Urteil des VG Münster vom 12.01.2006

VG Münster: politische verfolgung, bundesamt für migration, anerkennung, amnesty international, wahrscheinlichkeit, gefahr, behandlung, eltern, heimat, widerruf

Verwaltungsgericht Münster, 3 K 5265/03.A
Datum:
12.01.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 5265/03.A
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 13. November 2003 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der
Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d
1
Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist nach eigenem Vorbringen kurdischer
Volkszugehöriger türkischer Staatsangehörigkeit. Seine Eltern reisten im Dezember
1992 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten die Gewährung von Asyl.
Der Kläger folgte - wie drei weitere Geschwister - den Eltern kurze Zeit später und
schloss sich deren Asylantrag an.
2
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) - lehnte diese Begehren durch Bescheide vom
12. Oktober 1993 und 5. Januar 1994 ab. Die dagegen erhobene Klage führte vor dem
VG Stade - 4 A 262/93 - zum Erfolg; in seinem Urteil vom 14. Februar 1996 ging das
Gericht von der Annahme aus, kurdische Volkszugehörige unterlägen im gesamten
Staatsgebiet der Türkei einer Gruppenverfolgung. Auf Berufung des
Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten änderte das Nieders. OVG diese
Entscheidung durch Urteil vom 17. November 1998 - 11 L 3389/96 - teilweise ab und
verpflichtete die Beklagte festzustellen, dass in der Person der Kläger - Eltern und vier
Kinder - die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. In den
Entscheidungsgründen lehnte das Nieders. OVG die Annahme einer landesweiten
Gruppenverfolgung ab und verneinte die Voraussetzungen einer individuellen
Vorverfolgung der Kläger, des Weiteren auch die Voraussetzungen der
Sippenverfolgung in Bezug auf zwei entferntere Verwandte. Das OVG erkannte
3
allerdings, dem Vater des Klägers drohe im Fall der Rückkehr in die Türkei mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung wegen auslandspolitischer
Betätigung für die kurdische Sache in Deutschland; Ehefrau und Kinder müssten als
nahe Angehörige mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, in diese politische
Verfolgung einbezogen zu werden; sie seien sämtlich über 14 Jahre alt und würden
wegen ihres engen verwandtschaftlichen Verhältnisses von den türkischen
Sicherheitskräften generell verdächtigt, den gleichen politischen Überzeugungen
anzuhängen wie der Vater. Außerdem bestehe die Gefahr menschenrechtswidriger
Behandlung bei der Rückkehr, weil die türkischen Sicherheitskräfte sich von ihnen
Informationen über die exilpolitischen Aktivitäten des Vaters und dessen Kontakte
versprechen könnten. Durch Bescheid vom 10. Juni 1999 stellte das Bundesamt zu
Gunsten des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG fest. Zur Begründung
verwies es auf das Urteil des Nieders. OVG vom 17. November 1998.
Durch Urteil des LG Verden - 3. Große Strafkammer, Jugendkammer - vom 3. Dezember
1997 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen Mordes in Tateinheit mit
gemeinschaftlichem Raub mit Todesfolge zu einer Jugendstrafe von 8 Jahren verurteilt;
am 11. März 2003 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen. Dies nahm der Landkreis
Cloppenburg als zuständige Ausländerbehörde zum Anlass, den Kläger durch Bescheid
vom 13. November 2003 aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Diese
Verfügung hob das VG Oldenburg durch Urteil vom 4. Juli 2005 - 11 A 2230/04 - auf, da
der Kläger besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AuslG
genieße, solange der Widerruf des Anerkennungsbescheides vom 10. Juni 1999 noch
nicht unanfechtbar geworden sei. In den Jahren 2000 und 2001 stellte das
Generalkonsulat der Republik Türkei in Hannover der Mutter und der älteren Schwester
des Klägers türkische Reisepässe aus.
4
Nach Anhörung widerrief das Bundesamt durch Bescheid vom 13. November 2003 die
durch Bescheid vom 10. Juni 1999 zu Gunsten des Klägers getroffene Feststellung,
dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, und stellte zugleich fest,
dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Zur Begründung stellte
das Bundesamt darauf ab, die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung
lasse sich nicht mehr treffen; insbesondere sei die das Urteil des Nieders. OVG vom 17.
