Urteil des VG Köln vom 14.03.2017

VG Köln (aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, vollziehung, ablauf der frist, überwiegendes öffentliches interesse, wirkung, frist, wirtschaftliche lage, anordnung)

Verwaltungsgericht Köln, 1 L 4717/77
Datum:
31.10.1977
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 4717/77
Tenor:
1) Auf einen von der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 3. Oktober
1977 einzulegenden Widerspruch wird die aufschiebende Wirkung
angeordnet, so- weit der Antragsgegner in diesem Bescheid die
Antragstellerin zur Schließung ihres Betriebes aufgefordert und zur
Durchsetzung seiner Anordnung die Anwendung un- mittelbaren
Zwangs angedroht hat. Im übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
2) Der Streitwert wird auf 6.000,-- DM festgesetzt.
Gründe:
1
I.
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Der Ehemann der Antragstellerin, P. P. , ist Friseurmeister. Anfang 1961 zeigte er bei
der Gemeinde Much an, daß er einen Frisiersalon und Einzelhandel mit Tabak- und
Schreibwaren betreibe. Im September 1972 eröffnete er in Waldbröl eine Filiale seines
Friseurbetriebes. Wegen erheblicher Rückstände an Steuern und Sozi-
alversicherungsbeiträgen untersagte ihm der Antragsgegner durch Ordnungsverfü- gung
vom 30. Juli 1975 die weitere selbständige Ausübung des Gewerbes "Frisiersa- lon und
Einzelhandel mit Tabak- und Schreibwaren". Hiergegen legte er unter dem 28. August
1975 Widerspruch ein, meldete aber zum 1. September 1975 seine Be- triebe in Much
und in Waldbröl ab. Zum gleichen Zeitpunkt zeigte die Antragstellerin die Übernahme
beider Betriebe an. Sie wurde am 8. September 1975 in die Hand- werksrolle
eingetragen. Der Widerspruch ihres Ehemannes gegen die Ordnungsver- fügung vom
30. Juli 1975 wurde vom Regierungspräsidenten (RP) in Köln mit Be- scheid vom 27.
Oktober 1975 - zugestellt am 4. November 1975 - zurückgewiesen. Klage wurde nicht
erhoben.
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Nachdem die Antragstellerin vom Antragsgegner darauf hingewiesen worden war, daß
auch gegen sie ein Gewerbeuntersagungsverfahren eingeleitet worden war, meldete sie
unter dem 31. März 1976 den Betrieb in Waldbröl ab. Nachdem die Er- mittlungen
ergeben hatten, daß die Antragstellerin inzwischen beim Finanzamt Sieg- burg
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Steuerrückstände in Höhe von 15.700,-- DM hatte, der Allgemeinen Ortskran- kenkasse
(AOK) Siegburg Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1.190,21 DM und der
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) in Hamburg
Beiträge in Höhe von 210,36 DM schuldete, ferner beim Amtsgericht Sieg- burg ein
Haftbefehl in der Schuldnerkartei verzeichnet war, untersagte ihr der An- tragsgegner mit
Ordnungsverfügung vom 9. März 1977 die weitere selbständige Ausübung des
Gewerbes "Frisiersalon einschließlich Einzelhandel mit Tabak-, Schreib- und
Kosmetikartikeln". Für den Fall, daß die Antragstellerin nicht innerhalb eines Monats
nach Unanfechtbarkeit der Ordnungsverfügung ihre Tätigkeit in dem Gewerbe einstelle,
drohte der Antragsgegner ihr die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Schließung
der Betriebs- und Geschäftsräume im Wege der Versiege- lung an. Die
Handwerkskammer zu Köln war vor Erlaß dieser Ordnungsverfügung, die der
Antragstellerin am 18. März 1977 zugestellt wurde, gehört worden.
Nachdem gegen die Ordnungsverfügung Widerspruch eingelegt worden war, bestellte
sich für die Antragstellerin ein Anwalt, der Verhandlungen mit dem Antrags- gegner
führte. Er stellte in Aussicht, daß die Antragstellerin den Betrieb veräußern werde. Mit
Schreiben vom 13. Juni 1977 teilte der Antragsgegner daraufhin dem An- walt mit, die
Entscheidung über den Widerspruch werde bis zum 1. September 1977 ausgesetzt.
