Urteil des VG Kassel vom 28.09.2009

VG Kassel: öffentliche ordnung, sicherstellung, internetseite, öffentliche sicherheit, unmittelbare gefahr, verfassungskonforme auslegung, ordnungswidrigkeit, straftat, strafbarkeit, fahrzeug

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Gericht:
VG Kassel 4.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 K 1403/07.KS
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 40 Nr 4 SOG HE, § 130 Abs 4
StGB, § 118 Abs 1 OWiG, Art 5
Abs 1 GG
(Würdigung von Rudolf Hess als Mordopfer)
Leitsatz
Das Führen eines Lkw, der großflächig mit dem Konterfei von Rudolf Hess, seinem in
Fraktur gesetzten Namen mit Geburts- und Todestag, dem Satz "Mord verjährt nicht"
und einem Hinweis auf die Internetseite www.46 jahre de plakatiert ist, erfüllt den
Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 4 StGB; der Lkw kann deshalb
sichergestellt werden.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die
Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten
abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die - inzwischen wieder aufgehobene -
Sicherstellung des von ihm gefahrenen Lkw mit dem Kennzeichen ... am
17.08.2007 durch Polizeibeamte.
Der Kläger war am 17.08.2007 mit einem weißen Kasten-Lkw auf der Autobahn A 4
unterwegs. Er war Fahrer dieses Fahrzeugs. Der Lkw war auf beiden Seiten sowie
auf der Vorder- und Rückseite mit großflächigen Folienplakaten beklebt. Die
Plakate auf der Seite zeigten jeweils ein schwarz-weißes Portrait von Rudolf Heß.
Neben dem Bild war rechtsseitig in großer, in Fraktur gesetzter Schrift der Name
Rudolf Heß angebracht sowie darunter sein Geburts- und Todesjahr (1894 -1987).
Darunter stand der Satz: "Mord verjährt nicht". Unterhalb einer horizontalen
Trennlinie befand sich des Weiteren der Hinweis auf eine Internetseite mit der
Bezeichnung www.46jahre.de. Auf der Vorder- und Rückseite des Fahrzeugs waren
in ähnlicher Aufmachung - allerdings ohne das Bild von Rudolf Heß -
entsprechende Beschriftungen aufgebracht.
Polizeibeamte stoppten das Fahrzeug und leiteten es zu einer Polizeidienststelle.
Die Polizeibeamten fertigten sodann eine Ordnungswidrigkeitsanzeige gemäß §
118 OWiG sowohl gegen den Kläger als auch gegen den Beifahrer, Herrn N. L. an.
Außerdem stellten die Polizeibeamten das Fahrzeug gemäß § 40 Nr. 4 HSOG
sicher. Hierüber erstellten sie ein entsprechendes Protokoll. Nachdem der Kläger
und sein Beifahrer die beanstandeten Folien von dem Lkw entfernt hatten, wurde
ihnen die Weiterfahrt gestattet.
Mit Schreiben vom 21.08.2007 legte der Kläger gegen die Sicherstellung
Widerspruch ein.
Mit Bescheid vom 03.09.2007 wies das Polizeipräsidium Osthessen den
Widerspruch zurück. Der Widerspruch sei unzulässig, weil nach Erledigung der
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Widerspruch zurück. Der Widerspruch sei unzulässig, weil nach Erledigung der
Hauptsache ein Vorverfahren nach §§ 68 ff. VwGO nicht erforderlich sei. Wegen der
Einzelheiten der Begründung wird auf Blatt 51 bis 57 des Verwaltungsvorgangs des
Polizeipräsidiums Osthessen verwiesen.
Mit Schriftsatz seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 27.09.2007 hat der Kläger
Klage erhoben. Zur Begründung wird ausgeführt, das Portrait von Rudolf Heß und
die auf dem Lkw angebrachten Schriftzüge mit der dadurch erfolgten Erinnerung
stellten ein erlaubtes Werturteil dar. Insbesondere der Satz "Mord verjährt nicht"
stelle eine auslegungsbedürftige Äußerung dar, die auch die Deutung zulasse,
dass Heß selbst Mörder sei. Auch sei eine Belästigung der Allgemeinheit bereits
dadurch ausgeschlossen, dass Rudolf Heß nicht eine dafür notwendige
Bekanntheit besitze. Zudem könne eine Debatte darüber, ob Rudolf Heß ermordet
worden sei, keinerlei politische Auswirkungen haben. Das Anbringen des Plakats
auf dem Lkw stelle keine Ordnungswidrigkeit nach § 118 OWiG dar. Vielmehr
unterfalle das Zeigen des Bildnisses von Rudolf Heß der Meinungsfreiheit des Art.