November 1998 tragende Begründung, wegen der auslandspolitischen Aktivitäten des
Vaters drohe auch den übrigen Familienangehörigen menschenrechtswidrige
Behandlung bei einer Rückkehr in die Türkei „vorliegend nicht mehr gegeben". Die
Ausstellung der Reisepässe an die Ehefrau und eine Tochter zeige an, dass insoweit
keinerlei Verfolgungsinteresse mehr bestehe. Ein davon unabhängiger Vorwurf
politischer Betätigung gegenüber dem Kläger in Person sei nicht ersichtlich. Insoweit
könne auch dahingestellt bleiben, ob es überhaupt noch zu Verfolgungsmaßnahmen
gegenüber PKK/KADEK- Aktivisten komme. Auf dieser Grundlage lägen
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vor.
5
Am 5. Dezember 2003 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, eine
allgemeine Lageverbesserung reiche nicht als Voraussetzung für den Widerruf einer
Anerkennung im Sinn des § 51 Abs. 1 AuslG aus. Die Ausstellung von Reisepässen zu
Gunsten Familienangehöriger sage nichts über die Gefährdungslage des Klägers aus.
Hinsichtlich der Einschätzung der exponierten auslandspolitischen Tätigkeit des Vaters
habe sich nichts geändert.
6
Der Kläger beantragt,
7
den Bescheid des Bundesamtes vom 13. November 2003 aufzuheben.
8
Die Beklagte tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen und beantragt, die Klage
abzuweisen.
9
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Akten der Beklagten (Beiakten Hefte 1 und 3), des VG Oldenburg
(Beiakte Heft 2) und der Ausländerbehörde der Stadt Rheine (Beiakten Hefte 4 bis 6),
ferner auf die in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünfte, Stellungnahmen und
Presseberichte Bezug genommen.
10
Entscheidungsgründe
11
Die Klage ist begründet. Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 13. November
2003 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1
VwGO.
12
I. Der angefochtene Widerrufsbescheid kann sich nur im Ansatz auf § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG stützen. Nach dieser Norm ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen,
wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, also insbesondere dann, wenn
die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht. Dies wiederum
ist anzunehmen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen
Verhältnisse nachträglich entscheidungserheblich geändert haben. Da § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG allein auf die Änderung der Sachlage abstellt, bleibt es einerseits gleich, ob
sich die anfängliche Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG/§
51 Abs. 1 AuslG als von Anfang an rechtswidrig darstellt; andererseits genügt eine
abweichende Beurteilung der Verfolgungslage allein nicht als Grundlage des
Widerrufsbescheides.
13
Einhellige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 19. September 2000 - 9 C
12/00 -, NVwZ 2001, 335, sowie vom 25. August 2004 - 1 C 22/03 -, NVwZ 2005, 89.
14
1. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 13.
November 2003 diesen objektiven Normanforderungen genügt. Denn der ursprüngliche
Anerkennungsbescheid i. S. d. § 51 Abs. 1 AuslG vom 10. Juni 1999 ging ersichtlich von
zwei tatsächlichen Annahmen aus, die eine Verfolgung des Klägers als beachtlich
wahrscheinlich darstellten, nämlich von einer mittlerweile individualisierten politischen
Auffälligkeit des Klägers sowie von den Voraussetzungen einer Sippenhaft: Es sei zu
erwarten, dass die türkischen Sicherheitskräfte den Kläger wegen seines Alters und der
verwandtschaftlichen Nähe generell verdächtigten, den gleichen politischen
Überzeugungen anzuhängen wie sein Vater; dieser hatte sich u.a. öffentlich für
Abdullah Öcalan sowie die PKK- Guerilla eingesetzt und war ferner dafür eingetreten,
dass die kurdischen Organisationen sich einigen sollten, gemeinsam für eine eigene
Heimat zu kämpfen. Außerdem könnten die türkischen Sicherheitskräfte sich für den Fall
der Rückkehr des Klägers von diesem Informationen über die exilpolitischen Aktivitäten
des Vaters und dessen Kontakte versprechen; es bestehe deshalb ebenfalls die Gefahr,
im Rahmen eines Verhörs einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt zu
werden. Zwar hatte der Bescheid vom 10. Juni 1999 diese Begründung nicht selbst
formuliert, jedoch mit dem alleinigen Bezug auf das Urteil des Nieders. OVG vom 17.
