Urteil des VG Münster vom 15.01.2003

VG Münster: anerkennung, bundesamt, ausreise, flucht, vollstreckung, aktiven, verdacht, familie, schweigen, gefahr

Verwaltungsgericht Münster, 3 K 1817/98.A
Datum:
15.01.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 1817/98.A
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 9. Juni 1998 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten
anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG für den Staat Türkei vorliegen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Der im Jahre 0 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und nach eigenen
Angaben kurdischer Volkszugehörigkeit und alevitischen Glaubens. Am 22. Mai 1998
reiste er auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine
Anerkennung als Asylberechtigter im Wesentlichen mit der Begründung, die PKK-
Guerilla seit 1991 auf verschiedene Weise unterstützt zu haben und in den Jahren 1992,
1993 und zuletzt im August 1995 namentlich wegen seiner Schwestern G und N, die
sich der Guerilla angeschlossen hätten, festgenommen worden zu sein; sein
Heimatland habe er im Mai 1998 schließlich deswegen verlassen, weil ein Kämpfer,
den er den Guerillas zugeführt habe, geflüchtet und er - der Kläger - in diesem
Zusammenhang in das Blickfeld der Sicherheitskräfte gelangt sei. Diesen Antrag lehnte
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) durch
Bescheid vom 9. Juni 1998 ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG und Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG nicht vorliegen, und drohte
dem Kläger die Abschiebung an.
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Mit der vorliegenden Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und beantragt,
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den Bescheid des Bundesamtes vom 9. Juni 1998 aufzuheben und die Beklagte zu
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verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise Abschiebungshindernisse gemäß §
53 AuslG, vorliegen.
Die Beklagte tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Gericht hat über die Asylgründe des Klägers Beweis erhoben durch uneidliche
Vernehmung des Zafer Kalman als Zeugen.
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Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die darüber gefertigte
Niederschrift, wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Asylakte des Bundesamtes sowie auf die in das
Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünfte und Stellungnahmen sachverständiger
Stellen Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage hat Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als
Asylberechtigter und auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG; der
dem entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 9. Juni 1998 unterliegt daher
der Aufhebung.
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Der Kläger, der auch nach Auffassung des Bundesamtes seine Einreise auf dem
Luftweg hinreichend nachgewiesen hat, kann seine Anerkennung als Asylberechtigter
verlangen, weil er politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG ist. Trotz nicht
gänzlich ausgeräumter - letztlich aber zu vernachlässigender - Zweifel hat das Gericht
die hinreichend sichere Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger das vorgetragene
Vorfluchtschicksal abgenommen werden kann.
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Diese Einschätzung betrifft zunächst die von dem Kläger im Einzelnen dargelegten
Unterstützungshandlungen für die PKK und die detailliert geschilderten Festnahmen in
den Jahren 1992, 1993 und 1995. Dass dieses Vorbringen glaubhaft ist, ergibt sich
bereits aus den Angaben des Klägers bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 4.
Juni 1998, wo der Kläger - wie die damalige Prozessbevollmächtigte in der
Klagebegründung vom 9. Juli 1998 zutreffend ausgeführt hat - mit Bezug auf die
genannten Jahre ein schlüssiges, nachvollziehbares Verfolgungsschicksal dargelegt
hat. Diese Einschätzung hat sich in der mündlichen Verhandlung bestätigt; auch hier hat
sich der Kläger substantiiert, anschaulich und im Kern widerspruchsfrei zu den
diesbezüglichen Ereignissen geäußert, wobei lediglich abrundend darauf hingewiesen
sein mag, dass die Behauptung des Klägers, seine Schwester Firas habe sich der
Guerilla angeschlossen und sei später im Kampf gefallen, durch entsprechende
Zeitungsberichte belegt ist.
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Allerdings bleibt zu beachten, dass die nach den vorstehenden Darlegungen
glaubhaften Geschehnisse der Jahre 1991 bis 1995 den geltend gemachten
Asylanspruch allein nicht begründen könnten; da der Kläger sein Heimatland nämlich
erst im Mai 1998 verlassen hat, würde es insoweit - worauf das Gericht bereits im
Beschluss vom 14. Januar 2003 hingewiesen hat - an dem notwendigen engen
zeitlichen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehlen. Die dahingehenden
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Zweifel an der Asylberechtigung des Klägers sind auf Grund des Ergebnisses der
mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts jedoch ausgeräumt. In
Konkretisierung und Präzisierung seines Vorbringens vor dem Bundesamt hat der
Kläger auf entsprechende Fragen des Gerichts auch für die Zeit seit seiner letzten - im
August 1995 erfolgten - Festnahme bis zur Ausreise im Mai 1998 eine Schilderung
gegeben, die geeignet ist, den geltend gemachten Asylanspruch zu tragen. Danach
kann dem Kläger geglaubt werden, dass sich sein auch durch den Zeugen Kalman
bestätigtes Engagement für die PKK - wie schon vor dem Bundesamt geltend gemacht -
auch auf die Rekrutierung von Guerillakämpfern erstreckt und sich im Frühjahr 1998 der
Verdacht der Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit der Flucht eines von ihm
angeworbenen Freiwilligen gegen den Kläger gerichtet hat. Auch seine
diesbezüglichen Angaben vor Gericht waren nachvollziehbar, hinreichend detailliert, im
Kern widerspruchsfrei und durchaus von Individualität geprägt. Greifbare Anhaltspunkte
dafür, der Kläger könnte das insoweit behauptete Geschehen in unlauterer Weise frei
erfunden haben, bestehen entgegen der Auffassung des Bundesamtes nicht. Zu jedem
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dem Gericht in einfacher, aber
eindringlicher - nie übertreibender oder gar dramatisierender - Schilderung den Eindruck
zu vermitteln gewusst, dass er von wirklich Erlebtem berichtete. Berücksichtigt man
ferner das in Deutschland gezeigte - wenn auch eher niedrig profilierte - Engagement
des Klägers für die kurdische Sache und die Tatsache, dass der Kläger offenbar aus
einer politisch aktiven Familie stammt, so müssen etwa noch bestehende Restzweifel
an der Glaubwürdigkeit des Klägers schweigen. In Würdigung aller Umstände und unter
besonderer Berücksichtigung des Eindruckes, den der Kläger in der mündlichen
Verhandlung hinterlassen hat, ist die Annahme gerechtfertigt, dass der Kläger vor seiner
Ausreise aus seinem Heimatland als Unterstützer der PKK konkret in das Blickfeld der
türkischen Sicherheitskräfte gelangt ist, was den Kläger nach der - den Beteiligten
bekannten - ständigen Rechtsprechung des Gerichts und des dem Gericht
übergeordneten Oberverwaltungsgerichts landesweit der Gefahr politischer Verfolgung
ausgesetzt hat, die bei einer Rückkehr auch heute nicht mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen werden kann.
Der von dem Kläger ferner geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich aus § 51 Abs. 2 Nr. 1 AuslG.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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