Falls festgestellt werde, daß eine Veräußerung nicht beabsichtigt sei o- der die
Rückstände weiterhin anstiegen, behalte er sich Maßnahmen nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vor.
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Unter dem 3. Oktober 1977 ordnete der Antragsgegner die sofortige Vollziehung seiner
Ordnungsverfügung vom 9. März 1977 an und forderte die Antragstellerin gleichzeitig
auf, ihre Tätigkeit in dem ihr untersagten Gewerbe mit Ablauf des 15. Ok- tober 1977
einzustellen. Nach Ablauf der Frist werde die Schließung der Geschäfts- räume durch
Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt. Zur Begründung führ- te der
Antragsgegner im wesentlichen aus: Durch den Widerspruch und sich eventu- ell
anschließende Rechtsmittel werde der Vollzug der Ordnungsverfügung vom 9. März
1977 in unvertretbarer Weise hinausgezögert. Denn nach der bisherigen Be-
triebsführung sei mit Sicherheit zu erwarten, daß die Antragstellerin mit jedem weite- ren
Tage neue Rückstände an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entstehen lasse.
Seit Erlaß der Ordnungsverfügung vom 9. März 1977 seien die Rückstände bei der AOK
Siegburg auf ca. 4,000,-- DM und die Rückstände beim Finanzamt auf ca. 16.500,-- DM
angewachsen. Es bestehe daher keine Aussicht, daß sich die ver- zweifelte
wirtschaftliche Lage durch eine Fortführung des Gewerbebetriebes ändern ließe.
Vielmehr bestehe die Gefahr, daß Geschäftspartner der Antragstellerin Ver-
mögensschäden erleiden könnten, wenn sie sich über ihre Kreditwürdigkeit täuschten.
Der Bescheid vom 3. Oktober 1977 wurde am 7. Oktober 1977 dem Anwalt der
Antragstellerin zugestellt. Dieser hatte jedoch bereits mit Schreiben vom 4. Oktober
1977 - eingegangen am 6. Oktober 1977 - sein Mandat niedergelegt. Der Antragsgegner
stellte daraufhin den Bescheid vom 3. Oktober 1977 erneut unmittelbar der
Antragstellerin zu. Diese Zustellung erfolgte am 12. Oktober 1977.
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Am 24. Oktober 1977 hat die Antragstellerin beantragt,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 18. April 1977 gegen die
Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 9. März 1977 wiederherzustellen.
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Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus: Die Rückstände bei der AOK Siegburg
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hätten sich inzwischen auf ca. 1.200,-- DM verringert. Die Steuerschulden seien
allerdings bestehengeblieben. Sie beabsichtige jedoch, das Geschäft zu veräußern. Sie
habe entsprechende Verhandlungen mit einer Interessentin, Frau H. B. , geführt, die das
Geschäft im Januar übernehmen wolle. Mit einer entsprechenden Zusage der
Interessentin rechne sie noch in dieser Woche. Es sei eine unzumutbare Härte, wenn
sie den Laden im jetzigen Zeitpunkt schließen müsse. Sie und ihr Ehemann seien in
dem Geschäft tätig und hätten im Augenblick keine neue Arbeitssteile in Aussicht. Sie
hätten 4 Kinder, die alle zuhause lebten. Das älteste Kind sei bereits berufstätig. Die
anderen Kinder befänden sich noch in der Ausbildung bzw. auf der Schule.
Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
gegen seine Verfügung vom 9.März 1977 zurückzuweisen.
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Er bezieht sich auf den Inhalt seiner Bescheide vom 9. März und 3. Oktober 1977. Der
Beitragsrückstand bei der AOK Siegburg betrage zur Zeit ca. 2.500,-- DM. Es seien
lediglich 1.500,--DM im Wege der Zwangsvollstreckung beigetrieben worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der
Verfahrensakte und der von dem Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsvorgänge (2
Hefter) Bezug genommen.
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II.
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1. Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässige
Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die in der
Ordnungsverfügung vom 9. März 1977 ausgesprochene Gewerbeuntersagung
wiederherzustellen, war abzulehnen.
