Urteil des VG Münster vom 06.01.2010

VG Münster (geistige behinderung, schule, antragsteller, aufschiebende wirkung, beachtliche gründe, behinderung, schüler, wechsel, förderung, bischof)

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 634/09
Datum:
06.01.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 634/09
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
G r ü n d e
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Der - sinngemäß gestellte - Antrag der Antragsteller,
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die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 15. Dezember 2009 - 1 K 2413/09 - gegen
den Bescheid des Antragsgegners vom 3. Dezember 2009 wiederherzustellen,
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ist gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zulässig, hat
aber in der Sache keinen Erfolg. Die im gerichtlichen Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 Satz
1 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem privaten Interesse der Antragsteller
daran, von der sofortigen Vollziehung verschont zu bleiben, und dem öffentlichen
Interesse an der sofortigen Durchsetzung des für notwendig gehaltenen Wechsels zu
einer Förderschule mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung" fällt zu Lasten der
Antragsteller aus. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen
summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich weder die
offensichtliche Rechtswidrigkeit noch die offensichtliche Rechtmäßigkeit der
angefochtenen Verfügung feststellen, wenngleich einiges für ihre Rechtmäßigkeit
spricht. Die von den Erfolgsaussichten unabhängige Interessenabwägung ergibt, dass
das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Aufschubinteresse der
Antragsteller überwiegt, weil die begründete Besorgnis besteht, dass ein weiterer
Besuch der Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen" die Schulausbildung des
Sohnes Sahin der Antragsteller und seine allgemeine Persönlichkeitsentwicklung
gefährden würde. Rechtsgrundlage für den vom Antragsgegner durch Bescheid vom 3.
Dezember 2009 nach einem entsprechenden Beschluss der Klassenkonferenz der
Overbergschule (Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Lernen") vom 27. Juni 2009
verfügten - probeweisen - Wechsel des Förderschwerpunktes und -ortes von „Lernen"
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zu „Geistige Entwicklung" und der diesbezüglichen Förderschule ist § 19 Abs. 2 Satz 1,
Abs. 3 SchulG NRW i.V.m. § 16 Abs. 4 und 5, § 13 der Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (AO-
SF). Nach § 4 Nr. 2 AO-SF kann ein sonderpädagogischer Förderbedarf u.a. durch eine
geistige Behinderung begründet sein. Eine geistige Behinderung liegt nach § 6 AO- SF
vor bei hochgradigen Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven Funktionen und in
der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür
sprechen, dass der Schüler zur selbstständigen Lebensführung voraussichtlich auch
nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt. Ob eine solche geistige
Behinderung im Sinne des Schulrechts gegeben ist, lässt sich nicht, wie von den
Antragstellern gefordert, mit einem kinderpsychologischen Gutachten feststellen. Denn
die Frage, ob ein Schüler einer sonderpädagogischen Förderung bedarf, ist einer
Beantwortung durch den Schüler isoliert außerhalb der Schule überprüfende Gutachter
in der Regel nicht zugänglich. Ob der Schüler einer sonderpädagogischen Förderung
bedarf, welcher konkreter Förderbedarf besteht und welche Förderschule geeigneter
Förderort ist, beurteilt sich grundsätzlich nach seinem in der Schule gezeigten
Verhalten. Außerschulische (Privat-)Gutachten können allenfalls in die erforderliche
Gesamtbeurteilung der Persönlichkeit des Schülers einbezogen werden, etwa wenn sie
sich zu medizinischen oder psychologischen Fragen verhalten. Vgl. OVG NRW,
Beschlüsse vom 3. September 2009 - 19 E 361/09 -, 23. April 2009 - 19 E 527/09 -, 21.
August 2008 - 19 A 1548/08. Nach dem Beschluss der Klassenkonferenz vom 27. Juni
2009, den umfangreichen Dokumentationen der Overbergschule, insbesondere der
Klassenlehrerin Mümken, sowie den Ausführungen der Sonderpädagogen Hardes und
Martini (Lehrer der Bischof-Ketteler-Schule, Förderschule mit dem Schwerpunkt
„Geistige Entwicklung") vom 4. Oktober 2009 bestehen gewichtige Gründe für die
Annahme des Antragsgegners, dass bei Sahin hochgradige Beeinträchtigungen im
Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit
vorliegen. Er ist nur in sehr eingeschränktem Maße in der Lage, dem Unterricht an der
Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen" zu folgen. Konzentrations- und
Motivationsfähigkeit sind gering, das Aufgaben- und Regelverständnis befindet sich auf
niedrigem Niveau. Selbst bei Konzentration und Anstrengung hat er Schwierigkeiten,
Unterrichtsgesprächen zu folgen, Inhalte zu verstehen und umzusetzen. Die Lern- und
Leistungsfortschritte sind äußerst gering, der 11jährige Junge bearbeitet im
Wesentlichen Aufgaben auf dem Niveau der Klasse 2. Es bestehen - auch nach dem
Abklingen der nach den Sommerferien 2008 aufgetretenen tiefgreifenden psychischen
Beeinträchtigungen (u.a. Angststörungen) - massive Verhaltensauffälligkeiten. Täglicher
Unterricht über zwei Stunden hinaus überfordert ihn derart, dass er unter anderem mit
Verweigerung reagiert und es zu massiven Störungen der Klassengemeinschaft kommt.
