Urteil des VG Münster vom 06.07.2007

VG Münster: einheit, fristlose entlassung, drohende gefahr, unverzüglich, gefährdung, privates interesse, mildernde umstände, soldat, befehl, dienstverhältnis

Verwaltungsgericht Münster, 11 K 996/06
Datum:
06.07.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 K 996/06
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe
von 110 v. H. des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die
Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Entlassung aus der Bundeswehr. Aufgrund seiner
Bewerbung für den freiwilligen Dienst bei der Bundeswehr trat er am 5. November 2001
seinen Dienst als Soldat auf Zeit an. Die auf vier Jahre festgesetzte reguläre Dienstzeit
hätte am 31. Oktober 2005 geendet. Zuletzt war der Kläger beim Deutschen Anteil
Stabunterstützungsbataillon I. (Deutsch- Niederländisches) Korps in Münster eingesetzt.
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Unter dem 30. August 2004 erteilte der Kommandierende General des I. Deutsch-
Niederländischen Korps dem Kläger nach vorheriger Anhörung einen „Ausdrücklichen
Hinweis". Er habe seine Dienstpflichten wie folgt verletzt:
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„1. Sie haben sich am 10.11.2003 bei einem zivilen Arzt krank gemeldet und erschienen
an diesem Tag auf Grund der ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht zum
Dienst, obwohl Ihnen bekannt war oder hätte zumindest bekannt sein müssen, dass die
ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Sie nicht von der Teilnahme am Dienst
entbindet. 2. Sie haben sich, trotz Belehrung durch den Truppenarzt des
Sanitätsbereiches Münster vom 15.12.2003, in der Zeit vom 01.03.2004 bis zum
15.03.2004 mehrfach ohne Vorliegen eines Notfalls in zivilärztliche Behandlung
begeben und haben weder Ihre Einheit noch den zuständigen Sanitätsbereich darüber
informiert. 3. Sie haben am 25.06.2004 beim Standortsanitätszentrum Goslar einen
durch den Truppenarzt befohlenen Wiedervorstellungstermin nicht wahrgenommen und
sind Ihrer Einheit bis zur freiwilligen Rückkehr am 29.06.2004 um 17.00 Uhr ohne
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Erlaubnis ferngeblieben."
Aufgrund seiner bisherigen Dienstpflichtverletzungen, die auch bereits Gegenstand
einer disziplinaren Ahndung gewesen seien, werde der Kläger hiermit zu
pflichtgemäßem Verhalten angehalten. Außerdem werde er darüber belehrt, dass er bei
einer erneuten Dienstpflichtverletzung mit seiner fristlosen Entlassung nach § 55 Abs. 5
Soldatengesetz zu rechnen habe.
5
Am Vormittag des 31. März 2005 verursachte der Kläger unter Einfluss von Ecstasy auf
der Bundesautobahn A 2 - auf dem Weg von seinem Heimatort Quedlinburg zum Dienst
nach Münster - einen Verkehrsunfall. Nach der medizinischen Erstversorgung in einem
Kreiskrankenhaus und einer anschließenden Untersuchung im Standortsanitätszentrum
Hannover wurde er nach einer bei den Akten befindlichen Erklärung um 15:12 Uhr auf
eigenen Wunsch entgegen des ärztlichen Rates aus der stationären Aufnahme des
Standortsanitätszentrums entlassen. In dem von ihm und dem Standortarzt
unterzeichneten Dokument ist weiter ausgeführt, er sei schriftlich darüber belehrt
worden, dass der zuständige Truppenarzt über die weitere Dienstfähigkeit entscheide
und er sich unverzüglich mit diesem Schreiben zu seinem Stammtruppenteil in Marsch
zu setzen und bei seinem nächsten Disziplinarvorgesetzten zu melden habe. Im
Ambulanzbericht des Standortsanitätszentrums Hannover ist unter
„Procedere/Empfehlung" vermerkt: „WV bei TA/Standortarzt morgen, heute KZH, Patient
ist nicht in der Lage KFZ zu führen, Überweisung zum KH Rinteln wurde von hier
übersandt". Die Ehefrau des Klägers holte ihn aus Hannover ab und fuhr ihn nach
Hause nach Quedlinburg. Der Kläger benachrichtigte seinen Stubenkameraden V. von
dem Unfall, informierte später aber niemanden in der Einheit davon, dass er sich nach
Hause begebe.
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Am 1. Februar 2005 stellte sich der Kläger um 10.00 Uhr im Standortsanitätszentrum
Goslar vor. Laut Krankmeldung wurde er bis zum 6. Februar 2005 „krank zu Hause"
geschrieben, Wiedervorstellung sollte am 7. Februar 2005 erfolgen. Ferner wurde der
Kläger belehrt, nach Abschluss der Behandlung unverzüglich Kontakt mit seiner Einheit
aufzunehmen. Bei Wiedervorstellungen am 7., 14. und 28. Februar 2005 erging erneut
die Empfehlung „krank zu Hause". Dabei erfolgte jeweils die schriftliche Belehrung,
unverzüglich mit seiner Einheit Kontakt aufzunehmen.