5 GG. Das Zeigen des Bildnisses von Rudolf Heß stehe nicht im groben
Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung, es werde objektiv auch nicht jenes
Minimum an Regeln verletzt, ohne deren Beachtung eine offene Gesellschaft nicht
auskomme. Ebenso wenig werde die Menschenwürde verletzt oder durch die
Gemeinschaftsordnung geschützte Interessen missachtet. Rudolf Heß sei heute
einer breiten Öffentlichkeit nicht mehr bekannt. Es habe heute keine Auswirkungen
mehr, welcher Art der Tod von Rudolf Heß gewesen sei. Rudolf Heß habe seine Haft
nicht in einem Gefängnis der Bundesrepublik Deutschland, sondern der alliierten
Siegermächte abgesessen. Deshalb könne sich der Vorwurf des Mordes auch nicht
gegen die Bundesrepublik Deutschland richten. Eine Debatte über die Frage, ob
Rudolf Heß ermordet worden sei, bringe die Gemeinschaftsordnung nicht
durcheinander. Außerdem liege keine Belästigung der Allgemeinheit vor. Die
Behauptung, dass Rudolf Heß ermordet worden sei, sei nicht unwahr. Dies ergebe
sich aus Gutachten, deren Übersetzung zur Gerichtsakte gereicht worden sind.
Das OLG Frankfurt am Main habe mit Beschluss vom 12.08.2009 im
Ordnungswidrigkeitsverfahren festgestellt, dass der Kläger weder den Tatbestand
des § 130 Abs. 4 StGB noch den des § 118 Abs. 1 OWiG erfüllt habe. Es treffe nicht
zu, dass der Kläger eine Versammlung in J. habe besuchen wollen; er habe dies
auch nicht getan.
Der Kläger beantragt,
den Widerspruchsbescheid des Polizeipräsidiums Osthessen vom 03.09.2007
aufzuheben und festzustellen, dass die Sicherstellung des Lkw ... am 17.08.2007
rechtswidrig war.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, die Sicherstellung des Lkw sei seinerzeit rechtmäßig
gewesen. In der Aufmachung des Lkw und dessen Nutzung, die eine Art
Promotiontour für Rudolf Heß anlässlich dessen Todestages gewesen sei, sei eine
grob ungehörige Handlung zu sehen, die geeignet gewesen sei, die Allgemeinheit
zu belästigen. Sie habe eine grobe Missachtung der durch die
Gemeinschaftsordnung geschützten Interessen dargestellt. Insbesondere sei es
durch die Art und Weise der Ausgestaltung der Aktion einem großen Teil der
Öffentlichkeit nicht möglich gewesen, sich der Konfrontation mit dem Lkw zu
entziehen. Dies ergebe sich nicht zuletzt aus den Anrufen zahlreicher
Verkehrsteilnehmer, die sich über das Fahrzeug beschwert hätten. Eine Auslegung
dahingehend, dass die Aussage "Mord verjährt nicht" von einer Ermordung Dritter
durch Heß ausgeht, sei nicht möglich. Im Übrigen widerspräche dies den Inhalten
der Internetseite, auf die auf dem Lkw hingewiesen worden sei. An die
Entscheidung des OLG Frankfurt am Main vom 12.08.2009 sei das Gericht nicht
gebunden. Diese berücksichtige zu Unrecht nicht die Erklärungen auf der
Internetseite. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger erklärt habe, dass
er auf dem Weg zur einer Versammlung in J. sei. Es sei damit zu rechnen gewesen,
dass der Lkw dort eine hohe Werbewirksamkeit erreicht hätte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Polizeipräsidiums Osthessen
(1 Heft) sowie der zur Gerichtsakte genommenen und den Beteiligten zur Kenntnis
gegebenen Ausdrucke der Internetseite www.46jahre.de verwiesen, die in der
mündlichen Verhandlung vorgelegen haben.