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Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat der Widerspruch gegen einen belastenden
Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung. Abgesehen von gesetzlich geregelten
Ausnahmen (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 1 - 3 VwGO) entfällt die aufschiebende Wirkung nur,
wenn die zuständige Behörde die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes
angeordnet hat (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Ist dies - wie im vorliegenden Fall - mit
der erforderlichen schriftlichen Begründung geschehen, so hat das Gericht im Rahmen
des Aussetzungsverfahrens zu prüfen, ob das öffentliche Interesse an der sofortigen
Vollziehung des angefochtenen Bescheides gegenüber den privaten Interessen des
Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs überwiegt. Da ein
solcher Fall hier gegeben ist, bleibt der Aussetzungsantrag der Antragstellerin ohne
Erfolg.
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Gegen die Rechtmäßigkeit der Gewerbeuntersagung bestehen keine durchgreifenden
Bedenken. Der Antragsgegner hat diesen Verwaltungsakt zutreffend auf die Vorschrift
des § 35 Abs. 1 Satz 1 der Gewerbeordnung (GewO) gestützt. Danach ist die Ausübung
eines Gewerbes zu untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die
Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden oder einer mit der Leitung des
Gewerbebetriebs beauftragten Person in Bezug auf dieses Gewerbe dartun, sofern die
Untersagung zum Schutze der Allgemeinheit oder der im Betrieb Beschäftigten
erforderlich ist. Unzuverlässig ist, wer nach dem Gesamtbild seines Verhaltens nicht die
Gewähr dafür bietet, daß er das von ihm ausgeübte Gewerbe ordnungsgemäß betreiben
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wird,
vgl. Nr. 3.1 der Ausführungsanweisung zu § 35 der Gewerbeord- nung, Runderlaß des
Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Ver- kehr NW vom 27. Januar 1975 - MBl. NW
1975, 202 - (AA § 35 Ge- wO).
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In seiner Ordnungsverfügung vom 9. März 1977 hat der Antragsgegner ausführlich
dargelegt, welche Tatsachen gegen die Zuverlässigkeit der Antragstellerin sprechen
und die Gewerbeuntersagung zum Schutze der Allgemeinheit erforderlich machen. Die
Antragstellerin hat hiergegen auch keine Einwendungen erhoben, so daß zur
Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt der Ordnungsverfügung vom 9. März
1977 verwiesen werden kann.
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Zwar ist das Gericht der Auffassung, daß die sofortige Vollziehung einer
Gewerbeuntersagung - auch wenn diese offensichtlich rechtmäßig ist - nur angeordnet
werden darf, wenn dies besondere Umstände rechtfertigen. Insofern ist fraglich, ob die
vom Antragsgegner in seinem Bescheid vom 3. Oktober 1977 angeführten Erwägungen
ausreichen, ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung
darzutun. Denn sie unterscheiden sich im wesentlichen nicht von den Gründen, die für
den Erlaß des angefochtenen Verwaltungsaktes maßgeblich gewesen sind. Wenn ein
Betrieb endgültig das Stadium wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit erreicht hat, ist die
Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO erforderlich, um die Nachteile abzuwenden, die
der Allgemeinheit durch eine Fortführung des Betriebes erwachsen würden.
Insbesondere die fortdauernde und sich ständig steigernde Schädigung des Fiskus und
der Sozialversicherungsträger ist für den Normalfall des Sachverhalts kennzeichnend,
der zu einer Gewerbeuntersagung führen muß. Der Gesetzgeber hat aber, obwohl ihm
diese Situation bewußt gewesen sein mußte, bei der Gewerbeuntersagung dennoch die
aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe nicht ausgeschlossen. Das bedeutet, daß
auch in diesem Bereich die Anordnung der sofortigen Vollziehung eine Ausnahme
bleiben muß. Zumal die Gewerbeuntersagung einen besonders schwerwiegenden
Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 des Grundgesetzes) darstellt und
eine einmal verfolgte Einstellung des Betriebes nicht immer ohne weiteres rückgängig
zu machen ist, wäre eine Verwaltungspraxis, die dieses Regel - Ausnahme - Verhältnis
umkehrte, und eine Rechtsprechung, die eine solche Praxis billigte, mit der
verfassungsrechtlichen Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des
Grundgesetzes nicht vereinbar,
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vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Beschluß vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23 u.
155/73 - NJW 1974, 227 f. für den Fall der Ausweisungsverfügung im Ausländerrecht.