Ob darüber hinaus, wie von § 6 AO-SF weiter gefordert, hinreichende Anhaltspunkte
dafür sprechen, dass Sahin zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach
dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt, lässt sich anhand der vorgelegten
Verwaltungsvorgänge nicht beantworten. Das Vorliegen dieser weiteren Voraussetzung
des Begriffs der geistigen Behinderung im Sinne des Schulrechts begründen weder der
angefochtene Bescheid noch der Beschluss der Klassenkonferenz noch die „Beiträge
zur Erörterung des Wechsels von Förderschwerpunkt und Förderort aus Sicht der
Bischof-Ketteler-Schule" vom 4. Oktober 2009 noch die Niederschriften der
Klassenlehrerin Mümken. Die Klassenkonferenz behauptet zwar in ihrer Entscheidung
das Vorliegen dieser Voraussetzung, begründet und belegt diese Prognose allerdings
nicht. Die Pädagogen der Bischof-Ketteler-Schule betonen lediglich, dass Sahin an der
Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung" „förderliche
Herausforderungen finden wird". Die sonstigen bei den Verwaltungsvorgängen
befindlichen Dokumente, insbesondere die Niederschriften der Klassenlehrerin, lassen
keine hinreichenden Tatsachen erkennen, aus denen sich schließen ließe, Sahin werde
voraussichtlich lebenslang auf fremde Hilfe angewiesen sein und das praktische Leben
nicht selbständig bewältigen können. Sie beschreiben in erster Linie massive
Verhaltensauffälligkeiten und fehlende Lern- und Anstrengungsbereitschaft, die im
Übrigen auf das Vorliegen einer Erziehungsschwierigkeit (§ 5 Abs. 3 AO-SF) hindeuten,
und zeigen auf, dass Sahin an der Overbergschule derzeit nicht mehr hinreichend
gefördert werden kann. Das Fehlen einer hinreichenden Förderungsmöglichkeit in der
Förderschule „Lernen" rechtfertigt aber nicht den Wechsel des Förderschwerpunktes hin
zu „Geistige Entwicklung". Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 19 A
4865/96 -; Urteil vom 30. August 1996 - 19 A 800/96; Beschluss vom 13. Juni 1996 - 19
A 7098/95. Ob die nach § 16 Abs. 5 AO-SF mögliche - und hier vom Antragsgegner
ergriffene - probeweise Entscheidung über den Wechsel des Förderschwerpunktes und
-ortes zulässig ist, wenn nicht eindeutig geklärt ist, welche konkrete Behinderung
vorliegt, die Schulaufsichtsbehörde also selbst davon ausgeht, es solle im Verlauf der
Förderung an der Schule mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung" geklärt werden,
ob eine geistige Behinderung vorliege, bedarf hier keiner Entscheidung. Für die
Prognose, ob Sahin voraussichtlich zur selbständigen Lebensführung nach dem Ende
der Schuldzeit auf Dauer Hilfe benötigt, bedarf es jedenfalls keines (probeweisen)
Besuchs der Förderschule mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung", sondern nur
weiterer (ggf. gutachterlicher) Feststellungen. Die bei dem hier offenen Ausgang des
Hauptsacheverfahrens gebotene allgemeine Interessenabwägung geht zu Lasten der
Antragsteller aus. Denn es sprechen nach den obigen Ausführungen beachtliche
Gründe dafür, dass sich bei weiterer Aufklärung des Sachverhaltes der Wechsel des
Förderschwerpunktes als zutreffend erweisen wird und der (vorübergehende) weitere
Besuch der Schule mit dem Schwerpunkt „Lernen" nicht verantwortbar ist, weil er eine
angemessene Bildung und Erziehung des Sohnes der Antragsteller nicht gewährleistet.
Das Gericht ist nach dem derzeitigen Erkenntnisstand davon überzeugt, dass der
weitere Besuch der Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen" zu nicht hinnehmbaren
Beeinträchtigungen der weiteren Schulausbildung von Sahin und seiner allgemeinen
Persönlichkeitsentwicklung führen wird. Sahin wird seit 1 ½ Jahren nur noch zwei
Stunden täglich und damit inhaltlich (nur Deutsch und Mathematik) und zeitlich äußerst
eingeschränkt beschult. Dabei sind nicht nur kaum Lernfortschritte zu verbuchen,
sondern auch eine Einbindung in die Klassengemeinschaft und eine umfassende
Teilhabe am Schulleben nicht zur gewährleisten. Eine - etwa zu Beginn des
Schuljahres 2009/2010 erneut versuchte - Ausweitung der Unterrichtszeit überfordert
ihn. Auch bereits durchgeführte Klassenwechsel haben zu keinen Verbesserungen
geführt. Aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten und des abweichenden
Leistungsstandes bindet Sahin zudem selbst in den zwei täglichen Unterrichtsstunden
in hohem Maße die Arbeitskraft der Lehrer, so dass die Mitschüler nicht angemessen
gefördert werden können. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Der Auffangwert des § 52
Abs. 2 GKG war wegen des vorläufigen Charakters des einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens um die Hälfte zu reduzieren.
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