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Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO
zulässig. Sie ist, da die Sicherstellungsanordnung nicht mit einer
Rechtsmittelbelehrung versehen war, rechtszeitig innerhalb der Jahresfrist des § 58
Abs. 2 VwGO erhoben worden. Eines Vorverfahrens bedurfte es nicht, wie in dem
Widerspruchsbescheid vom 03.09.2007 zutreffend ausgeführt worden ist (BVerwG,
Urteil vom 07.06.1978 - 7 C 45.74 -, BVerwGE 56, 24; Eyermann,
Verwaltungsgerichtsordnung, 2006, § 68 Rdnr. 4). Und die Kammer geht auch
davon aus, dass sich der Kläger auf ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse berufen
kann. Das ergibt sich daraus, dass mit der Sicherstellung des Lkw auf seine
Meinungskundgabe eingewirkt worden ist. Und auch in Fällen, in denen sich der
angegriffene Verwaltungsakt typischerweise vor Einleitung eines gerichtlichen
Verfahrens erledigt, entnimmt man Art. 19 Abs. 4 GG, dass gerichtlichen
Rechtsschutz zu erlangen gleichwohl möglich sein muss (Kopp u.a.,
Verwaltungsgerichtsordnung, 2007, § 113 Rdnr. 145). Darüber hinaus ist von der
Aktivlegitimation des Klägers auszugehen, da sich die Sicherstellungsanordnung
an ihn als Fahrer des Lkw gerichtet hat, von dem die Begehung weiterer Straftaten
oder Ordnungswidrigkeiten zu erwarten war und der deshalb als Störer in Anspruch
genommen worden ist (Hornmann, Hessisches Gesetz über die öffentliche
Sicherheit und Ordnung , 2008, § 40 Rdnr. 10).
Die Klage ist aber unbegründet. Die am 17.08.2007 auf der Grundlage von § 40 Nr.
4 HSOG erfolgte Sicherstellung des von dem Kläger gefahrenen Lkw ... ist nämlich
rechtmäßig gewesen. Nach § 40 Nr. 4 HSOG können die Gefahren- und die
Polizeibehörden eine Sache sicherstellen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die
Annahme rechtfertigen, dass sie zur Begehung einer Straftat oder
Ordnungswidrigkeit gebraucht werden soll. Davon ist hier auszugehen. Dabei
bedarf es keiner weitergehenden Klärung der in der Literatur erörterten Zweifel an
der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift (Hornmann, a.a.O., § 40 Rdnr. 22 ff.;
Lisken u.a., Handbuch des Polizeirechts, 2007, F Rdnr. 764 ff.). Denn diese
beziehen sich auf das Vorverlegen der Eingriffsschwelle vor die gegenwärtige
Gefahr. Da jedenfalls eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass die
Sicherstellung bei der gegenwärtigen Gefahr der Begehung einer Straftat oder
Ordnungswidrigkeit erfolgen kann, möglich ist und durch die Fahrt mit dem Lkw die
Begehung einer Straftat bereits erfolgt war oder jedenfalls bei einer Weiterfahrt
hinreichend sicher drohte, gibt § 40 Nr. 4 HSOG eine hinreichende Grundlage für
die erfolgte Sicherstellung des Lkw ab.