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Nach vorheriger Anhörung wurde der Kläger - im Rang des Hauptgefreiten -durch
Entlassungsverfügung des Kommandierenden Generals des I. Deutsch-
Niederländischen Korps vom 28. April 2005 gem. § 55 Abs. 5 SG fristlos aus der
Bundeswehr entlassen. Die Beklagte hielt dem Kläger die im Ausdrücklichen Hinweis
genannten sowie folgende weitere Dienstpflichtverletzungen vor:
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„4. Sie wurden am 31.01.2005 nach der medizinischen Behandlung auf Grund eines
Unfalls entgegen des ärztlichen Rates auf eigenen Wunsch aus der stationären
Aufnahme des Standortsanitätszentrums Hannover entlassen. Dabei wurden Sie durch
den Standortarzt des Standortsanitätszentrums Hannover schriftlich belehrt, dass Ihr
zuständiger Truppenarzt über Ihre weitere Dienstfähigkeit entscheidet und Sie sich
unverzüglich zu Ihrem Stammtruppenteil in Marsch zu setzen und bei Ihrem nächsten
Disziplinarvorgesetzten zu melden haben. Diesen Befehl haben Sie nicht befolgt. 5. Am
07.02.2005 und 28.02.2005 wurden Sie vom Truppenarzt Standortsanitätszentrum
Goslar „Krank zu Hause" geschrieben. Dabei wurden Sie schriftlich belehrt, dass Sie
unverzüglich nach Abschluss der Behandlung Kontakt mit Ihrer Einheit aufzunehmen
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haben. Diesem Befehl kamen Sie nicht nach."
Der Kläger habe mehrfach ihm erteilte Befehle von Vorgesetzten nicht befolgt, damit
gegen die Gehorsamspflicht verstoßen und so schuldhaft seine Dienstpflichten verletzt.
Sein weiteres Verbleiben in der Bundeswehr gefährde die militärische Ordnung
ernstlich. Ein Soldat, der eine Vielzahl der ihm erteilten Befehle nicht ausführe, sei für
die Bundeswehr nicht tragbar. Die Gefährdung sei ernstlich, denn es bestehe die
begründete Befürchtung, dass es zu weiteren Pflichtverletzungen kommen werde. Der
Kläger habe trotz der im Ausdrücklichen Hinweis aufgeführten Konsequenzen auch im
Jahre 2005 erteilte Befehle nicht befolgt. Er habe das Vertrauen in seine persönliche
Integrität und Vertrauenswürdigkeit unwiederbringlich zerstört. Bei einem Verbleiben im
Dienstverhältnis würde die Neigung zur militärischen Disziplinlosigkeit bei anderen
Soldaten gefördert. Unter Abwägung aller maßgeblichen Umstände könne von der
Entlassung nicht mehr abgesehen werden.
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Die dagegen am 12. Mai 2005 eingelegte Beschwerde begründete der Kläger unter
anderem damit, er habe nach dem Unfall am 31. Januar 2005 von der Notaufnahme des
Kreiskrankenhauses aus telefonisch seine Einheit und seine Familie informiert. Da
seine Frau ihm angeboten habe, ihn in Hannover abzuholen, habe er das Krankenhaus
auf eigenen Wunsch verlassen und ein Taxi nach Hannover genommen. Wegen einer
von der Polizei per Funkspruch angeordneten Blutuntersuchung sei er von der Polizei in
Garbsen in das Standortsanitätszentrum Hannover gebracht worden. Der behandelnde
Arzt habe ihn stationär aufnehmen wollen. Als er dem Arzt jedoch erklärt habe, dass
seine Frau auf ihn warte und er auch zu Hause versorgt werden könne, habe er ihn auf
eigene Verantwortung zu seinem Heimatort Quedlinburg mit der Maßgabe entlassen,
sich am nächsten Morgen beim Truppenarzt vorzustellen. Der Arzt sei also damit
einverstanden gewesen, dass er sich nicht zu seiner Einheit begeben habe. Die
anderslautende schriftliche Belehrung, sich zu seinem Stammtruppenteil in Marsch zu
setzen, die auf jedem Entlassungsschein aufgedruckt sei, sei daher für ihn nicht
verbindlich gewesen. Im Übrigen wäre er in seinem gesundheitlichen Zustand gar nicht
in der Lage gewesen, sich zu seiner Einheit nach Münster zu begeben, zumal der Weg
dorthin wesentlich weiter sei als nach Quedlinburg und seine Frau zurück nach Hause
gemusst habe. Von seinem Arztbesuch in Goslar am 1. Februar 2005 habe er seine
Einheit telefonisch unterrichtet. Er habe den stellvertretenden Kompaniefeldwebel,
Hauptfeldwebel Dornseifer, erreicht und ihn gebeten, den Chef zu informieren. An den
Wiedervorstellungsterminen habe er diesen wiederum jeweils noch am selben Tag
telefonisch informiert.
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Mit Schreiben vom 6. Juli 2005 teilte das Heeresführungskommando in Koblenz dem
Kläger mit, aufgrund des Sachvortrages in der Beschwerdebegründung seien weitere
Ermittlungen angestellt worden. Unter anderem sei bei der Einheit des Klägers
nachgefragt worden, ob dieser sich nach den Krankschreibungen durch den
Truppenarzt des Standortsanitätszentrums Goslar am 7. und 28. Februar 2005 im
Anschluss an die Behandlungen bei der Einheit krank gemeldet habe. Dies habe der
Kompaniechef verneint. In seiner Stellungnahme bringe dieser zusätzlich vor, dass auch
nach den weiteren ärztlichen Wiedervorstellungsterminen am 14. März 2005 und 5. April
2005 keine Verbindungsaufnahme mit der Einheit erfolgt sei. Die vom Kläger
vorgetragene ständige telefonische Erreichbarkeit über Handy sei nicht gewährleistet
gewesen. Auch sei der Kläger dem Befehl nicht nachgekommen, sich am 14. April 2005
beim Truppenarzt in Münster vorzustellen.