15
November 1998 - 11 L 3389/96 - sich dessen tatsächliche Grundlagen zur Annahme
einer beachtlichen Verfolgungsfurcht zu Eigen gemacht. Mit diesem Erklärungsinhalt ist
der Anerkennungsbescheid bestandskräftig und wirksam geworden.
Vgl. zu einer solchen uneingeschränkten Ausrichtung des Anerkennungsbescheides an
einem rechtskräftigen Urteil: BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2003 - 1 C 15/02 -, NVwZ 2004,
113.
16
Ob sich die objektive Sachlage im Herkunftsland Türkei geändert hat, aufgrund derer mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Sippenverfolgung für nahe Angehörige zu
prognostizieren war, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls spricht
gegenwärtig nichts für eine erhebliche Veränderung der zum Zeitpunkt der
Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse in Bezug auf die Verfolgung eines
Rückkehrers, der - abgesehen von unbeachtlichen Auffälligkeiten wie der
Wehrdienstverweigerung in der Heimat oder der Asylantragstellung in Deutschland -
einen sog. PKK- oder Separatismusverdacht i. S. d. Urteils des Nieders. OVG, a.a.O.,
auf sich gezogen hat. Insbesondere nach Aufkündigung des Waffenstillstandes durch
die PKK im Juni 2004 ist zwar (gegenwärtig noch) nicht zu erwarten, dass militärische
Auseinandersetzungen mit der bis Ende des Jahres 1999 erreichten Schärfe
wiederaufleben. Das Kurdenproblem kann jedoch keinesfalls als gelöst angesehen
werden. Die Sicherheitskräfte sind nach wie vor darauf aus, separatistische
Bestrebungen rigoros zu unterbinden. Auch wenn es seit einigen Jahren keine
Referenzfälle der Folter an der Grenze mehr gegeben hat, so ist doch nicht
auszuschließen, dass Personen, auf die der sog. PKK-Verdacht gefallen ist, nach wie
vor im Inneren der Türkei einer Folter in Form von physischem oder psychischem
Zwang unterzogen werden. Insoweit hat sich die Sachlage gegenüber den
Verhältnissen zur Zeit der Entscheidung des Nieders. OVG, a.a.O., nicht wesentlich
geändert, wie sowohl aus der Rechtsprechung als auch den zugrundeliegenden
tatsächlichen Erkenntnissen zu entnehmen ist. Dabei bleibt es - wie zu wiederholen ist -
ohne Bedeutung, ob das Nieders. OVG, a.a.O., diese Verhältnisse auch zutreffend auf
die Person des Klägers übertragen hatte, der sich daran ausrichtende Bescheid vom 10.
Juni 1999 also rechtmäßig war.
17
Vgl. zu den tatsächlichen Verhältnissen: OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A
273/04.A -, etwa S. 30 - 35, 60 - 66, 89, 90; ähnlich: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18.
November 2005 - 10 A 10580/05.OVG -; ferner zum Umfang der anhaltenden
Verfolgungssituation: Rechtsanwältin Keskin, Sachverständige Zeugenaussage am 3.
September 2004 vor dem VG Gießen, Gutachten Dr. Otmar Oehring vom 3. Oktober
2004 für das OVG Lüneburg, Gutachten Serafettin Kaya vom 25. Oktober 2004 für das
OVG NRW, Stellungnahmen Amnesty International vom 17. Dezember 2004 für das
OVG NRW, vom 17. Dezember 2004 für das VG Hamburg sowie vom 10. Januar 2005
und 20. September 2005 für das VG Sigmaringen.