Das Führen des Lkw mit den Aufdrucken des übergroßen Konterfeis und dem
Namen von Rudolf Heß, seinem Geburts- und Todesjahr, der Aufschrift „Mord
verjährt nicht“ sowie der Hinweis auf die Internetseite www.46jahre.de im
öffentlichen Straßenraum erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130
Abs. 4 StGB. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe
bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer
die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die
nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder
rechtfertigt. Eine danach unter Strafe gestellte Billigung der nationalsozialistischen
Gewalt- und Willkürherrschaft kann auch dann vorliegen, wenn ein
Verantwortungsträger oder eine Symbolfigur des nationalsozialistischen Regimes
in Äußerungen positiv dargestellt und bewertet wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn
die betreffende Person auch als Symbol dieses Unrechtsregimes als solches
gemeint ist. Der Strafbarkeit nach dieser Vorschrift unterliegen dagegen solche
Äußerungen nicht, die nur der Person einzelner Nationalsozialisten gelten und
nicht mit einer Billigung des nationalsozialistischen Regimes verbunden sind. Diese
Auslegung trägt der Bedeutung des durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten
Grundrechts der Meinungsfreiheit Rechnung und grenzt sie gegen weitergehende
und verfassungsrechtlich bedenkliche Einschränkungen ab (BVerwG, Urteil vom
25.06.2008 - 6 C 21/07 -, DVBl 2008, 1248; Schönke u.a., Strafgesetzbuch, 2006, §
130 Rdnr. 22b unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Dabei ist der Sinn der
Äußerung, ausgehend von ihrem Wortlaut, unter Berücksichtigung des
sprachlichen Kontextes, in dem sie steht, und der Begleitumstände, unter denen
sie fällt, zu bestimmen. Soweit danach verschiedene Deutungen möglich sind,
erfordert eine Bestrafung die Strafbarkeit aller Deutungsalternativen (BVerfG,
Beschluss vom 25.10.2005 - 1 BvR 1696/98 - BVerfGE 114, 339).
Vor diesem Hintergrund erfüllt das Fahren des Lkw mit der plakatierten Äußerung
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Vor diesem Hintergrund erfüllt das Fahren des Lkw mit der plakatierten Äußerung
in Gestalt des übergroßen Konterfeis von Rudolf Heß und des plakatierten Textes
den Straftatbestand des § 130 Abs. 4 StGB. Denn die Abbildung des Konterfeis
und der Text haben den für jeden Betrachter (als Teil des “unvoreingenommenen
und verständigen Publikums“ im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2009 - 1 BvR
2272/04 -, Juris) erkennbaren Sinn, Rudolf Heß, den verurteilten Kriegsverbrecher
und herausragenden Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes nicht
nur als Person, sondern gerade auch als Symbolfigur des nationalsozialistischen
Regimes positiv zu würdigen.
Das gilt bereits dann, wenn man nur die Plakatierung selbst mit dem Konterfei von
Rudolf Heß und dem aufgedruckten Text, nicht aber den Inhalt der in Bezug
genommenen Internetseite berücksichtigt. Denn durch die in Fraktur gesetzten
Schriftzüge wird auf die Zeit des nationalsozialistischen Regimes verwiesen, in
dem diese Schrift üblich war. Und durch den Satz „Mord verjährt nicht“ wird Rudolf
Heß als Mordopfer dargestellt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der
dahinterstehenden Behauptung, dass Rudolf Heß ermordet worden sei - dem
entsprechenden Vortrag brauchte das Gericht deshalb auch nicht weiter
nachzugehen -, wird dadurch die Rolle von Rudolf Hess als Kriegsverbrecher und
Verantwortlicher des nationalsozialistischen Regimes gegen die des Opfers
vertauscht. Das ergibt sich auch aus dem historischen Kontext, in dem dieser Satz
steht. Denn es handelt sich dabei nicht nur um das Zitat einer Vorschrift aus dem
Strafgesetzbuch (§ 78 Abs. 2 StGB: „Verbrechen nach 220a und
nach § 211 verjähren nicht“). Bei dieser Regelung handelt es sich nämlich
um das Ergebnis der in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geführte
Diskussion um die Verjährung von Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes
(vgl. z.B. Vogel, Mord sollte nicht verjähren, ZRP 1979, 1). Indem hier aber Rudolf
Heß als einer der Hauptkriegsverbrecher in dem Kontext der historischen
Diskussion über die Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen als Mordopfer
dargestellt wird, wird damit in besonderer Weise die Würde der Opfer gerade dieser
Taten verletzt. Diese Form der Parallelisierung macht in besonderer Form deutlich,
dass es nicht um eine sachliche Meinungsäußerung der behaupteten These geht,
Rudolf Heß sei Opfer eines Mordes, sondern um eine bewusste Störung in einer die
Würde der Opfer verletzten Weise.