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Dazu nahm der Kläger durch anwaltliches Schreiben vom 19. Juli 2005 wie folgt
Stellung: Als er das Standortsanitätszentrum Hannover nach 17.00 Uhr verlassen habe,
habe er davon ausgehen können, weder den für seinen Stammtruppenteil zuständigen
Truppenarzt noch seinen Disziplinarvorgesetzten zu erreichen, da er kaum vor 20.00
Uhr angekommen wäre. Wegen der erlittenen Verletzungen hätte er auch nicht selbst
fahren können. Seiner Ehefrau wäre es nicht zumutbar gewesen, ihn nach Münster zu
bringen und dann nach Hause zu fahren. Unter diesen Umständen sei die schriftliche
Weisung des Standortsanitätszentrums Hannover nicht durchführbar gewesen. Er habe
auch noch von der Notaufnahme des Krankenhauses versucht, den
Disziplinarvorgesetzten bzw. das Geschäftszimmer telefonisch zu erreichen. Nachdem
ihm dies nicht gelungen sei, habe er seinen Stubenkameraden V. kontaktiert und
gebeten, die Meldung zu übernehmen. Er selbst habe am nächsten Morgen mit dem
Vertreter des Kompaniefeldwebels, Hauptfeldwebel E. , telefoniert und ihn ausführlich
unterrichtet. Die Einheit sei also informiert gewesen, dass er sich krank zu Hause
befunden habe. Dort sei er jederzeit erreichbar gewesen.
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Durch Urteil des Amtsgerichtes Bückeburg vom 00.00.0000 wurde der Kläger wegen
fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen
zu jeweils 15 Euro verurteilt. Das Amtsgericht ging davon aus, der Kläger habe im
Straßenverkehr ein Fahrzeug geführt, obwohl er sich infolge des Konsums der Ecstasy-
Wirkstoffe MDMA und MDA in hoher Konzentration noch in der Spätphase mit
Einschränkungen des psycho-physischen Leistungsvermögens befand und damit nicht
in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen. Die verursachte Gefährdung und sogar
Beschädigung von fremden Sachen von bedeutendem Wert (Mittelschutzplanke,
Sattelzug eines anderen Verkehrsteilnehmers) hätte der Kläger, der zwar die Ecstasy-
Wirkstoffe nicht gezielt konsumiert, aber die stimulierende und aufputschende Wirkung
des ihm von einem Angehörigen verabreichten Pulvers verspürt habe, bei Anwendung
der erforderlichen Sorgfalt vorhersehen und vermeiden können.
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Durch Beschwerdebescheid vom 11. Mai 2006 wies der Befehlshaber des
Heeresführungskommandos Koblenz die Beschwerde des Klägers gegen die
Entlassung zurück. Zur Begründung führte er unter anderem aus, die Kompanieführung
habe am 31. Januar 2005 keine Kenntnis von der stationären Aufnahme in das
Standortsanitätszentrum Hannover und der Entlassung entgegen ärztlichem Rat
erhalten. Das Vorbringen, er hätte an dem Tag weder den Einheitsführer noch den
Kompaniefeldwebel zu erreichen vermocht, sei als Schutzbehauptung zu erachten. Der
Truppenarzt in Hannover habe den schriftlich erteilten Befehl, sich nach der Entlassung
beim zuständigen Truppenarzt in Münster vorzustellen, weder aufgehoben noch ihm
gestattet, auf eigene Verantwortung nach Quedlinburg zurückzukehren. Mit seinem
Verhalten habe der Kläger wiederholt - und dies in mehreren Fällen entgegen
eindeutigen und von ihm auch unterzeichneten Belehrungen - gegen die Pflichten
verstoßen, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und seinem Vorgesetzten zu
gehorchen. Indem er am 31. Januar 2005 nicht den damaligen Einheitsführer oder
Kompaniefeldwebel angerufen habe, um die Absicht zu melden, sich nicht nach Münster
zu begeben, habe er sich nicht, wie es seiner Dienstpflicht zum treuen Dienen
entsprochen hätte, bei seiner Einheit abgemeldet. Der angerufene Hauptgefreite V. sei
keine zur Entgegennahme von Meldungen an den Einheitsführer zuständige Person,
der Anruf am 1. Februar 2005 habe der Pflicht zur unverzüglichen Abmeldung nicht
genügt.
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Angesichts der Vielzahl gleichgelagerter Dienstpflichtverletzungen, die im Ergebnis
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immer dazu führten, dass er sich entweder dem Dienst oder der vom Dienstherrn für ihn
vorgesehenen Gesundheitsvorsorge entzogen habe, habe er sich nicht als
vertrauenswürdig erwiesen. Durch sein Verhalten habe er die Vorgesetzten der
Möglichkeit beraubt, ein zutreffendes Lagebild im Hinblick auf seine Dienstfähigkeit
herzustellen. Damit habe er vereitelt, dass der Truppenarzt - nicht der ärztlichen
Schweigepflicht unterliegende - Empfehlungen für seine Genesung und künftige
Gesunderhaltung formulieren und diese an den Disziplinarvorgesetzten weitergeben
konnte, um so die personelle Einsatzbereitschaft der Einheit zu sichern. Der Kläger
habe damit sein privates Interesse im Hinblick auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes
und die Art der Genesung von Krankheiten über das Interesse des Dienstherrn gestellt,
durch bestmögliche truppenärztliche Versorgung und die Fürsorge der zuständigen
Vorgesetzten die im öffentlichen Interesse liegende Einsatzbereitschaft sicherzustellen.