18
Dem Widerrufsbescheid selbst ist keine tragende Begründung über geänderte
Tatsachen im Herkunftsland zu entnehmen, mit der die beachtliche Wahrscheinlichkeit
der Verfolgung wegen des sog. PKK- oder Separatismusverdachts gegenwärtig
ausgeräumt sein könnte. Die Tatsache, dass der Mutter und einer Schwester des
Klägers in den Jahren 2000 bzw. 2001 türkische Reisepässe ausgestellt worden sind,
zeigt lediglich an, dass die Feststellung, dass in deren Person die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG/§ 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, erloschen sein dürften. Über eine
konkrete Gefährdungslage anderer Personen für denn Fall der Rückkehr sagt dieser
19
Umstand jedoch nichts aus. Insbesondere leuchtet die lapidare Feststellung des
Bescheides, die Ausstellung der Reisepässe zeige an, dass „der türkische Staat wegen
der exilpolitischen Aktivitäten des Vaters jedenfalls bzgl. der Familienangehörigen
keinerlei Verfolgungsinteresse mehr" habe, als tatsächliche Folgerung nicht ein. Auch
die Begründung, der Kläger habe sich nie politisch betätigt, ihm könne keinerlei Vorwurf
seitens der türkischen Behörden gemacht werden, stellt sich allenfalls als Wertung dar,
dass die in der Person des Vaters anerkannten Verfolgungsgründe nicht mehr auf den
Kläger übergreifen könnten. Hierfür führt der Bescheid jedoch keinerlei tatsächliche
Verhältnisse ein.
2. Ungeachtet dessen erweist sich der Widerrufsbescheid vom 13. November 2003 als
rechtswidrig, weil er nicht in der Lage ist, sich über die Rechtskraft des Urteils des
Nieders. OVG vom 17. November 1998, a.a.O., hinwegzusetzen. Beruht die
Anerkennung als Asylberechtigter oder die Feststellung, dass die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG/§ 51 Abs. 1 AuslG gegeben seien, auf einem rechtskräftigen
verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil, so setzt die Widerrufsentscheidung nach
§ 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG voraus, dass die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung
nach § 121 VwGO dem Widerruf nicht entgegensteht.
20
So ebenfalls die einhellige Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November
1998 - 9 C 53/97 -, NVwZ 1999, 302, vom 18. September 2001 - 1 C 7/01 -, NVwZ 2002,
345, vom 8. Mai 2003 - 1 C 15/02 -, NVwZ 2004, 113; OVG NRW, Beschluss vom 20.
Februar 2002 - 21 A 613/02.A -.
21
Die Rechtskraft des Urteils des Nieders. OVG, a.a.O., bindet Kläger und Beklagte als
auch damals i. S. d. § 63 VwGO Beteiligte unmittelbar, vgl. § 121 VwGO. Daraus folgt
grundsätzlich, dass vor der Aufhebung einer gerichtlich angeordneten Anerkennung
auch im asylrechtlichen Bereich stets zu prüfen ist, ob die Rechtskraft der
Gerichtsentscheidung der Aufhebung des Anerkennungsbescheids entgegensteht. Ist
dies der Fall, so kann die Aufhebung erst erfolgen, wenn die rechtskräftige
Entscheidung in dem dafür vorgesehenen Verfahren gemäß § 153 VwGO beseitigt
worden ist. Da es zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom heutigen Tag (§ 77
Abs. 1 AsylVfG) an der letztgenannten Voraussetzung fehlt, steht der Widerrufsbescheid
vom 13. November 2003 grundsätzlich in Widerspruch zu der Rechtskraftwirkung des
nach wie vor existenten Urteils des Nieders. OVG vom 17. November 1998.
22
Allerdings binden rechtskräftige Urteile nach § 121 VwGO die Beteiligten nur insoweit,
als über den Streitgegenstand entschieden ist. Mit Blick auf den soeben genannten, für
die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt steht die Rechtskraft
einer Entscheidung nur bei unveränderter Sachlage der Aufhebung des Bescheides
entgegen. Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet, wenn sich die zur Zeit seines
Erlasses maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich geändert hat. Diese von der
Rechtskraftbindung des früheren Urteils befreiende entscheidungserhebliche Änderung
der Sachlage setzt voraus, dass die der Rechtskraft selbst eigenen Gebote des
Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit eine Änderung rechtfertigen. Dafür genügen
weder der Zeitablauf allein noch eine Änderung der Gefahrenprognose im Asylrecht.