Hinzu kommt, dass der Kopf von Rudolf Hess in heroisierender Aufmachung
gezeigt. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass nicht ein Bild
des älteren Rudolf Hess gezeigt wird. Vielmehr unterstreicht das Konterfei noch
einmal den Bezug zum nationalsozialistischen Regime.
Und zum weiteren Kontext der plakatierten Äußerung gehört auch der Umstand,
dass das die Sicherstellung des Lkw veranlassende Führen des Lkw am Todestag
von Rudolf Heß am 17. August erfolgte, der sich am 17.08.2009 zum 20. Mal
gejährt hat, und dass es um Gedenkveranstaltungen zu diesem Tag in den letzten
Jahren vielfältige Auseinandersetzungen wegen der dabei erfolgten bzw.
befürchteten Begehung von Straftaten nach § 130 Abs. 4 StGB gegeben hat.
Dadurch ergibt sich zugleich, dass die Auffassung des Klägers, dieser Satz könne
auch so verstanden werden, dass ein von Rudolf Heß begangener Mord nicht
verjähre, nicht zutreffen kann. Denn dann gäbe weder die Angabe von Geburts-
und Todestag von Rudolf Heß einen Sinn noch der Hinweis auf seine Haftzeit von
46 Jahren. Der Straftatbestand ist durch eine Äußerung nämlich nur dann nicht
erfüllt, wenn mögliche Deutungen der Äußerungen den Straftatbestand nicht
erfüllen; rabulistische Deutungen sind damit aber auch nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts nicht gemeint.
Ergibt sich demnach aus der Plakatierung auf dem vom Kläger gefahrenen Lkw
allein bereits eine positive Würdigung von Rudolf Heß, so gilt dies erst recht, wenn
man zur Deutung der damit erfolgten Äußerung den Inhalt der Internetseite
www.46jahre.de mit berücksichtigt, auf die die plakatierte Äußerung hinweist und
die deshalb nach dem Willen des Klägers auch zur Kenntnis genommen werden
soll. Der Inhalt der Internetseite gehört zu den Umständen, die die Äußerung
erkennbar prägen sollen und die deshalb bei der Deutung der Äußerung zu
berücksichtigen sind.
Dem Text der Internetseite („Mord verjährt nicht! Zum 20. Todestag von Rudolf
Heß“), der durch Übersenden von Ausdrucken an die Beteiligten in das Verfahren
eingeführt worden ist, ist zu entnehmen, dass es um ein Gedenken an Rudolf Heß
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eingeführt worden ist, ist zu entnehmen, dass es um ein Gedenken an Rudolf Heß
und damit (BVerwG, Urteil vom 25.06.2008, a.a.O.) eine positive Würdigung seiner
Person geht. Dabei wird Rudolf Heß vor allem als Repräsentant des
nationalsozialistischen Regimes gewürdigt (Stellvertreter des Führers,
Reichsminister) und seine enge Abstimmung mit Adolf Hitler betont (er habe „im
Auftrag und mit Wissen des Regierungschefs den Flug“ nach England
unternommen). Aus dem Kontext der Aktion, die in einen Zusammenhang mit
dem Todestag von Rudolf Heß und das dazu in der Neonazi-Szene inszenierte
Gedenken von Rudolf Heß in Wunsiedel und an anderen Orten im Bundesgebiet
gestellt wird, die ebenfalls auf eine Verharmlosung des nationalsozialistischen
Regimes hinauslaufen (BVerwG, Urteil vom 25.06.2008, a.a.O.), ergibt sich
ebenfalls, dass es nicht nur um die Person von Rudolf Heß - unabhängig von seiner
Position im nationalsozialistischen Regime - geht, sondern um ihn als
Repräsentanten dieses Regimes. Vor diesem Hintergrund ist dem Text der
Versuch zu entnehmen, Rudolf Heß als friedensbewegten Politiker und
Gutmenschen darzustellen, wenn dargelegt wird, dass es nicht leicht sei, auf der
persönlichen und politischen Weste von Rudolf Heß schwarze Flecken zu
entdecken, dass er das Gewissen der Partei gewesen sei, dass er Soldat und
Politiker gewesen sei, der sein Leben eingesetzt habe, um Deutschland und der
Welt Frieden zu bringen, dass seine Friedensmission in England auf eine
schnellstmögliche Beendigung des Krieges gerichtet gewesen sei und dass er in
eine Falle des britischen Geheimdienstes getappt sei. All das soll offenbar durch
seine behauptete Rolle als Opfer eines Mordkomplotts verstärkt werden. Das aber
zielt letztlich darauf, die Rolle, die Rudolf Heß als Repräsentant des
nationalsozialistischen Regimes gespielt hat, und damit zugleich dieses von ihm
repräsentierte Regime zu verharmlosen. Diese Erklärungen lassen im übrigen die
Auffassung der Verfahrensbevollmächtigten des Klägers, der Satz „Mord verjährt
nicht“ könne auch so interpretiert werden, dass Rudolf Heß selbst einen Mord
begangen habe, erst recht als vollkommen absurd erscheinen.