Die große Zahl der Fälle, in denen sich sein Verhaltensmuster wiederholt habe, zeige,
dass die ergangenen Disziplinarmaßnahmen nicht ausreichend gewesen seien. Sein
Verhalten lasse - auch angesichts des aus der Personalakte ersichtlichen
unentschuldigten Fernbleibens vom Berufsschulunterricht von 99 Stunden - das
Bestehen von Wiederholungsgefahr erkennen. Auch hätte sein Verhalten der
Kontaktaufnahme zu Kameraden statt zur Einheit Nachahmungseffekte zu zeitigen
vermocht.
Der Kläger hat am 12. Juni 2006 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft
er sein bisheriges Vorbringen. Weiter trägt er vor, die Erklärung des
Kompaniefeldwebels E. , der Kläger habe sich nicht immer nach seinen ärztlichen
Behandlungen bei ihm telefonisch gemeldet, schließe nicht aus, dass er auch am 7. und
28. Februar 2005 telefonischen Kontakt zu seiner Einheit aufgenommen habe. Diese sei
ferner durch die Fernschreiben des Truppenarztes in Goslar über den Krankenstand
informiert gewesen. Selbst wenn er sich am 7. und 28. Februar 2005 nicht bei der
Einheit gemeldet habe, stelle dieses Fehlverhalten jedenfalls keine ernstliche
Gefährdung der militärischen Ordnung dar, so dass die fristlose Entlassung gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger sich wie folgt eingelassen: Nach dem
Unfall vom 31. Januar 2005 habe er noch von der Autobahn aus seinen Kameraden V.
angerufen und ihm gesagt, er habe einen Unfall erlitten, er solle sich um das
Aufschließen des Fitnessraums kümmern und im Geschäftszimmer Bescheid sagen.
Vom Kreiskrankenhaus aus habe er dann bei der Einheit angerufen und einem
Oberfeldwebel im Geschäftszimmer, an dessen Namen er sich nicht erinnern könne,
geschildert, er habe einen Unfall erlitten und sei jetzt im Krankenhaus. Mit dieser
Meldung sei die Sache für ihn erstmal erledigt gewesen. Er habe an dem Tag dann nicht
nochmal mit der Einheit Kontakt aufgenommen. Nach den Krankschreibungen durch
das Standortsanitätszentrum Goslar im Februar und März 2005 habe er jeweils per
Telefon den Spieß, Hauptfeldwebel C. , benachrichtigt oder, wenn er ihn nicht erreicht
habe, im Geschäftszimmer Bescheid gesagt. Davon, dass er einen
Wiedervorstellungstermin beim Truppenarzt in Münster am 14. April 2005 versäumt
haben solle, wisse er nichts; er könne sich daran nicht mehr erinnern.
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Der Kläger beantragt,
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die Entlassungsverfügung des Kommandierenden Generals des I. Deutsch-
Niederländischen Korps vom 28. April 2005 in der Gestalt des Beschwerdebescheides
des Befehlshabers des Heeresführungskommandos Koblenz vom 11. Mai 2006
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aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung trägt das Bundesministerium der Verteidigung vor, Stabsarzt Linde vom
Standortsanitätszentrum Hannover habe sich mitnichten damit einverstanden erklärt,
dass der Kläger sich vorschriftswidrig nicht bei seiner Einheit melde bzw. sich nicht
unverzüglich dorthin begebe. Vielmehr sei der Kläger am 31. Januar 2005 von ihm
darüber belehrt worden, für alle medizinischen und disziplinarrechtlichen
Konsequenzen selbst verantwortlich zu sein. Selbst wenn ein Befehl, sich persönlich
zur Einheit in Marsch zu setzen, aus Gründen der Unzumutbarkeit unverbindlich
gewesen sein möge, so gelte dies nicht für die Verpflichtung zur Krankmeldung bei der
Einheit. Es sei auch nicht dargetan, weshalb es dem Kläger unmöglich gewesen sein
solle, sich bei seinem Disziplinarvorgesetzten zu melden. Unvorstellbar sei, dass der
Hauptgefreite V. der einzige während der allgemeinen Dienstzeit in der Einheit
erreichbare Soldat gewesen sein solle. Die Pflichtverletzung des Klägers betreffe nicht
lediglich Randbereiche der militärischen Ordnung, sondern gerade deren Kernbereich,
zu denen die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und ihrer Soldaten, aber auch die
charakterliche Zuverlässigkeit des einzelnen Soldaten gehöre. Durch sein
pflichtwidriges Verhalten habe der Kläger die Achtung und das Vertrauen seiner
Vorgesetzten und Kameraden in seine Person unheilbar zerstört. Ein Absehen von der
Entlassung hätte bei den Soldaten in seiner Einheit den Eindruck erweckt, dass
Dienstvergehen der vorliegenden Art keine Konsequenzen für das Dienstverhältnis
hätten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Personalakte,
Akte „Ausdrücklicher Hinweis", Entlassungsakte, Beschwerdeakte) Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
25
Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet. Die Entlassungsverfügung des
Kommandierenden Generals des I. Deutsch-Niederländischen Korps vom 28. April 2005
in der Gestalt des Beschwerdebescheides des Befehlshabers des
Heeresführungskommandos Koblenz vom 11. Mai 2006 ist rechtmäßig und verletzt den
Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
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Gem. § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre
fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein
Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der
Bundeswehr ernstlich gefährden würde.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Der Kläger war
Soldat auf Zeit. Die fristlose Entlassung wurde innerhalb der Vier-Jahres-Frist verfügt.
Der Kläger hat auch seine Dienstpflichten verletzt. Dabei genügt für die von § 55 Abs. 5
SG geforderte Dienstpflichtverletzung jede Verletzung von Dienstpflichten unabhängig
davon, ob es sich um einen schweren oder leichten Fall handelt und ob verschärfende
oder mildernde Umstände hinzutreten.