Vielmehr muss ein in wesentlichen Punkten neuer Sachverhalt vorliegen. Hiervon kann
im Fall der rechtskräftigen Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung, dass in der
Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, nicht die
Rede sein. In Bezug auf den sog. PKK- bzw. Separatismusverdacht, aus dem das
Nieders. OVG, a.a.O., eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung des Klägers
23
für den Fall der Rückkehr in die Heimat abgeleitet hatte, kann auf vorstehende
Ausführungen zu den objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG verwiesen werden. In Bezug auf die dem genannten Urteil des Weiteren
zugrunde liegende Verfolgungsprognose, der Kläger werde mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit einer Sippenverfolgung unterzogen werden, lässt sich zum
gegenwärtigen Zeitpunkt ein solcher, in wesentlichen Punkten neuer Sachverhalt, d. h.
eine tatsächliche Entwicklung im Herkunftsland Türkei, die einen solchen
Verfolgungsgrund ausschließen könnte, nicht erkennen. Dabei ist wiederholend darauf
hinzuweisen, dass eine Änderung der Verfolgungsprognose allenfalls für die Erfüllung
des Tatbestandes des § 73 Abs.1 S. 1 AsylVfG ausreichen mag, jedoch nicht für die
Erfordernisse, die ein Bescheid erfüllen muss, um sich über die Rechtskraft eines
vorausgegangenen Verpflichtungsurteils hinwegsetzen zu können. Insoweit ist der
Beklagten zwar zuzugeben, dass die Rechtsprechung des OVG NRW gegenwärtig die
Auffassung vertritt, aufgrund der aktuellen Erkenntnislage drohe selbst nahen
Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen
Organisation nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Sippenhaft,
vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005, a.a.O., S. 98 ff.
24
Die dabei zugrunde gelegten Quellen entsprechen in vollem Umfang den Erkenntnissen
der Kammer gemäß der in das Verfahren eingeführten Liste mit Stand 26. Oktober 2005.
Das Gericht sieht aus diesem Grund keine durchgreifenden Bedenken, den
Rückschlüssen des OVG NRW zu folgen. Die Aufgabe der Rechtsprechung zur sog.
Sippenhaft kennzeichnet jedoch eine äußerst junge Entwicklung der tatsächlichen
Verfolgungslage in der Türkei. Die Entscheidung schließt sich auch keineswegs dem
Inhalt aller verfügbaren Erkenntnisse an. Im Übrigen hat das OVG NRW die geänderte
Einschätzung zur Verfolgung unbeteiligter Familienangehöriger zwar im Grundsatz
bestätigt
25
- Urteil vom 26. Oktober 2005 - 8 A 1949/04.A -,
26
aber in der weiteren Spruchpraxis auch hervorgehoben, dass es in Fällen der
Geltendmachung einer Sippenhaft weiterhin einer einzelfallbezogenen Würdigung
bedürfe,
27
vgl. Beschluss vom 14. Dezember 2005 - 8 A 4473/04.A - in Bestätigung des Urteils der
Kammer vom 10. September 2004 - 3 K 3210/02.A -.
28
Aus der im größeren Umfang geänderten Quellenlage sowie der Rechtsprechung zur
Sippenhaft lässt sich deshalb eine Änderung der Gefahrenprognose entnehmen. Wie
gezeigt
29
- BVerwG, Urteile vom 19. September 2000 sowie vom 18. September 2001, jeweils
a.a.O -,
30
genügt dies nicht zur Annahme eines geänderten Streitgegenstandes i. S. d. § 121
VwGO. Denn die Erheblichkeit der Sachlagenänderung müsste derart gewichtig, vor
allen Dingen in den tatsächlichen Anhaltspunkten derart abgesichert sein, dass sie in
der Lage ist, sich über Rechtsfrieden und Rechtssicherheit hinwegzusetzen, die aus der
Rechtskraft des früheren Urteils, hier des Urteils des Nieders. OVG vom 17 November
1998, erwachsen. Diese Annahme verbietet sich bei der - wie gezeigt - äußerst jungen
31
Entwicklung der Tatsachenlage in der Türkei, die überdies abweichenden
Gefährdungsprognosen im Einzellfall keineswegs entgegensteht.
Entsprechend hat die Rechtsprechung - wie abgrenzend zu bemerken ist - die
Unbeachtlichkeit der Rechtskraft eines asylrechtlichen Verpflichtungsurteils lediglich
dann angenommen und entsprechend Widerrufsbescheide nach § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG bestätigt, wenn aufgrund langjähriger Bewertung der Verhältnisse im
Herkunftsland kein Raum mehr blieb für die Annahme der Gruppenverfolgung
ethnischer Minderheiten oder wenn etwa die nachträgliche wesentliche Änderung der
Sachlage aus einem politischen Umsturz im Heimatland resultierte.