Die plakatierte Äußerung verletzt auch die Würde der Opfer der
nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft. Auch wenn man - anders, als
die Gesetzesmaterialien es nahelegen (BT-Drs. 15/5051) - davon ausgeht, dass es
sich insoweit um ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal handelt, das nicht
bereits durch die Billigung des nationalsozialistischen Regimes indiziert ist
(BVerwG, Urteil vom 25.06.2008, a.a.O.), ergibt sich hier jedenfalls aus dem Bezug
der plakatierten Äußerung zum Todestag von Rudolf Heß, den hierzu
durchgeführten oder geplanten Gedenkveranstaltungen sowie aus der Verkehrung
der Täter-Opfer-Rolle eine Verletzung der Würde der Opfer (VG Bayreuth,
Beschluss vom 23.07.2008 - B 1 S 08.657 -, Juris; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss
vom 10.08.2007 - 2 M 252/07 -, Juris; BayVGH, Urteil vom 24.03.2007 - 24 B
06.1894 -, Juris).
Die Strafbarkeit der plakatierten Äußerung nach § 130 Abs. 4 StGB erfordert die
weitere Feststellung, dass sie eine Störung des öffentlichen Friedens dargestellt
hat. Die Eignung hierzu reicht nicht; § 130 Abs. 4 StGB ist - anders als § 130 Abs. 1
und 3 StGB - ein Verletzungsdelikt (Schönke u.a., a.a.O., § 130 Rdnr. 22c). Da es
vorliegend aber um die Rechtmäßigkeit der Sicherstellung nach § 40 Nr. 4 HSOG
geht und damit darum, ob Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Lkw
zur Begehen einer Straftat nach § 130 Abs. 4 StGB gebraucht werden soll, kommt
es insoweit nur darauf an, ob die gegenwärtige Gefahr bestand, dass durch das
Führen des Lkw mit der plakatierten Äußerung der öffentliche Friede gestört würde.
Eine Störung des öffentlichen Friedens durch eine Äußerung setzt dabei zunächst
voraus, dass die Äußerung nicht unbemerkt bleiben, sondern in die Öffentlichkeit
hineinwirkt und Beachtung finden. Das Führen des Lkw im öffentlichen
Straßenverkehr stellt sich als ein solches Hineinwirken in die Öffentlichkeit dar.
Dabei folgt das Gericht der in der mündlichen Verhandlung durch die
Verfahrensbevollmächtigten des Klägers geäußerten Auffassung nicht, dass
aufgrund der Geschwindigkeiten im Straßenverkehr ein Erfassen der auf dem Lkw
plakatierten Äußerung praktisch nicht möglich sei. Wäre dies so, wäre nicht
verständlich, warum so viele Lkw mit Werbung auf den öffentlichen Straßen
unterwegs sind. Und die bei den Polizeidienststellen eingegangenen Anrufe, die in
der polizeilichen Ermittlungsakte dokumentiert sind, zeigen auch, dass sie, wie
beabsichtigt, auch bereits Wirkung gehabt hatte und mit Sicherheit ohne die
Sicherstellung auch weiterhin gehabt hätte. Unabhängig davon entfällt das
Argument der Klägerseite beim Halten und Parken des Fahrzeugs. Im übrigen
handelt es sich um eine Internetadresse, die besonders kurz, prägnant und
einprägsam ist. Ob das Fahrzeug darüber hinaus auch im Rahmen einer
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einprägsam ist. Ob das Fahrzeug darüber hinaus auch im Rahmen einer
Versammlung in J. eingesetzt werden sollte, wovon der Beklagte ausgeht und was
der Kläger bestreitet, bedarf deshalb keiner weiteren Klärung.