28
BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1971 - BVerwG VIII C 180.67 -, BVerwGE 38, 178.
29
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger bereits dadurch eine
Dienstpflichtverletzung begangen hat, dass er sich am 31. Januar 2005 nicht zu seiner
Einheit, sondern nach Hause begeben hat. Insoweit spricht allerdings einiges gegen die
Annahme der Beklagten, er habe sich insofern befehlswidrig verhalten. Zwar hat der
Kläger ebenso wie der behandelnde Stabsarzt Linde die Erklärung „Ablehnung der
stationären Aufnahme gegen ärztlichen Rat" unterzeichnet, in der unter anderem
ausgeführt ist, dass er sich unverzüglich zu seinem Stammtruppenteil in Marsch zu
setzen und sich bei seinem zuständigen Disziplinarvorgesetzten zu melden habe.
Allerdings stützt die abschließende Empfehlung des Stabsarztes „WV bei
TA/Standortarzt morgen, heute KZH, Patient ist nicht in der Lage KFZ zu führen" das
Vorbringen des Klägers. Er macht geltend, der Stabsarzt habe sich angesichts der
Umstände - es war bereits Nachmittag, die Ehefrau war aus dem heimatlichen
Quedlinburg in das etwa auf halbem Wege nach Münster gelegene Hannover angereist,
um den Kläger abzuholen - mit einer Rückkehr nach Hause einverstanden erklärt und
ihm aufgegeben, sich am nächsten Tag beim nächstgelegenen Standortsanitätszentrum
vorzustellen, die Formularerklärung habe er lediglich aus Haftungsgründen
unterzeichnen lassen. Ob dieser Vortrag des Klägers zutrifft, bedarf aber letztlich keiner
weiteren Aufklärung.
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Denn der Kläger hat jedenfalls dadurch seine Dienstpflichten verletzt, dass er sich am
31. Januar 2005 sowie am 7. und 28. Februar 2005 nicht ordnungsgemäß bei der
zuständigen Stelle seiner Einheit - beim nächsten Disziplinarvorgesetzten - gemeldet
hat.
31
Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Kläger am 31. Januar 2005 außer seinem -
insoweit unzuständigen - Stubenkameraden V. niemandem in der Einheit vom Unfall
und insbesondere von seiner Rückkehr nach Hause statt zu seiner Einheit telefonisch
berichtet hat. Denn das Vorbringen zur telefonischen Kontaktaufnahme mit den
zuständigen Stellen in der Einheit ist unsubstantiiert und zudem widersprüchlich In der
Beschwerdebegründung hat der Kläger lediglich pauschal vorgetragen, er habe von der
Notaufnahme des Kreiskrankenhauses seine Einheit informiert. Gegenüber der
Vertrauensperson (Anhörung vom 21. März 2005) gab er an, den Kompaniefeldwebel
angerufen zu haben. Der war aber an dem Tag erkrankt und wurde durch
Hauptfeldwebel E. vertreten, der aber ebenso wie Kompaniechef Hauptmann Fegert
ausweislich ihrer glaubhaften Angaben keine Meldung am 31. Januar 2005 erhalten hat.
In seinem Schreiben vom 19. Juli 2005 zur weiteren Begründung der Beschwerde
machte der Kläger dann geltend, er habe von der Notaufnahme des Krankenhauses
versucht, den Disziplinarvorgesetzten bzw. das Geschäftszimmer telefonisch zu
erreichen. Nachdem ihm das nicht gelungen sei, habe er seinen Stubenkameraden V.
kontaktiert. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger im Widerspruch hierzu
allerdings behauptet, Herrn V. bereits von der Unfallstelle aus kontaktiert zu haben und
vom Kreiskrankenhaus aus sich mit einem Oberfeldwebel im Geschäftszimmer habe
verbinden zu lassen, an dessen Namen er sich nicht erinnern könne. Das Vorbringen,
außer dem Stubenkameraden niemanden in der Einheit erreicht zu haben, ist ohnehin,
wie der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt
hat, angesichts der tatsächlichen Verhältnisse bei der Bundeswehr im Allgemeinen und
den Krisenreaktionskräften des Deutsch-Niederländischen Korps im Besonderen nicht
glaubhaft.
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Selbst wenn man aber dem Kläger glaubte, dass er vom Kreiskrankenhaus aus das
Geschäftszimmer benachrichtigt hat, so fehlte es selbst nach seinem eigenen
Vorbringen jedenfalls an einer Meldung vom Standortsanitätszentrum Hannover aus.
Der Kläger hat seine Einheit nicht über den wesentlichen Umstand informiert, dass er an
dem Tag seinen Dienst gar nicht mehr antreten, sich auch nicht erkrankt bei ihr
einfinden, sondern nach Hause zurückkehren und sich (erst) am nächsten Tag im
nächstgelegenen Standortsanitätszentrum vorstellen werde.
33
Der Kläger hat das Gericht auch nicht davon überzeugen können, dass er sich nach
seinen Wiedervorstellungsterminen im Standortsanitätszentrum Hannover am 7. und 28.
