Urteil des VG Minden vom 02.10.2009

VG Minden (aufschiebende wirkung, antragsteller, bundesrepublik deutschland, antrag, abschiebung, vollziehung, wirkung, griechenland, verwaltungsgericht, zustellung)

Verwaltungsgericht Minden, 1 L 533/09.A
Datum:
02.10.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 533/09.A
Tenor:
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt
C. in I. beigeordnet.
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 1 L. 2031/09.A
gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.07.2009 erhobenen
Klage wird angeordnet.
Die Aufhebung der Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin
vom 14.07.2009 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet,
die Folgen des Vollzugs der Abschiebungsanordnung vom 14.07.2009
rückgängig zu machen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, trägt die Antragsgegnerin.
G r ü n d e :
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Der vom Antragsteller gestellte Antrag,
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gemäß § 80 Abs. 7 VwGO unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts
Minden vom 15.07.2009 - 1 L 365/09 - die aufschiebende Wirkung der Klage des
Klägers beim Verwaltungsgericht Minden vom 14.08.2009 - 1 L. 2031/09.A - gemäß § 80
Abs. 5 VwGO anzuordnen und der Antragsgegnerin aufzugeben, die Wiedereinreise
des Antragstellers in das Bundesgebiet im Wege der einstweiligen Verfügung vorläufig
zu ermöglichen,
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hat Erfolg.
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Der so formulierte Antrag bedarf für seine Zulässigkeit zunächst der Auslegung. Ein
Antrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO ist im vorliegenden Verfahren nicht statthaft. Gemäß §
80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge
nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Ein Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO
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liegt nicht vor. Mit Beschluss vom 15.07.2009 - 1 L 365/09.A - hat die Kammer über den
Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1
VwGO entschieden. Statthaft ist hier der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 und Satz 3
VwGO,
1. die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 1 L. 2031/09.A erhobenen
Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.07.2009 anzuordnen.
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2. Die Aufhebung der Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin vom
14.07.2009 anzuordnen und die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Folgen des
Vollzugs der Abschiebungsanordnung vom 14.07.2009 rückgängig zu machen.
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Dieser Antrag ist auch nicht deshalb unstatthaft, weil der Ablehnungsbescheid der
Antragsgegnerin, um dessen Vollziehung es geht, bereits unanfechtbar ist. Der
Antragsteller hat zwar die Klagefrist von zwei Wochen (vgl. § 74 Abs. 1 1. Halbsatz
AsylVfG) versäumt. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung
versehene Bescheid vom 14.07.2009 wurde dem Antragsteller am 30.07.2009 durch
persönliche Übergabe wirksam zugestellt. Die zweiwöchige Klagefrist endete damit
gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 222 ZPO, 187, 188 Abs. 1, 3 BGB am 13.08.2009.
Tatsächlich ist die Klageschrift im Verfahren 1 L. 2031/09.A erst am 14.08.2009 und
damit verfristet bei Gericht eingegangen.
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Die persönliche Zustellung an den Antragsteller war wirksam, obschon er bereits im
Verwaltungsverfahren seinen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten benannt hatte.
Abweichend von der allgemeinen Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungs-
zustellungsgesetz - VwZG -, wonach Zustellungen an einen Bevollmächtigten zu richten
sind, wenn er schriftliche Vollmacht vorgelegt hat, war hier der Bescheid der
Antragsgegnerin dem Antragsteller gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG weiterhin
persönlich zuzustellen. Danach ist in den Fällen einer Ablehnung über den Asylantrag
nach § 26a oder § 27a die Entscheidung zusammen mit der Abschiebungsanordnung
nach § 34a dem Ausländer selbst zuzustellen. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 6 AsylVfG soll
dem Bevollmächtigten des Ausländers lediglich ein Abdruck der Entscheidung
zugeleitet werden. Diese besonderen Zustellungsregelungen finden ihre Rechtfertigung
darin, dass die Rückführung in Drittstaaten aus tatsächlichen Gründen in der Regel nur
kurzfristig möglich ist.
