Urteil des VG Minden vom 26.04.2006

VG Minden: grobe fahrlässigkeit, lehrer, schüler, vollstreckung, auflage, unterlassen, aufmerksamkeit, sorgfalt, verfügung, innenverhältnis

Verwaltungsgericht Minden, 4 K 778/05
Datum:
26.04.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 778/05
Tenor:
Das beklagte Land wird verurteilt, gegen den Beigeladenen einen
Ersatzanspruch in Höhe von 7.848,91 EUR im Wege der
Drittschadensliquidation geltend zu machen und das hierbei Erlangte an
die Klägerin abzuführen.
Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Das beklagte
Land darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn
nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Tatbestand:
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Die Klägerin ist Schulträgerin der Hauptschule W. , an der der bis zu seiner
Zurruhesetzung mit Ablauf des Januar 2006 im Dienst des beklagten Landes stehende
Beigeladene als Lehrer tätig war.
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Am 15.03.2004 kam dem Beigeladenen sein Schlüsselbund, an dem sich u.a. ein
Schlüssel für die Eingangstür der Schule sowie ein Schlüssel für die Klassenräume
befanden, abhanden. An diesem Tag schloss der Beigeladene den Medienraum zu
Beginn der 5. Unterrichtsstunde gegen 11.45 Uhr auf, um einen Schüler der Klasse 8 a
eine Arbeit nachschreiben zu lassen. Den entsprechenden am Schlüsselbund
befindlichen Raumschlüssel ließ er außen im Türschloss stecken. Anschließend
schloss er die Tür des Medienraumes und ging in den Klassenraum der Klasse 8 a, der
er in der 5. Schulstunde Unterricht zu erteilen hatte. Gegen Ende der Unterrichtsstunde
um 12.25 Uhr bemerkte er den Verlust seines Schlüsselbundes und stellte nach seiner
Rückkehr am Medienraum fest, dass der Schlüsselbund nicht mehr vorhanden war.
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Unter dem 08.07.2004 teilte die Klägerin der Bezirksregierung E. mit, dass durch die
erforderlich gewordene Erneuerung der gesamten Schließanlage der Hauptschule W.
ein Schaden in Höhe von 7.848,91 EUR entstanden sei. Zugleich bat sie die
Bezirksregierung, den Beigeladenen im Wege der Drittschadensliquidation in Regress
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zu nehmen, da die Voraussetzungen des § 84 des Beamtengesetzes für das Land
Nordrhein- Westfalen (LBG) vorlägen, zumal der Beigeladene im Rahmen der
Haftpflichtversicherung auch gegen Schlüsselverlust versichert sei. Ergänzend wurde
ausgeführt, dass das Steckenlassen oder Unbeaufsichtigtlassen von Schlüsseln nach
ständiger Rechtsprechung - u.a. OLG Koblenz, 10 U 1146/99, MDR 2000, S. 17 - grob
fahrlässig sei. Dies entspreche auch der Rechtsauffassung der W1. in ihren
Schlüsselversicherungsbedingungen. Auch hier liege grobe Fahrlässigkeit vor, da der
Beigeladene wichtige fremde Schlüssel für jedermann zugänglich für etwa 40 Minuten
unbeaufsichtigt gelassen habe. Gerade an weiterführenden Schulen müsse damit
gerechnet werden, dass Schüler Schlüssel entwendeten, um Lehrer zu ärgern,
Schulmaterialien zu entwenden oder um Räume zu verunstalten. Dass durch einen
Schlüsselverlust ein hoher Sachschaden entstehe, sei leicht vorhersehbar.
