorschrift des § 18 Abs. 3 Satz 2
Bundessozialhilfegesetz ist die Vorgängerregelung zu § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II.
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Art. 8 EMRK begründet im Ergebnis keine andere Entscheidung, weil die nach Art. 8
Abs. 2 EMRK gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Lasten der Klägerin zu 1.
ausfällt. Die Klägerin hielt sich zwar in den letzten Jahren legal im Bundesgebiet auf.
Eine sonstige Integration der Klägerin zu 1. in die deutschen Lebensverhältnisse ist
jedoch nicht dargelegt oder trotz des 20-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet sonst
ersichtlich. Die Aufenthaltsdauer ist kein Indiz für eine soziale Integration oder gar für
eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG (OVG
NRW, Beschluss vom 17. Juni 2009 - 18 A 1010/09 -; vgl. auch EGMR, Entscheidungen
vom 16. September 2004 - 11103/03 - [Ghiban], NVwZ 2005, 1046 und vom 7. Oktober
2004 - 33743/03 - [Dragan], NVwZ 2005, 1043, 1045). Eine wirtschaftliche Integration
der Klägerin zu 1. ist im Ansatz nicht erkennbar. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die
Klägerin während ihres 20-jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik und trotz
mehrfacher Aufforderung zur Arbeitsplatzsuche durchgängig auf öffentliche Mittel zu
Bestreitung ihres Lebensunterhalts angewiesen war und ist (OVG NRW, Beschluss vom
30. Juli 2009 - 18 B 602/08 -, www.nrwe.de Rn. 6 = AuAS 2009, 18), sie zu keinem
Zeitpunkt eine legale Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, obwohl sie jedenfalls in den letzten
zehn Jahren im Besitz von Arbeitsberechtigungen war und Grund für die Annahme
besteht, dass ihr jedenfalls schon seit Sommer 2004 eine Erwerbstätigkeit zuzumuten
war. Neben der fehlenden wirtschaftlichen Integration besteht zugleich eine nicht
hinreichende sprachliche Integration. Die sich seit 20 Jahren im Bundesgebiet
aufhaltende Klägerin zu 1. beherrscht die deutsche Sprache nicht hinreichend. Dies
ergibt sich aus der Klagebegründung, nach der sich die Klägerin weiter um das Erlernen
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der deutschen Sprache bemühe. Sonstige Integrationsleistungen der Klägerin sind nicht
dargetan.
Die gesetzliche Ausnahme des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG ist nicht festzustellen. Nach dieser Vorschrift kann zwar eine
Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bei Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden.
Es ist jedoch nicht dargetan (§ 82 AufenthG) oder auch nur sonst ersichtlich, dass die
Klägerin zu 1. die Voraussetzung der Nr. 2 der Vorschrift erfüllt. Danach setzt die
Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a AufenthG hinreichende mündliche
Deutschkenntnisse im Sinne der Stufe A2 des Gemeinsamen Europäischen
Referenzrahmens für Sprachen voraus. Erfüllte die Klägerin zu 1. die Voraussetzung
des § 104 a Abs. 1 AufenthG nicht, so dass ihr nach dieser Vorschrift keine
Aufenthaltserlaubnis erteilt werden konnte, kann durch § 23 AufenthG i. V. m. dem
Runderlass des Innenministeriums NRW vom 17. Dezember 2009 keine
Ausnahmesituation zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG begründet werden.
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2. Hat die Klägerin zu 1. keinen Anspruch auf die Verlängerung oder Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen und besitzt der Vater der Kläger zu 2.
bis 6. keinen Aufenthaltstitel, ist ein Anspruch auch nicht für die Kläger zu 2. bis 6.
festzustellen. Insbesondere darf die Vorschrift des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht so
ausgelegt werden, als vermittle sie ein Aufenthaltsrecht allein deswegen, weil die
Kläger sich eine bestimmte Zeit im Bundesgebiet aufgehalten haben (vgl. EGMR,
Entscheidungen vom 16. September 2004 - 11103/03 - [Ghiban], a.a.O. und vom 7.
Oktober 2004 - 33743/03 - [Dragan], a.a.O.). Entscheidend ist vielmehr, ob Betroffene im
Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügen (EGMR,
Urteil vom 16. Juni 2005 - 60654/00 - [Sisojeva], InfAuslR 2005, 349), aufgrund derer sie
in ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländer geworden sind, weshalb ihnen bei
einem Verlassen des Aufnahmestaates eine Entwurzelung droht. Ist aber die
Aufenthaltszeit der Kläger im Bundesgebiet nicht maßgeblich, ist eine Verletzung des
Art. 8 EMRK nicht "positiv" festzustellen. Neben der geltend gemachten Aufenthaltszeit
sind bisher von den anwaltlich vertretenen Klägern keine dafür im Ansatz sprechenden
tatsächlichen Umstände angeführt. Eine Trennung der Kläger zu 2. bis 6. von den Eltern
ist nicht beabsichtigt.
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