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Vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 23.
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In die versäumte Klagefrist ist dem Antragsteller allerdings von Amts wegen gemäß § 60
Abs. 2 Satz 4 VwGO Wiedereinsetzung zu gewähren. Innerhalb der Antragsfrist von
zwei Wochen hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers die versäumte
Rechtshandlung - die Klageerhebung - nachgeholt. Die Fristversäumung hat er auch
nicht verschuldet. Die Versäumung einer Frist ist i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO verschuldet,
wenn der Antragsteller die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen
gewissenhaften und sachgemäß Prozessführenden geboten ist und die ihm subjektiv
nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war.
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Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar 15. Auflage 2007, § 60, Rdnr. 9.
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Der Prozessbevollmächtigte selbst hat einen Abdruck der Entscheidung der
Antragsgegnerin - so sieht es die Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 6 AsylVfG auch vor -
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am 03.08.2009 erhalten. Die auf der Grundlage dieses Datums berechnete Frist hat er
mit Erhebung der Klage am 14.08.2009 eingehalten. Auch wenn der Anwalt die von § 7
Abs. 1 Satz 2 VwZG abweichende Zustellungsvorschrift des § 31 Abs. 1 AsylVfG
kennen und bei der Fristberechnung beachten muss, ist seine Vorgehensweise hier
nicht sorgfaltswidrig. Denn die Antragsgegnerin schickte ihm den Abdruck der
Entscheidung vom 14.07.2009 zusammen mit einem Anschreiben mit dem folgenden
Inhalt: "Die zuständige Ausländerbehörde wird die Bescheidzustellung an ihre
Mandantschaft veranlassen." Aufgrund der zukunftsgerichteten Formulierung durfte der
Prozessbevollmächtigte davon ausgehen, dass der Bescheid demnächst oder
zumindest noch zeitgleich dem Antragsteller zugestellt werden würde. Jedenfalls
musste er aus dem Schreiben nicht schließen, dass eine Zustellung bereits erfolgt war,
und er aus diesem Grunde zu weiteren Erkundigungen hinsichtlich der Zustellung an
seinen Mandanten verpflichtet gewesen wäre.
Für einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO besteht weiterhin das erforderliche
Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsteller ist zwar nach der Ablehnung seines Antrags
gemäß § 123 VwGO durch die Kammer bereits nach Griechenland abgeschoben
worden, so dass die Abschiebung dorthin tatsächlich nicht mehr verhindert werden
kann. Allerdings führt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zur
Rechtswidrigkeit der Abschiebung und begründet ein Recht des Antragstellers sich
während des Klageverfahrens gegen den Ablehnungsbescheid bis zu dem durch § 80b
Abs. 1 Satz 1 VwGO bestimmten Zeitpunkt vorläufig im Bundesgebiet aufzuhalten.
Solange über die der Ausreisepflicht zugrundeliegende Ordnungsverfügung noch nicht
unanfechtbar entschieden ist, ist daher Eilrechtsschutz im vorrangigen
Aussetzungsverfahren nach § 80 VwGO zu gewähren.
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Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17.05.2004 - 1 VR 1.04 -, InfAuslR 2005, 103, und vom
13.09.2005 - 1 VR 5.05 - InfAuslR 2005, 462; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom
24.06.2008 - 11 S 1136/07 -, NVwZ-RR 2008, 841.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Lässt sich - wie hier - im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nicht feststellen, dass die
Ordnungsverfügung, die Grundlage der Vollziehung ist, offensichtlich rechtswidrig bzw.