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Im vorliegenden Fall ist aber eine Ausnahmesituation gegeben, die eine Anordnung der
sofortigen Vollziehung vertretbar erscheinen lässt. Dabei mag dahinstehen, ob der
Antragsgegner genügend konkrete Anhaltspunkte dafür ermittelt hat, daß die
Antragstellerin nicht nur weitere Rückstände beim Fiskus und den
Sozialversicherungsträgern entstehen lassen würde, sondern auch Dritte - Kunden,
Lieferanten usw. - schädigen würde. Anscheinend kann der Antragstellerin insoweit
bisher noch keine Verfehlung zum Vorwurf gemacht werden. Die Besonderheit, die hier
die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigt, besteht aber jedenfalls darin, daß
die Antragstellerin offensichtlich nur deswegen als Gewerbetreibende auftritt, weil ihrem
Ehemann dasselbe Gewerbe bereits durch Ordnungsverfügung vom 30. Juli 1975
untersagt worden ist. Da es sich um einen typischen Familienbetrieb handelt, wäre es
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lebensfremd anzunehmen, daß durch den Inhaberwechsel der Einfluß des Ehemannes
auf die Betriebsführung ausgeräumt worden wäre. Einer derartigen Umgehung einer
bestandskräftigen Untersagungsverfügung muß die zuständige Behörde mit
besonderem Nachdruck entgegentreten. Anderenfalls würden sich die Wirkung der von
ihr zur Gefahrenabwehr getroffenen Maßnahmen in unvertretbarer Weise verzögern.
Zumindest dann, wenn erkennbar wird, daß trotz des Inhaberwechsels eine ord-
nungsgemäße Betriebsführung nicht gewährleistet ist, muß sie deswegen die Mög-
lichkeit haben, die gegen den neuen Inhaber gerichtete Untersagungsverfügung mit der
Anordnung der sofortigen Vollziehung zu verbinden. Im vorliegenden Fall mag der
Antragstellerin zwar nicht der gute Wille abgesprochen werden, doch noch eine
Sanierung des von ihr übernommenen Betriebes herbeizuführen. Als ein Anzeichen
hierfür ist z.B. die Abmeldung des Filialbetriebes in Waldbröl zu werten. Wie die An-
tragstellerin jedoch selbst einräumt, sind ihre diesbezüglichen Anstrengungen jeden-
falls letztlich ohne Erfolg geblieben. Es ist daher ein besonderes öffentliches Interes- se
dafür anzuerkennen, daß die Gewerbeuntersagung nunmehr vollziehbar wird und nicht
durch die zwar zulässigen, in der Sache aber aussichtlosen Rechtsbehelfe der
Antragstellerin hinausgezögert wird.
2. Der Antragsgegner hat die in der Ordnungsverfügung vom 9. März 1977 gleichfalls
enthaltene Anordnung der Betriebsschließung und die Zwangsmittelandrohung in dem
Bescheid vom 3. Oktober 1977 durch eine neue Regelung ersetzt, weil es nach
Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht bei den ursprünglich gesetzten Fristen
bleiben konnte. Dem Wortlaut nach richtet sich der Antrag der Antragstellerin nur gegen
die Vollziehung der Ordnungsverfügung vom 9. März 1977. Dem Sinn nach begehrt die
Antragstellerin jedoch auch einen Aufschub hinsichtlich der jetzt in dem Bescheid vom
3. Oktober 1977 enthaltene Schließungsanordnung und der neuen
Zwangsmittelandrohung. Das Gericht ist nicht gehindert, ihren Antrag dahingehend
auszulegen, daß insoweit die aufschiebende Wirkung eines noch von der
Antragstellerin einzulegenden Widerspruchs angeordnet werden soll (vgl. §§ 80 Abs. 5
Satz 1, 187 Abs. 3 VwGO, § 8 Ausführungsgesetz zur VwGO NW). Dieser Antrag mußte
auch Erfolg haben.
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Gegen die Rechtmäßigkeit der in dem Bescheid vom 3. Oktober 1977 enthaltenen
Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung bestehen erhebliche Bedenken, so daß ein
überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung nicht anerkannt
werden kann. Stellt der Gewerbetreibende trotz einer unanfechtbaren oder sofort
vollziehbaren Gewerbeuntersagungsverfügung seinen Geschäftsbetrieb nicht ein, kann
die Fortsetzung des Betriebes durch Schließung der Betriebs- oder Geschäftsräume
oder durch andere geeignete Maßnahmen verhindert werden (vgl. § 35 Abs. 5 GewO).