32
Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 18. September 2001, sowie OVG NRW, Beschluss vom
20. Februar 2002, jeweils a.a.O.
33
II. Die mit dem angefochtenen Bescheid vom 13. November 2003 getroffene Regelung
des Widerrufs der dem Kläger positiven Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG vom 10. Juni
1999 lässt sich schließlich nicht auf sonstige Ermächtigungsgrundlagen stützen mit der
Folge, dass eine Rechtsverletzung des Klägers gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO
entfiele.
34
1. Diese Anerkennung beruhte nicht auf § 26 AsylVfG; damit entfällt die Anwendbarkeit
des § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG. Die Bestimmung des § 73 Abs. 2 AsylVfG erweist sich für
den Fall des Klägers ebenfalls nicht als einschlägig. Zwar ist danach die Feststellung,
dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, zurückzunehmen, wenn
(u.a.) der Ausländer aus anderen Gründen nicht anerkannt werden könnte. Dieser
Ansatz wäre aber allenfalls auf die Versagung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs.
8 AufenthG/§ 51 Abs. 3 AuslG übertragbar und setzte damit voraus, dass der Kläger
eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder
besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens
drei Jahren verurteilt worden ist. Die Bestrafung des Klägers wegen gemeinschaftlichen
Mordes in Tateinheit mit gemeinschaftlichem Raub mit Todesfolge erfüllt diese
Voraussetzungen nicht. Denn die verfügte Haft von 8 Jahren stellt sich nach dem
eindeutigen Tenor und den weiteren Gründen des Urteils der 3. Großen Strafkammer -
Jugendkammer - des Landgerichts Verden vom 3. Dezember 1997 als Jugendstrafe dar.
Der Begriff der Freiheitsstrafe gemäß § 60 Abs. 8 AufenthG/§ 51 Abs. 3 AuslG erfasst
jedoch lediglich Verurteilungen nach Erwachsenenstrafrecht. Das BVerwG hat in
seinem Urteil vom 16. November 2000
35
- 9 C 4/00 -, juris WBRE 410007508 -
36
eingehend entwickelt, dass diese Beschränkung aus dem Wortlaut einschließlich
speziellgesetzlich begrifflicher Unterscheidung zwischen Freiheitsstrafe und
Jugendstrafe folge, schließlich auch dem Willen des Gesetzgebers entspreche. Die
Kammer sieht deshalb keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Ein Anhalt für die Erfüllung
der weiteren Tatbestände des § 73 Abs. 2 AsylVfG ggfs. i. V. m. § 60 Abs. 8 AufenthG/§
51 Abs. 3 AuslG ergibt sich weder aus dem Vortrag der Beteiligten noch aus dem Inhalt
der beigezogenen Vorgänge der Beklagten oder der Ausländerbehörde, die zu
entsprechender Aktualisierung aufgefordert worden waren. Die mündliche Verhandlung
vom heutigen Tag hat ebenfalls keinerlei tatsächliche Erkenntnisse erbracht, die zu
einer abweichenden oder erweiternden Anwendung der Normen des § 73 AsylVfG auf
den Fall des Klägers führen könnten.
37
2. Schließlich verbietet sich eine Heranziehung der allgemeinen
Rücknahmevorschriften der §§ 48, 49 VwVfG zu Lasten des Klägers schon deshalb,
weil deren Anwendung eine behördliche Ermessensausübung voraussetzt. Hieran fehlt
es in dem angefochtenen Bescheid; das Bundesamt handelte im Übrigen ersichtlich in
dem Bewusstsein, eine gebundene Entscheidung, eben i. S. d. § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG, treffen zu wollen.
38
Vgl. zur Anwendbarkeit der §§ 48, 49 VwVfG ansonsten BVerwG, Urteil vom 19.
September 2000, a.a.O.
39
III. Da somit der dem Kläger positive Feststellungsbescheid vom 10. Juni 1999 Bestand
behält, bleibt für die in dem angefochtenen Bescheid vom 13. November 2003
enthaltene Versagung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG kein Raum.
40
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über deren
vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2 und Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11,
711 ZPO.
41
42