Die Störung des öffentlichen Friedens setzt weiter voraus, dass das Vertrauen der
Öffentlichkeit in die Rechtssicherheit erschüttert wird oder bei überlebenden Opfern
oder Nachkommen der getöteten Opfer die verständliche Angst vor künftigen
Angriffen auf ihre Menschenwürde und vor der gefährlichen Ausbreitung des
zugrunde liegenden Gedankenguts ausgelöst (BVerwG, Urteil vom 25.08.2008,
a.a.O., BGH, Urteil vom 22.12.2004 - 2 StR 365/04 -, BGHSt 46, 212). Solche
Reaktionen der Öffentlichkeit aufgrund der öffentlichkeitswirksamen und plakativen
Zurschaustellung eines hohen Repräsentanten der nationalsozialistischen
Unrecht- und Willkürherrschaft in der Opferrolle, der sich ein Straßenteilnehmer
praktisch nicht entziehen konnte, lagen nahe und rechtfertigten die Annahme
einer drohenden Verletzung des Straftatbestandes des § 130 Abs. 4 StGB, soweit
sie nicht bereits erfolgt war. Dafür spricht auch, dass es bereits empörte Anrufe
von anderen Straßenverkehrsteilnehmern gegeben hatte, die bei den
Polizeidienststellen eingegangen waren.
Soweit das OLG Frankfurt den Kläger mit Beschluss vom 12.08.2009 (2 Ss-Owi
574/08) vom Vorwurf der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 4 StGB freigesprochen
hat, kann das Gericht der in den Gründen dieses Beschlusses dargelegten
Auffassung nicht folgen. Diese blendet die heroisierende Darstellung des
Konterfeis von Rudolf Heß, die Bezugnahme auf das nationalsozialistische Regime
durch die Schriftgestaltung, das Anknüpfen an die Gedenkveranstaltungen aus
Anlass des Todestages von Rudolf Heß und die Verkehrung der Täter-Opfer-Rolle
aus. Außerdem fehlt jede Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Internetseite.
Das Gericht ist im übrigen trotz des erfolgten Freispruchs des Klägers auch nicht
gehindert, seinerseits die unmittelbare Gefahr der Begehung einer Straftat durch
den Kläger im Zeitpunkt der Beschlagnahme festzustellen. Denn insoweit kommt
es auf die Frage, ob die Tat tatsächlich verfolgt wird und ob und wie sie abgeurteilt
wird, nicht an. Und eine Bindung des Gerichts an die Entscheidung des OLG
bezüglich der Auslegung des Straftatbestandes besteht nicht.
Danach kommt es auch nicht darauf an, ob der Kläger mit dem Führen des LKW
den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit nach § 118 Abs. 1 OWiG erfüllt hat. Dass
die die Sicherstellung anordnenden Polizeibeamten vom Vorliegen des § 118 Abs.
1 OWiG, nicht aber des § 130 Abs. 4 StGB ausgegangen waren, ändert daran
nichts. Denn das pflichtgemäß ausgeübte Ermessen wird nicht deshalb fehlerhaft,
weil die Behörde von der Ordnungswidrigkeit oder Strafbarkeit einer Handlung
ausgeht, sie aber nicht die - oder nicht alle - in Betracht kommenden Straf- oder
Ordnungswidrigkeitstatbestände im Blick hat. Unabhängig davon ist aber auch
vom Vorliegen eines Verstoßes bzw, von einem drohenden Verstoß gegen § 118
Abs. 1 OWiG auszugehen. Die Sicherstellungsanordnung wäre demnach auch dann
nicht zu beanstanden, wenn man die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130
Abs. 4 StGB durch die plakatierte Äußerung nicht als erfüllt ansehen würde. In
diesem Fall entfiele die Subsidiarität der Anwendung des § 118 Abs. 1 OWiG nach §