Februar 2005 ordnungsgemäß bei der Einheit gemeldet hat. Während der
Kompaniechef Hauptmann Fegert in seiner Erklärung vom 28. Juni 2005 detailliert
dargelegt hat, an welchen Terminen der Kläger sich telefonisch bei seiner Einheit
zurückgemeldet hat und an welchen nicht, hat der Kläger lediglich pauschal behauptet,
sich stets nach den Wiedervorstellungsterminen zurückgemeldet zu haben. Darüber
hinaus hat er sich widersprüchlich dazu eingelassen, mit wem er Kontakt aufgenommen
haben will. Im Beschwerdeverfahren war vom stellvertretenden Kompaniefeldwebel E.
die Rede. Dieser hat aber in seiner schriftlichen Erklärung vom 27. Juni 2005 glaubhaft -
übereinstimmend mit Hauptmann Fegert - erklärt, der Kläger habe sich nicht immer nach
seinen ärztlichen Behandlungen bei ihm telefonisch gemeldet. Des öfteren sei es
vorgekommen, dass er erst durch ein Fernschreiben des Standortsanitätszentrums
Goslar oder durch eigenen Rückruf bei dem Soldaten erfahren habe, dass er „krank zu
Hause" sei. In der schriftlichen Klagebegründung hat der Kläger sich dann gänzlich
vage und unsubstantiiert eingelassen: Die Erklärung des Kompaniefeldwebels E.
schließe nicht aus, dass er auch am 7. und 28. Februar 2005 telefonischen Kontakt zu
seiner Einheit aufgenommen habe. Festlegen mochte er sich aber wohl nicht, wenn er
weiter ausführte, selbst wenn er sich an den beiden vorgeworfenen Tagen nicht bei der
Einheit gemeldet hätte, stelle dieses Fehlverhalten keine ernstliche Gefährdung der
militärischen Ordnung dar. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger nunmehr
erstmals, anders als zuvor und mangels weiterer Erklärung und Substantiierung nicht
glaubhaft angegeben, er habe jeweils per Telefon den Spieß, Hauptfeldwebel C. , oder
aber das Geschäftszimmer benachrichtigt.
34
Durch die danach zur Überzeugung des Gerichts feststehenden unterlassenen
Meldungen am 31. Januar, 7. und 28. Februar 2005 hat der Kläger seine Dienstpflichten
verletzt. Er hat gegen seine Pflicht zum treuen Dienen nach § 7 SG verstoßen. Ein
Soldat verstößt gegen diese Pflicht bereits dann, wenn er seiner Anwesenheits- und
Dienstleistungspflicht während einer kurzen Zeitspanne nicht nachkommt. Die
Anwesenheits- und Dienstleistungspflicht eines erkrankten Soldaten entfällt nach der
inneren Dienstordnung der Bundeswehr erst mit seiner Freistellung vom Dienst durch
den Disziplinarvorgesetzten.
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Zu den Dienstpflichten des erkrankten Soldaten vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember
1986 - 2 WD 48/85 -, BVerwGE 83, 265; Nr. 407ff. der ZDv 10/5.
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Der Kläger hat durch sein Verhalten auch seine Pflicht zu achtungs- und
vertrauenswürdigem Verhalten im dienstlichen Bereich gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 SG
verletzt. Die unterlassenen Meldungen entsprechen nicht dem Bild eines pflichtgetreu
handelnden Soldaten und begründen Zweifel an seiner Zuverlässigkeit. Der Kläger hat
durch sein Verhalten nicht nur gegen die in Nr. 411 der ZDv 10/5 niedergelegten
allgemeinen Regeln verstoßen, eine Entscheidung des nächsten
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Disziplinarvorgesetzten über den Aufenthaltsort einzuholen, wenn der Truppenarzt die
Empfehlung „krank zu Hause" gibt. Er hat ferner am 31. Januar 2005 gegen den ihm
ausdrücklich erteilten Befehl, sich unverzüglich bei seinem zuständigen
Disziplinarvorgesetzten zu melden, verstoßen und damit die in § 11 SG niedergelegte
Gehorsamspflicht verletzt. Denn selbst wenn man die ferner in dem Formularschreiben
„Ablehnung der stationären Aufnahme gegen ärztlichen Rat" enthaltene Verpflichtung,
sich zum Stammtruppenteil in Marsch zu setzen, wegen einer anderweitigen Absprache
mit dem Stabsarzt als nicht gültig betrachtete, so verblieb aber zumindest die
Verpflichtung, sich unverzüglich - d.h. nicht erst am 1. Februar 2005 - beim zuständigen
Disziplinarvorgesetzten zu melden. Auch anlässlich der Wiedervorstellungstermine im
Standortsanitätszentrum Goslar wurde der Kläger ausweislich der von ihm
unterzeichneten Formulare „Krankmeldung eines standortfremden Soldaten"
ausdrücklich verpflichtet, unverzüglich Kontakt mit der Einheit aufzunehmen. Der
Umstand, dass die Einheit am 7. und 28. Februar 2005 anderweitig - durch die
Fernschreiben des Standortsanitätszentrums - von der weiteren Dienstunfähigkeit des
Klägers unterrichtet wurde, vermag an der Verletzung der dem Kläger obliegenden
Verpflichtungen nichts zu ändern. Gesundheitliche Gründe, die den Kläger daran
hinderten, sich bei der zuständigen Stelle der Einheit zu melden und die Entscheidung
des Disziplinarvorgesetzten einzuholen, sind nicht ersichtlich. Dass er körperlich nicht in
der Lage war, nach der am 31. Januar 2005 zunächst schon im Kreiskrankenhaus und
sodann erneut im Standortsanitätszentrum Hannover getroffenen Entscheidung zur
Heimfahrt die Einheit zu informieren, hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht.
Der Kläger hat seine Dienstpflichten auch schuldhaft verletzt. Da die Verhaltenspflichten
bei Erkrankungen außerhalb des Standortes dem Kläger schon aus der Vergangenheit
hinlänglich bekannt waren und er auch am 31. Januar 2005, 7. und 28. Februar 2005
erneut entsprechende klare Meldeaufforderungen erhalten hat, hat er mit Blick auf seine
Dienstpflichten wenn nicht vorsätzlich, so jedenfalls fahrlässig gehandelt. Noch am 27.
