Urteil des VG Kassel vom 02.12.2009

VG Kassel: kostenbeitrag, unterbringung, freilassung, jugendhilfe, mensch, bekleidung, haushalt, ferien, behandlung, vollstreckung

1
2
3
4
5
Gericht:
VG Kassel 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 K 1384/08.KS
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 94 SGB 8, § 97b SGB 8, § 34
SGB 8, § 35a SGB 8
(Kostenbeitrag bei Unterbringung in einer Wochengruppe)
Leitsatz
Jedenfalls in Fällen, in denen der mit dem jungen Menschen vor Hilfebeginn zusammen
lebende Elternteil wegen seines niedrigen Einkommens lediglich zum
Mindestkostenbeitrag herangezogen werden kann, ist bei Unterbringung in einer
Wochengruppe eine vollständige Freilassung gerechtfertigt, wenn der Träger der
Jugendhilfe den Unterhaltsanspruch des jungen Menschen gegen den anderen Elternteil
in voller Höhe übergeleitet hat bzw. von diesem einen ungekürzten Kostenbeitrag
erhoben hat.
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 19.02.2008 und der Widerspruchsbescheid vom
14.08.2008 werden aufgehoben.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten
abwenden, wenn die Klägerin nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen jugendhilferechtlichen
Kostenbeitragsbescheid.
Die geschiedene Klägerin ist die Mutter des am 13.06.1991 geborenen D. A., für
den der Beklagte in der Zeit vom 05.09.2005 bis zum 31.01.2007
Eingliederungshilfe nach §§ 35a, 34 SGB VIII gewährte.
Mit Rechtswahrungsanzeige vom 04.08.2005 wurde die Klägerin um Auskunft über
ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse gebeten und zugleich ein
vorläufiger Kostenbeitrag von 154,00 EUR je Monat ab 05.09.2005 festgesetzt.
Diesen Kostenbeitrag leistete die Klägerin 3 Monate lang.
Mit Bescheid vom 26.03.2007 wurde für die Zeit vom 01.04.2006 bis 31.01.2007
ein monatlicher Kostenbeitrag von 154,00 EUR festgesetzt. Für die Zeit vom
05.09.2005 bis 31.03.2006 ergehe noch ein weiterer Bescheid. Es handle sich um
den Mindestkostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes, der von dem
kindergeldberechtigten Elternteil gem. § 94 Abs. 3 SGB VIII zu zahlen sei. Der
Gesamtrückstand betrage 2.135,38 EUR.
Mit Bescheid vom 07.11.2007 nahm der Beklagte den Bescheid vom 26.03.2007
zurück, weil Besuchszeiten des Sohnes der Klägerin in ihrem Haushalt nicht
berücksichtigt worden seien. Der Kostenbeitrag wurde mit Wirkung vom
05.09.2006 auf monatlich 154,00 EUR (Mindestkostenbeitrag) festgesetzt. Von
dem Rückstandsbetrag wurden für 138 Besuchstage 1.269,60 EUR in Abzug
6
7
8
9
10
11
12
13
dem Rückstandsbetrag wurden für 138 Besuchstage 1.269,60 EUR in Abzug
gebracht, so dass sich ein zu zahlender Betrag von 865,78 EUR ergab.
Dagegen richtete sich der Widerspruch vom 25.11.2007, mit dem die Klägerin
geltend machte, es seien weitere 160 Besuchstage nicht berücksichtigt worden.
Sie habe die Kosten für Bekleidung und Klassenfahrten getragen. Im Zeitraum
05.09.2005 bis 21.09.2006 seien regelmäßige Schülerbeförderungsfahrten
notwendig gewesen, da es Probleme mit der Schülerbeförderung gegeben habe.
Auch sei im genannten Zeitraum eine kieferorthopädische Behandlung für ihren
Sohn notwendig geworden. Der Eigenanteil betrage 1.800,00 EUR, von dem sie
monatlich 50,00 EUR abzahle.