Mit ihren Schreiben vom 23.08.2004, 02.12.2004 und 07.02.2005 lehnte die
Bezirksregierung E. den Antrag der Klägerin ab. Der Beigeladene habe als Lehrkraft die
ihm obliegenden Dienstpflichten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt. Denn
es entspreche allgemeiner Lebenserfahrung, dass Schlüssel bei einem nur kurzen
Verweilen des Schlüsselinhabers im Raum nicht sofort abgezogen würden. Die von der
Klägerin angenommene Zeitdauer von 40 Minuten sei auch nicht erwiesen. Vielmehr sei
eine Entwendung der Schlüssel, als der Beigeladene noch im Medienraum gewesen
sei, wahrscheinlicher, da dem Beigeladenen der Schlüsselbund beim Schließen der Tür
von außen sonst mutmaßlich aufgefallen wäre. Von besonderer Bedeutung sei auch,
dass eine gewisse Anspannung und Eile beim Beigeladenen wegen der doppelten
Beanspruchung bestanden habe. Er habe unter Zeit- und Verantwortungsdruck
gestanden, da die zu unterrichtende Klasse während seiner Abwesenheit
unbeaufsichtigt gewesen sei. Im Übrigen habe der Beigeladene den Schlüssel
bestimmungsgemäß genutzt.
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Am 12.04.2005 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
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Sie beantragt,
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den Beklagten zu verpflichten, gegen den Beigeladenen einen Ersatzanspruch in Höhe
von 7.848,91 EUR im Wege der Drittschadensliquidation geltend zu machen und an die
Klägerin abzuführen.
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Das beklagte Land beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des beklagten Landes, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlungen waren, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig, da die Klägerin einen Anspruch
aus dem öffentlich-rechtlichen Gemeinschaftsverhältnis, in dem sie als kommunale
Schulträgerin und das beklagte Land zueinander stehen, in Verbindung mit § 84 Abs. 1
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Satz 1 LBG und den im Zivilrecht entwickelten Grundsätzen der Drittschadensliquidation
verfolgt.
Vgl. VG Köln, Urteil vom 29.07.2003 - 7 K 4528/00 -.
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Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen das beklagte
Land, den durch den infolge des Schlüsselverlustes notwendig gewordenen Austausch
der Schließanlage der Hauptschule W. entstandenen Schaden in Höhe von 7.848,91
EUR gegenüber dem Beigeladenen geltend zu machen und den erlangten
Schadensersatz an die Klägerin abzuführen.
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Anspruchsgrundlage ist das Gemeinschaftsverhältnis, in dessen Rahmen das beklagte
Land die Lehrkräfte stellt und für die Personalkosten aufkommt, während die Klägerin
als kommunale Schulträgerin alle sonstigen Aufwendungen - insbesondere die
Sachkosten, zu denen auch die hier im Streit stehenden Kosten zählen - trägt. Im
Hinblick darauf, dass ein kommunaler Schulträger bei Beschädigungen von
Schulgegenständen durch Lehrer zwar regelmäßig einen Schaden erleidet, ihm jedoch
keine unmittelbare Rechtsgrundlage für einen Ersatzanspruch gegenüber der
Anstellungskörperschaft oder der Lehrkraft zur Verfügung steht, besteht nach der
Rechtsprechung die Pflicht des Dienstherrn zur Drittschadensliquidation im Interesse
des geschädigten Schulträgers, wenn die in seinem Dienst stehende Lehrkraft im
Innenverhältnis - hier nach § 84 Abs. 1 Satz 1 LBG - haftet.
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Vgl. dazu im Einzelnen OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 28.05.2004 - 2 A 12079/03 -
m.w.N.
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Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 LBG hat ein Beamter, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die
ihm obliegenden Pflichten verletzt, dem Dienstherrn, dessen Aufgabe er
wahrgenommen hat, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Grob fahrlässig
handelt derjenige, der die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße
missachtet. Das ist der Fall, wenn es an der geringsten Vorsicht oder Aufmerksamkeit
fehlt oder nahe liegende Überlegungen und unschwer zu ergreifende
Sicherheitsvorkehrungen, die jedem einleuchten, unterlassen werden. Hinzu kommen
muss, dass es sich auch in subjektiver Hinsicht, d.h. von der individuellen Person des
Schädigers aus gesehen, um ein schlechthin unentschuldbares Fehlverhalten handelt,
welches das gewöhnliche Maß erheblich übersteigt.
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Vgl. zur Definition der groben Fahrlässigkeit Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches
Gesetzbuch, 65. Auflage 2006, § 277 Rdnr. 5.