offensichtlich rechtmäßig ist, ist eine von der Einschätzung der Erfolgsaussichten des
Hauptsacheverfahrens unabhängige Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei sind
das öffentliche Interesse am weiteren Fernhalten des Ausländers von der
Bundesrepublik Deutschland und der Nachteil, den die Ausländerbehörde bei einer
sofortigen Wiedereinreise im Fall einer Erfolglosigkeit des anhängigen
Rechtsschutzverfahrens durch eine erneute Aufenthaltsbeendigung des Ausländers
erleiden würde, gegen den Nachteil für den Ausländer abzuwägen, nicht sogleich,
sondern erst nach erfolgreichem Abschluss des Rechtsschutzverfahrens wieder nach
Deutschland einreisen zu dürfen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2007 - 18 B 2533/06 -, NVwZ-RR 2007, 492 m.X.
.N.
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Diese Abwägung geht im vorliegenden Verfahren zu Gunsten des Antragstellers aus.
Nach dem Beschluss der Kammer vom 15.07.2009 - 1 L 365/09.A - hat das
Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 08.09.2009 die Abschiebung eines
irakischen Antragstellers nach Griechenland vorläufig untersagt. Das
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Bundesverfassungsgericht sieht Anlass zur Untersuchung, ob und gegebenenfalls
welche Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2
Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der
normativen Vergewisserung bei der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn
Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach
der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen
Gemeinschaften ist.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, bei juris.
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Die Erfolgsaussichten eines diese Prüfung umfassenden Hauptsacheverfahrens sind
weder offensichtlich zu verneinen, noch zu bejahen. Denn die Prüfung erfordert die
Beantwortung tatsächlich und rechtlich komplexer Fragen, die im Verfahren vorläufigen
Rechtsschutzes nicht möglich ist.
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Zur Problematik der Bestimmung sicherer Drittstaaten: BVerfG, Beschluss vom 08.
September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, S. 3; Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 - DVBl. 1996, 825
ff.; Weinzierl (Deutsches Institut für Menschenrechte), Der Asylkompromiss 1993 auf
dem Prüfstand, 2009, S. 1 ff.
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Ist demnach zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen, ob der Antragsteller einen subjektiven
öffentlich-rechtlichen Anspruch auf den Selbsteintritt der Antragsgegnerin gemäß Art. 3
Abs. 2 Dublin II-VO hat, können Rechtsbeeinträchtigungen des Antragstellers in
Griechenland nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden, die
erforderlich wäre, um ihn auf einen Rechtsschutz vom Ausland her verweisen zu
können. Nach seinem Vortrag und den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln ist
vielmehr konkret zu befürchten, dass der Antragsteller gerade die
Rechtsbeeinträchtigungen wie Obdachlosigkeit, mangelnde Versorgung und
Rechtlosigkeit erfährt, die das Bundesverfassungsgericht zur Untersagung einer
Abschiebung nach Griechenland veranlasst haben.
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Ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung, dass der Asylantrag
des Antragstellers gemäß § 27a AsylVfG unzulässig ist, und gegen die
Abschiebungsanordnung vom 14.07.2009 anzuordnen und ist die Verfügung durch die
Abschiebung des Antragstellers bereits vollzogen, ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO
die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen. Die materielle Grundlage für den
prozessual über § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO geltend zu machenden Anspruch des
Antragstellers auf die Wiedereinreise ist der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch.
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Vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.06.2008 - 11 S 1136/047 -,
NVwZ-RR 2008, 841 m.X. .N.
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Seine Voraussetzungen, dass nämlich durch die Vollziehung ein fortdauernder
rechtswidriger Zustand herbeigeführt worden und die Folgenbeseitigung rechtlich und
tatsächlich möglich ist,
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vgl. OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2007 - 18 B 2533/06 -, NVwZ-RR 2007, 233 m.X.
.N,
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liegen vor. Denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die
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Entscheidung der Antragsgegnerin vom 14.07.2009 führt zum Wegfall der
Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung und damit zur Rechtswidrigkeit der
erfolgten Abschiebung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83b AsylVfG.
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Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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