Mit Bescheid vom 19.02.2008 wurde der Kostenbeitrag auf 77,00 EUR monatlich
ab 05.09.2005 festgesetzt. Inzwischen liege eine Bestätigung der
Jugendhilfeeinrichtung vor, dass D. alle Wochenenden und die gesamten Ferien
während der Hilfegewährung im Haushalt der Klägerin verbracht habe. Die
„Hessischen Empfehlungen zur Heranziehung nach §§ 91 ff. SGB VIII
(Heranziehungsrichtlinie)“ regelten für eine Unterbringung in diesem Umfang,
dass der Kostenbeitrag des Elternteils, bei dem sich der junge Mensch jedes
Wochenende und in den Ferien aufhalte, um monatlich 50% während der
gesamten Heranziehungszeit zu kürzen sei. Der Beklagte ermittelte einen
Rückstandsbetrag von 836,73 EUR. Da der Klägerin für die Klassenfahrt ihres
Sohnes eine Beihilfe zugestanden hätte, werde dieser Betrag um 100,00 EUR
reduziert. Zusätzliche Kosten für die kieferorthopädische Behandlung des Sohnes
der Klägerin könnten bei der Kostenbeitragsberechnung nicht berücksichtigt
werden. Da sich die öffentliche Jugendhilfe an den Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung orientieren müsse, seien darüber hinausgehende Kosten
nicht berücksichtigungsfähig. Die wegen Ausfalls der Schülerbeförderung
entstandenen Kosten seien vom Träger der Schülerbeförderung zu verantworten
und somit auch von dort zu erstatten.
Mit ihrem Widerspruch vom 05.03.2008 machte die Klägerin geltend, dass
hinsichtlich der Rückstände der gezahlte Kindesunterhalt des Kindesvaters
berücksichtigt werden müsse. Dieser Kindesunterhalt sei zur Hälfte auf den
Rückstand anzurechnen. Jedenfalls rechtfertigten die vom Kindesvater geleisteten
Unterhaltszahlungen eine über 50% hinausgehende Herabsetzung des
Kostenbeitrags der Klägerin.
Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.08.2008,
zugestellt am 25.08.2008, zurück. In der Zeit vom 05.09.2005 bis 31.03.2006
seien die Unterhaltszahlungen des Kindesvaters auf das Jugendamt des Beklagten
übergeleitet worden. Für die Zeit vom 01.04.2006 bis zum Ende der
Jugendhilfeleistung am 31.01.2007 sei ein monatlicher Kostenbeitrag festgesetzt
worden. Nach Maßgabe der im Heranziehungszeitraum gültigen „Richtlinie zur
Heranziehung zu den Kosten und Überleitung von Ansprüchen gemäß §§ 91 ff.
SGB VIII“ (Stand: 15.03.2004) sei bei einer Heranziehung bei Unterbringung in
einer Wochengruppe oder ähnlichen Unterbringungsform von den nach § 94 Abs. 3
SGB VIII übergegangenen Unterhaltsansprüchen regelhaft kein Abschlag
vorzunehmen. Vielmehr gingen eventuell bestehende Unterhaltsansprüche
gegenüber dem nach § 94 Abs. 3 SGB VIII pflichtigen Elternteil auch bei Hilfen in
Form von Wochengruppen in voller Höhe auf den Träger der öffentlichen
Jugendhilfe über. Zwar könne nach dieser Vorschrift aufgrund der vollen
Inanspruchnahme des Unterhalts eine höhere Freilassung als 50% bei dem nach §
94 Abs. 2 SGB VIII heranzuziehenden Elternteil gerechtfertigt sein. Für eine solche
Verfahrensweise werde aber im Falle der Klägerin kein Anlass gesehen, da ohnehin
lediglich der anteilige Mindestkostenbeitrag gefordert werde.
Am 24.09.2008 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Klägerin trägt vor, nach dem Bescheid vom 07.11.2007 sei für jeden
Besuchstag ihres Sohnes ein Betrag von 9,20 EUR vom Kostenbeitrag abgezogen
worden. Dieser Betrag habe sich durch den Bescheid vom 19.02.2008 auf 2,60
EUR verringert. Damit seien der Lebensunterhalt ihres Sohnes für seine
Besuchstage und weitere anfallende Kosten nicht mehr gesichert.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 19.02.2008 in der Fassung des
Widerspruchsbescheids vom 14.08.2008 aufzuheben.
14
15
16
17
18
19
20
21
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Beschluss der Kammer vom 01.09.2009 ist der Rechtsstreit dem
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden. Die
Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten
verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 19.02.2008
und der Widerspruchsbescheid vom 14.08.2008 sind rechtswidrig und verletzen die
Klägerin in ihren Rechten, so dass sie aufzuheben sind (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Nach § 97b SGB VIII erfolgt für Leistungen und vorläufige Maßnahmen, die vor dem
01. Oktober 2005 gewährt worden sind und über diesen Tag hinaus gewährt
werden, die Heranziehung zu den Kosten bis zum 31. März 2006 nach den am Tag
vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (01.10.2005) geltenden Regelungen.
Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass für den Zeitraum 05.09.2005 (Beginn
der Hilfe) bis 31.03.2006 die Rechtmäßigkeit der Kostenbeitragsforderung nach §
94 SGB VIII in der vom 01.01.2000 bis 30.09.2005 geltenden Fassung (im
Folgenden: § 94 SGB VIII a. F.) zu beurteilen ist, während für den Zeitraum
01.04.2006 bis 31.01.2007 § 94 SGB VIII in der ab dem 01.10.2005 geltenden
Fassung (im Folgenden: § 94 SGB VIII n. F.) anzuwenden ist.
Für die Zeit bis zum 31.03.2006 gilt Folgendes: Nach § 94 Abs. 2 S. 1 SGB VIII a. F.
sind die vor Hilfebeginn mit dem Kind oder Jugendlichen zusammen lebenden
Eltern oder Elternteile in der Regel in Höhe der durch die auswärtige Unterbringung
ersparten Aufwendungen zu den Kosten heranzuziehen. Das Gericht hat sich die
Überzeugung gebildet, dass im vorliegenden Einzelfall der anteilige
Mindestkostenbeitrag (hälftiges Kindergeld) nicht den durch die auswärtige
Unterbringung ersparten Aufwendungen entspricht. Denn die Unterhaltsleistungen
des Kindesvaters wurden vom Beklagten in voller Höhe gem. § 94 Abs. 3 S. 2 SGB
VIII a. F. übergeleitet, obwohl das Kind D. sich lediglich in einer Einrichtung befand,
die einer Wochengruppe gleichzusetzen ist. Dieses Vorgehen des Beklagten
befand sich zwar im Einklang mit der Heranziehungsrichtlinie; der Klägerin stand
aber der Unterhalt des Kindesvaters in der Zeit, in der sie D. betreute
(durchschnittlich die Hälfte eines Monats), nicht zur Verfügung. Die Klägerin hatte
jedoch nicht nur in der Zeit, in der sie D. betreute, Aufwendungen (z. B. für
Verpflegung), sondern trug darüber hinaus vollständig die Kosten der Bekleidung
für D. und der Bereithaltung von Wohnraum für die Zeit seines häuslichen
Aufenthalts. Auch die vom Beklagten bemühte Heranziehungsrichtlinie sieht vor,
dass eine solche Konstellation „gegebenenfalls“ eine höhere Freilassung als 50%
bei dem nach § 94 Abs. 2 SGB VIII a. F. heranzuziehenden Elternteil rechtfertigen
kann. Das Gericht ist der Auffassung, dass jedenfalls in Fällen, in denen der mit
dem jungen Menschen vor Hilfebeginn zusammen lebende Elternteil wegen seines
niedrigen Einkommens lediglich zum Mindestkostenbeitrag herangezogen werden
kann, bei Unterbringung in einer Wochengruppe eine vollständige Freilassung
gerechtfertigt ist, wenn der Träger der Jugendhilfe den Unterhaltsanspruch des
jungen Menschen gegen den anderen Elternteil in voller Höhe übergeleitet hat.
Für die Zeit ab dem 01.04.2006 gilt Folgendes: Nach § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII n. F.
hat der das Kindergeld beziehende Elternteil bei Unterbringung über Tag und
Nacht einen Kostenbeitrag mindestens in Höhe des Kindergelds zu zahlen
(Mindestkostenbeitrag). Hält sich der junge Mensch – wie hier - nicht nur im
Rahmen von Umgangskontakten bei einem Kostenbeitragspflichtigen auf, so ist
nach § 94 Abs. 4 SGB VIII n. F. die tatsächliche Betreuungsleistung auf den
Kostenbeitrag anzurechnen. Das Gericht hat sich die Überzeugung gebildet, dass
diese Anrechnung im vorliegenden Einzelfall zur Folge hat, dass von der Klägerin
ein Kostenbeitrag nicht zu fordern ist. Denn der Beklagte hat gegenüber dem
Kindesvater einen Kostenbeitrag in voller Höhe (und nicht etwa gemindert wegen
der Unterbringung in einer Wochengruppe) festgesetzt. Dies hatte zur Folge, dass
D.s Unterhaltsanspruch gegen seinen Vater ruhte (vgl. BGH, Urteil vom
06.12.2006 – XII ZR 197/04 -, FamRZ 2007, 377-380). Die finanziellen
22
23
06.12.2006 – XII ZR 197/04 -, FamRZ 2007, 377-380). Die finanziellen
Auswirkungen für die Klägerin waren mithin die gleichen wie bei der Überleitung
des Unterhaltsanspruchs nach alter Rechtslage. Daher gelten die obigen
Erwägungen sinngemäß mit dem Ergebnis, dass von der Klägerin noch nicht
einmal der hälftige Mindestkostenbeitrag gefordert werden durfte.
Da der Beklagte unterlegen ist, hat er gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des
Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V.
m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.