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
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Der Beigeladene hatte als Lehrer die allgemeine Pflicht, die von der Schulträgerin für
den Schuldienst bereitgestellten Gegenstände vor vermeidbaren Schäden zu bewahren.
Indem der Beigeladene am 15.03.2004 nach dem Aufschließen der Tür des
Medienraumes den entsprechenden Schlüssel nicht aus dem Schloss abzog und
dadurch anderen Personen die Gelegenheit zur Wegnahme dieses Schlüssels wie auch
der übrigen am Schlüsselbund befindlichen Schulschlüssel verschaffte, verletzte er
diese Pflicht unstreitig.
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Die Kammer ist auch der Ansicht, dass dieser Pflichtverstoß als grob fahrlässig zu
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bewerten ist. Der Beigeladene ließ aufgrund von Unachtsamkeit bedeutsame
Schulschlüssel eine gewisse Zeit lang während des Unterrichtsbetriebs, als sich eine
Vielzahl von Personen im Gebäude der Hauptschule W. aufhielt und daher eine große
Entwendungsgefahr bestand, unbeaufsichtigt. Nach seiner Darstellung in der
mündlichen Verhandlung war ihm die Wichtigkeit der ihm überlassenen Schulschlüssel
auch bewusst. Aus diesem Grunde sah er sich seinerzeit nach der Inempfangnahme der
Schlüssel veranlasst, das mit einem Verlust verbundene hohe Sachschadensrisiko
privat zu versichern.
Vgl. zur deutlichen Erhöhung des Sorgfaltsmaßstabs bei hohen Sachwerten OVG
Rheinland-Pfalz, Urteil vom 28.05.2004 - 2 A 12079/03 - m.w.N.
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Nach seinem eigenen Bekunden versetzte den Beigeladenen auch die doppelte
Beanspruchung am 15.03.2004 zu Beginn der 5. Unterrichtsstunde - einerseits seine
Lehrverpflichtung in der Klasse 8 a, andererseits die notwendige Einweisung eines
Schülers dieser Klasse in die Nachschreibearbeit im Medienraum - nicht in einen
Stress- bzw. Anspannungszustand.
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Vgl. zum Wegfall des Schuldvorwurfs der groben Fahrlässigkeit in einem solchen Fall
VG Köln, Urteil vom 29.07.2003 - 7 K 4528/00 -.
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Unter Zugrundelegung der Darstellung des Beigeladenen lagen damals auch keine
anderen Besonderheiten vor, vielmehr handelte es sich bei dem 15.03.2004 aus seiner
Sicht um einen gewöhnlichen Schultag. In diesem Zusammenhang hat der Beigeladene
im Termin ausgeführt, dass er damals gesundheitlich nicht beeinträchtigt gewesen sei.
Bei der Klasse 8 a habe es sich nicht um eine schwierige Klasse gehandelt; zu den
Schülerinnen und Schülern, die er teilweise schon seit Jahren gekannt habe, habe er
sogar ein gutes Verhältnis gehabt. Diese Klasse habe er, während er sich im
Medienraum aufgehalten habe, unbesorgt sich selbst überlassen können, zumal sich
der Klassenraum der Klasse 8 a unmittelbar gegenüber dem Medienraum befunden
habe und er damals auch das Geschehen im Klassenzimmer aufgrund der beiden
geöffneten Türen unter Kontrolle gehabt habe. Er habe sich damals nicht abgelenkt
gefühlt. Dass dem Beigeladenen, bei dem es sich um einen Lehrer mit großer
Berufserfahrung handelte und dem auch Nachschreibesituationen geläufig waren, zuvor
noch nie ein oder mehrere Schulschlüssel abhanden gekommen waren, führt zu keiner
anderen Bewertung. Denn ein Augenblicksversagen, wie es im vorliegenden Fall
gegeben war, stellt in der Regel und auch hier keinen ausreichenden Grund dar, um
eine grobe Fahrlässigkeit zu verneinen.
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Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Auflage 2006, § 277 Rdnr. 5.
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Der Klage war danach mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) stattzugeben. Die Regelung der vorläufigen
Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung
(ZPO).
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