Solche Maßnahmen werden durch eine besondere Schließungsverfügung der
zuständigen Behörde angeordnet. Die Vollstreckung der Schließungsverfügung richtet
sich nach den Bestimmungen des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes NW (VwVG
NW). Die nach § 62 Abs. 1 VwVG NW erforderliche Androhung des Zwangsmittels
erfolgt regelmäßig zusammen mit der Schließungsverfügung (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 1
VwVG NW).
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Bei der insoweit zu treffenden Ermessensentscheidung hat die Behörde zu prüfen, ob es
vertretbar ist, dem Gewerbetreibenden zur Abwicklung des Geschäftsbetriebes eine
Frist einzuräumen. Soweit der mit der Gewerbeuntersagung verfolgte Schutz der
Allgemeinheit oder der im Betrieb Beschäftigten dies nicht ausnahmsweise ausschließt,
wird eine solche Fristgewährung zur Wahrung des mit Verfassungsrang ausgestatteten
25
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit immer notwendig sein. Denn nur bei
ordnungsmäßiger Abwicklung des Geschäftsbetriebes kann die durch die
Gewerbeuntersagung verursachte wirtschaftliche Schädigung des Betroffenen so gering
wie möglich gehalten werden. Maßgeblich für die Bemessung dieser Frist sind die
Umstände des Einzelfalles. Dabei sind insbesondere Art und Umfang des
Geschäftsbetriebes zu berücksichtigen. Wenn der Gewerbetreibende Verhandlungen
über die Veräußerung des Betriebes führt, wird die Behörde auch zu prüfen haben, ob
es unter Abwägung mit den zu schützenden Rechtsgütern vertretbar erscheint, die in
Aussicht stehende Übergabe des Geschäftsbetriebes abzuwarten (vgl. auch Nr. 7.5 AA
§ 35 GewO).
Der Antragsgegner hat an sich im vorliegenden Fall diese Grundsätze beachten wollen.
Er hat nämlich zunächst der Antragstellerin für die Veräußerung ihres Betriebes eine
verhältnismäßig großzügig bemessene Frist eingeräumt. Erst nachdem diese Frist
ergebnislos verstrichen war, hat er die Gewerbeuntersagung mit der Anordnung der
sofortigen Vollziehung verbunden und eine neue Frist für die Schließung des Betriebes
gesetzt. Zwar war diese Frist nunmehr ziemlich kurz bemessen. Bei normalem Gang der
Dinge hätte die Antragstellerin nur noch etwa eine Woche Zeit gehabt, ihren Betrieb
abzuwickeln. Dies mag aber wegen der Besonderheit, daß die Antragstellerin zuvor
eine lange Frist ungenutzt hatte verstreichen lassen, eine vertretbare
Ermessensentscheidung des Antragsgegners gewesen sein. Wenn der Bescheid vom
3. Oktober 1977 dennoch rechtlichen Bedenken begegnet, liegt dies daran, daß die
Zustellung an die Antragstellerin verspätet erfolgt ist, und sich dadurch die ihr gewährte
Frist in einer vom Antragsgegner wohl selbst nicht beabsichtigten, jedenfalls aber
unangemessenen Weise verkürzt hat.
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Zwar ist der Bescheid vom 3. Oktober 1977 noch am 7. Oktober 1977 dem früheren
Anwalt der Antragstellerin zugestellt worden. Da dieser aber zuvor bereits sein Mandat
niedergelegt hatte, braucht die Antragstellerin sich diese Zustellung nicht zurechnen zu
lassen. Ihr ist der Verwaltungsakt daher erst am 12, Oktober 1977 bekanntgegeben
worden. Durch diesen Verlauf der Dinge hat sich die der Antragstellerin gesetzte Frist,
die am 15. Oktober 1977 ablaufen sollte, auf einen nach den Umständen
unangemessen kurzen Zeitraum verringert, so daß ein von der Antragstellerin gegen
den Bescheid vom 3. Oktober 1977 einzulegender Widerspruch aufschiebende Wirkung
haben muß, um sie vor Rechtsnachteilen zu schützen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO.
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4. Bei der Festsetzung des Streitwerts hat das Gericht gemäß §§ 13 Abs. 1 Satz 1 und
20 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG) die wirtschaftliche Bedeutung des
Verfahrens für die Antragstellerin berücksichtigt.
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