November 2003 hat Hauptmann Helm laut seiner Erklärung vom 8. August 2005 dem
Kläger eine erzieherische Maßnahme in Form einer Belehrung erteilt. Dabei wurde dem
Kläger unter anderem der Inhalt der ZDv 10/5 in Bezug auf das Verhalten bei
Erkrankung außerhalb des Standortes explizit erläutert und das entsprechende
Merkblatt ausgehändigt. Ferner hatte das dienstpflichtwidrige Verhalten des Klägers in
Krankheitsfällen außerhalb des Standortes bereits zu einer „Abmahnung", der Erteilung
des sog. Ausdrücklichen Hinweises geführt. Die vom Kläger unterzeichneten Formulare
„Ablehnung der stationären Aufnahme gegen ärztlichen Rat" und „Krankmeldung eines
standortfremden Soldaten" verwiesen erneut auf die Verpflichtung, unverzüglich Kontakt
mit dem zuständigen Disziplinarvorgesetzten bzw. der Einheit aufzunehmen.
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Das weitere Verbleiben des Klägers in der Bundeswehr hätte ferner die militärische
Ordnung ernstlich gefährdet. Diese Tatbestandsvoraussetzung verdeutlicht den von der
Person des einzelnen Soldaten abhebenden, auf die Bundeswehr als Ganzes
zielenden Schutzzweck des § 55 Abs. 5 SG. Da die Entlassung damit keine disziplinare
Sanktion (Disziplinarmaßnahme) darstellt, ist sie nicht auf Fälle beschränkt, in denen
der Soldat im Hinblick auf Art und Schwere der Dienstpflichtverletzung untragbar
erscheint. Entscheidend ist vielmehr, ob im Hinblick auf die begangene - auch minder
schwere - Dienstpflichtverletzung gerade durch das Verbleiben des Soldaten in seinem
Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich
gefährdet werden würde. Die ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung kann
sich aus der begründeten Befürchtung ergeben, dass es bei dem zu entlassenden
Soldaten zu weiteren vergleichbaren Dienstpflichtverletzungen kommen werde
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(Wiederholungsgefahr), aber auch daraus, dass es sich bei der einzelnen
Dienstpflichtverletzung um das typische Teilstück einer als allgemeine Erscheinung
auftretenden Neigung zu Disziplinlosigkeiten handelt, so dass ohne die fristlose
Entlassung ein Anreiz zu ähnlichem Verhalten für andere Soldaten gegeben wäre
(Nachahmungsgefahr). Die in Auswirkung der Dienstpflichtverletzung der Bundeswehr
künftig drohende Gefahr hat das Verwaltungsgericht in einer objektiv nachträglichen
Prognose nachzuvollziehen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Februar 1981 - 2 C 47.78 -, ZBR 81, 323; BVerwG, Urteil
vom 9. Juni 1971 - BVerwG VIII C 180.67 -, BVerwGE 38, 178.
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Ausgehend von diesen Vorgaben würde durch das Verbleiben des Klägers in der
Bundeswehr angesichts der festgestellten Dienstpflichtverletzungen ernstlich die
militärische Ordnung gefährdet. Bei der vom Gericht vorzunehmenden Prognose der in
Auswirkung der Dienstpflichtverletzung der Bundeswehr drohenden Gefahr sind auch
die im Ausdrücklichen Hinweis aufgeführten, zum Teil disziplinarisch geahndeten und
vom Kläger inzwischen weitgehend eingeräumten Dienstpflichtverletzungen mit in den
Blick zu nehmen, die angesichts der Fristregelung des § 55 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 47
Abs. 3 SG als Entlassungsgrund die angefochtene Entlassungsverfügung vom 28. April
2005 (allein) nicht hätten tragen können.
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Die wiederholte Verletzung von (Melde-)Pflichten im Zusammenhang mit Erkrankungen
außerhalb des Standortes berührt den Kernbereich der militärischen Ordnung.
Insbesondere für einen Soldaten, der auf Grund freiwilliger Verpflichtung den
Streitkräften angehört, sind Anwesenheit und Dienstleistung fundamentale und zentrale
Pflichten, deren strikte Erfüllung die Durchführung des militärischen Auftrages erst
ermöglicht. Die Verletzung von Anwesenheits- und Dienstpflichten berührt nicht nur die
Wurzeln der militärischen Ordnung und die Schlagkraft der Truppe, sondern erschüttert
auch die Grundlage des Dienstverhältnisses.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1986 - 2 WD 48/85 -, BVerwGE 83, 265.
43
Die militärische Ordnung wäre auch ernstlich gefährdet, da bei einem Verbleib des
Klägers in der Bundeswehr die begründete Befürchtung weiterer Pflichtverletzungen
durch ihn bestand, die zugleich Nachahmungshandlungen anderer Kameraden hätten
auslösen können, und durch die befehlswidrige Verletzung von (Melde-)Pflichten im
Krankheitsfall die Verteidigungsbereitschaft der Truppe in Frage gestellt wird. Es kommt
wegen des Schutzzweckes des § 55 Abs. 5 SG, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr
zu erhalten, für die Annahme einer ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung
nicht auf die im Einzelfall vielleicht nicht so schwer wiegende Nichtbefolgung von
Befehlen und den dadurch hier entstandenen Schaden an, sondern vielmehr auf die
Gefahr, die der Verteidigungsbereitschaft jeder einzelnen Einheit und der Bundeswehr
im Ganzen droht, wenn zahlreiche derartige Verstöße vorkommen.