118 Abs. 2 OWiG.
Nach § 118 Abs. 1 OWiG handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige
Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu
gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Angesichts des weit
gefassten und mit unbestimmten Rechtsbegriffen gebildeten Tatbestands bedarf
es im Hinblick auf die Bedeutung des durch Art. 5 Abs. 1 GG unter Schutz
gestellten Meinungsfreiheit eingrenzender begrifflicher Festlegungen dieser
Regelung. Danach ist von Folgendem auszugehen:
Grob ungehörig ist eine Handlung, die jedes Minimum an Regeln grob verletzt,
ohne deren Beachtung auch eine für Entwicklungen offene Gesellschaft nicht
auskommt und die als eine Missachtung der Menschenwürde oder der sonst durch
die Gemeinschaftsordnung geschützten Interessen erscheint (Göhler, OWiG, 2006,
§ 118 Rdnr. 4; Karlsruher Kommentar zum OWiG, 2006, § 118 Rdnr. 6). Das
plakative und provokative Zurschaustellen eines übergroßen Konterfeis eines
maßgeblichen Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes, wie es Rudolf
Heß ist, und seine Präsentation als Opfer stellt eine solche grob ungehörige
Handlung dar; sie verletzt durch die Gemeinschaftsordnung geschützte Interessen
Sie ist auch geeignet, die Allgemeinheit zu belästigen. Sie zielt, wie sich auch aus
der Darstellung auf der Internet-Seite ergibt („der Aufdruck sollte Aufmerksamkeit
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der Darstellung auf der Internet-Seite ergibt („der Aufdruck sollte Aufmerksamkeit
erregen“), auf eine unbestimmte Anzahl von Betrachtern, insbesondere
Teilnehmern am Straßenverkehr, und so auf die Allgemeinheit i.S.v. § 118 Abs. 1
OWiG (Karlsruher Kommentar zum OWiG, a.a.O., Rdnr. 9). Die Allgemeinheit wurde
durch die plakatierte Äußerung an dem vom Kläger gefahrenen Lkw auch belästigt,
wie die in der Ermittlungsakte dokumentierten Anrufe bei der Polizei belegen und
was sich auch der Internet-Seite entnehmen lässt („Stinkefinger gab es höchst
selten“) und es bestand bei einem Weiterfahren des Lkw mit der Plakatierung auch
die Gefahr weiterer Belästigungen. Die vom Kläger in diesem Zusammenhang
geäußerte Auffassung, Rudolf Heß fehle die für eine Belästigung der Allgemeinheit
erforderliche Bekanntheit, tritt nicht zu. Auf der in Bezug genommenen Internet-
Seite ist der vielfache Zuspruch hervorgehoben worden, den die Aktion des
Klägers gehabt habe. Und nach wie vor ist die Person von Rudolf Heß als
maßgeblicher Repräsentant des nationalsozialistischen Regimes in der öffentlichen
Diskussion präsent; dazu haben nicht zuletzt die von der Neonazi-Szene um seine
Person geführte Auseinandersetzung beigetragen.
Darüber hinaus ist die Darstellung auch geeignet, die öffentliche Ordnung zu
beeinträchtigen. Öffentliche Ordnung umfasst dabei die Gesamtheit der
geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in
der Öffentlichkeit, deren Beobachtung nach den jeweils geltenden Anschauungen
als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes staatsbürgerliches
Gemeinschaftsleben betrachtet wird (Göhler, a.a.O., § 118 Rdnr. 10; vgl. dazu auch
Hornmann, a.a.O., § 11 Rdnr. 18 ff.). Das öffentliche Zurschaustellen eines
maßgeblichen Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes in der
erkennbaren Absicht, diesen positiv zu würdigen und statt als Täter als Opfer
erscheinen zu lassen, stellt diese Voraussetzungen in Frage und kann deshalb die
öffentliche Ordnung beeinträchtigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der
Kosten ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Beschluss
Der Streitwert beträgt 5.000,00 EUR.
Gründe
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 1 Nr. 2, 52 Abs. 3, 63 GKG. Da es sich um
einen Fortsetzungsfeststellungsstreit handelt, setzt die Kammer den
Auffangstreitwert wie bei einer gegen die Sicherstellung selbst gerichteten Klage
an (vgl. Ziff. 1.3 des Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.