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Der Erhalt der Verteidigungsbereitschaft erfordert es, dass sich die Bundeswehr auf die
strikte Erfüllung der Anwesenheits- und Dienstleistungspflicht eines jeden Soldaten
verlassen kann. Das gilt auch für die Erfüllung der Verhaltenspflichten eines erkrankten
Soldaten. Das Verhalten des Klägers stellte seine für den militärischen Betrieb
unverzichtbare Zuverlässigkeit grundlegend in Frage. Dass er wiederholt über einen
längeren Zeitraum entsprechende (gleichgelagerte) Pflichten verletzt hat, rechtfertigt die
Prognose, dass er auch künftig - gerade in als belastend empfundenen Situationen -
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seine Dienstpflichten entweder bewusst nicht erfüllen oder sich pflichtvergessen zeigen
wird. Die ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung bei einem Verbleiben des
Klägers in der Bundeswehr war gerade auch deshalb zu befürchten, weil die vorherigen
(milderen) Reaktionen auf gleichgelagerte Pflichtverletzungen - die „Abmahnung" in
Gestalt des Ausdrücklichen Hinweises sowie die ergangenen Disziplinarmaßnahmen -
keine grundlegende Verhaltensänderung bewirken konnten und nicht ausgereicht
haben, den Kläger auf Dauer zu vorschrifts- und befehlsgemäßem Verhalten
anzuhalten. In der Einschätzung, dass angesichts der Vielzahl gleichgelagerter
Pflichtverletzungen eine Wiederholungsgefahr zu bejahen ist, sieht sich das Gericht im
Übrigen auch dadurch bestätigt, dass der Kläger nach der Erklärung des Hauptmanns
Fegert vom 28. Juni 2005 auch nach Wiedervorstellungsterminen am 14. März und 5.
April 2005 keine Verbindung mit der Einheit aufgenommen hat und am 14. April 2005
einen Wiedervorstellungstermin beim Truppenarzt versäumt hat. Der Kläger, der sich im
laufenden Verfahren hierzu zunächst gar nicht geäußert und in der mündlichen
Verhandlung lediglich pauschal angegeben hat, er wisse nichts davon und könne sich
an nichts erinnern, hat diese präzisen Angaben nicht entkräften können.
Darüber hinaus hat die Beklagte in den streitgegenständlichen Bescheiden auch zu
Recht auf die Nachahmungsgefahr hingewiesen und betont, beim Verbleiben des
Klägers im Dienstverhältnis würde die Neigung zur militärischen Disziplinlosigkeit bei
anderen Soldaten gefördert. Kommen zahlreiche Befehlsverweigerungen und Verstöße
gegen Meldepflichten vor, gefährdet dies die Verteidigungsbereitschaft jeder einzelnen
Einheit und der Bundeswehr im Ganzen. Die militärische Ordnung kann nur dann
aufrechterhalten werden, wenn für die Wahrung der militärischen Disziplin gesorgt wird.
Dies kann aber nur dann gelingen, wenn nicht bei anderen Kameraden der Eindruck
entsteht, die Bundeswehr gehe nicht konsequent gegen die Verletzung von
Dienstpflichten vor und dulde damit letztlich vorschrifts- und befehlswidriges Verhalten.
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Beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG steht die
Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der für die Entlassung zuständigen
Behörde. Die hier getroffene Ermessensentscheidung, den Kläger aus der Bundeswehr
zu entlassen, ist nicht zu beanstanden. Dies gilt auch denn, wenn man entgegen der
Auffassung der Beklagten in der Heimfahrt nach Quedlinburg am 31. Januar 2005 keine
Dienstpflichtverletzung erkennt und damit der Ermessensentscheidung eine geringere
Anzahl von Dienstpflichtverletzungen als angenommen hätte zugrundegelegt werden
dürfen. Denn § 55 Abs. 5 SG räumt kein „umfassendes" Ermessen dergestalt ein, dass
die Entlassungsbehörde ähnlich wie in einem Disziplinarverfahren alle für und gegen
den Verbleib des Zeitsoldaten im Dienst sprechenden Gesichtspunkte einer
Gesamtwürdigung unterziehen müsste. Dem steht die besondere Zweckbestimmung
des § 55 Abs. 5 SG entgegen, eine - sich im Grunde bereits aus der Erfüllung der
tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift ergebende - drohende Gefahr für die
Bundeswehr abzuwenden. Deshalb ist das Ermessen der Behörde, beim Vorliegen der
Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG von einer Entlassung absehen zu können, im
Sinne einer sog. „intendierten Entscheidung" auf besondere Ausnahmefälle zu
beschränken, die der Gesetzgeber in seine vorweggenommene
Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht einbezogen hat, weil sie den in Rede stehenden Fall
völlig atypisch prägen.
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Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Beschluss vom 20. Januar 2005, - 1 B 2009/04 - a.a.O.
m.w.N.
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Solche außergewöhnlichen Umstände sind hier nicht ersichtlich. Sie liegen
insbesondere nicht in der nur noch kurzen verbleibenden Dienstzeit oder den bei einer
Entlassung zu befürchtenden sozialen Problemen. Denn diese Umstände sind in einer
Vielzahl von Fällen gegeben.
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Für zusätzliche Erwägungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist entgegen der
Auffassung des Klägers schon deshalb kein Raum, weil das Gesetz den allgemeinen
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bereits im Tatbestand des § 55 Abs. 5 SG - durch
das Merkmal „ernstlich" sowie die Begrenzung der Entlassung auf die ersten vier
Dienstjahre - konkretisiert hat.
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Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20. Juni 1983 - 6 C 2/81 -, NJW 1984, 938 m.w.N.
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