Urteil des VG Karlsruhe vom 29.11.2016

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VG Karlsruhe Urteil vom 29.11.2016, A 8 K 3682/16
Flüchtlingseigenschaft für Asylsuchende aus Syrien
Leitsätze
Einem Asylsuchenden aus Syrien ist die Flüchtlingseigenschaft ohne zusätzliche individuelle Gründe
zuzuerkennen, da ihm bei seiner hypothetischen Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung
wegen unterstellter politischer Überzeugung droht.
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.07.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger, dem der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, begehrt die Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft.
2 Der am ... in .../Syrien geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und islamischer
Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am ...2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik
Deutschland ein und stellte am ...2015 einen Asylantrag.
3 Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt)
in ... am ...2016 gab er an, sein Heimatland am ...2012 wegen des Krieges verlassen zu haben. Er habe in
Syrien von 2004 bis 2006 als Soldat in einer Infanterieeinheit („Einheit ...“) Wehrdienst geleistet und
befürchte, als Reservist des Militärs eingezogen zu werden. Er wolle aber weder andere Menschen töten,
noch selbst getötet werden. Er habe zwar bislang keinen Einberufungsbefehl erhalten, sei aber einmal von
der Polizei kontrolliert worden. Die Polizei, die ihn anhand des Geburtsdatums in seinem Ausweis als
wehrdienstpflichtig erkannt habe, habe ihn nur deshalb nicht mitgenommen, weil er Geld bezahlt habe.
Außerdem gebe es zwischen seinem Wohnort und seiner Arbeitsstelle keine Verbindung mehr. Das
Restaurant, in dem er gearbeitet habe, sei teilweise zerstört worden. Auch das Haus, in dem sie gelebt
hätten, sei bombardiert worden. Mit seiner Frau und seiner Familie sei er deshalb zunächst in den Libanon
geflohen, dort habe er auch einen bis zum ... befristeten Aufenthaltsstatus gehabt. Seine Familie sei 2013
nach Deutschland weitergereist, er sei mit seiner Frau, die 2013 eine Tochter und 2014 einen Sohn geboren
habe, zunächst im Libanon geblieben. Dort sei es sehr teuer gewesen, weshalb sie dort nicht mehr leben
könnten und er sich entschlossen habe, nach Deutschland zu gehen und seine Frau und die Kinder
nachzuholen.
4 Mit Bescheid vom 19.07.2016, dem Kläger zugestellt am 23.07.2016, erkannte das Bundesamt dem Kläger
den subsidiären Schutzstatus zu (Ziff. 1 des Bescheids) und lehnte den Antrag im Übrigen ab (Ziff. 2 des
Bescheids). Dem Kläger drohe zwar in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs.
1 Nr. 3 AsylG. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor.
Der Kläger gehöre keiner besonders vulnerablen Gruppe an und habe vor seiner Ausreise auch keine
exponierte Funktion inne gehabt. Seine Furcht vor der Einberufung zum Militärdienst habe er weder
hinreichend substantiiert noch habe er geeignete Beweismittel vorgelegt, die eine begründete Furcht
bestätigten.
5 Der Kläger hat am 02.08.2016 Klage erhoben und beantragt,
6
den Bescheid des Bundesamts vom 19.07.2016 insoweit aufzuheben, als er der Entscheidung der
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht und die Beklagte zu verpflichten, ihm die
Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
7 Entgegen der Annahme des Bundesamts habe er eine konkrete Verfolgungssituation geschildert. Das
Restaurant wie auch sein Wohnhaus seien durch Kriegshandlungen zerstört worden und er habe lediglich
Glück gehabt, sich zum Zeitpunkt der Angriffe nicht dort aufgehalten zu haben. Ferner habe die syrische
Armee in den vergangenen Jahren die Reservisten eingezogen und sei er von der Polizei diesbezüglich
bereits angehalten worden, wobei er einer Festnahme nur durch eine Geldzahlung habe entgehen können.
Er habe jeden Tag damit rechnen müssen, eingezogen zu werden. Verweigerer des Kriegsdienstes müssten
mit massiven Repressionsmaßnahmen wie Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen und Folter
rechnen. Schließlich begründe auch die illegale Ausreise, die Asylantragstellung sowie der längerfristige
Aufenthalt im westlichen/europäischen Ausland die beachtliche Wahrscheinlichkeit staatlicher Verfolgung, da
dies seitens des syrischen Staates als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werde.
8 Die Beklagte beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10 Zur Begründung verweist sie auf den streitgegenständlichen Bescheid.
11 Der Kammer liegt die den Kläger betreffende Akte des Bundesamts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten
des Sach- und Streitstandes wird hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten, den
sonstigen Inhalt der Gerichtsakten, die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 29.11.2016 und die
der erkennenden Kammer zum Herkunftsland Syrien vorliegenden Erkenntnismittel Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
12 Das Gericht konnte in der Sache verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte zur mündlichen
Verhandlung nicht erschienen war, denn die Ladung, die aufgrund des allgemeinen Verzichts der Beklagten
auf die Förmlichkeiten der Ladung formlos erfolgt ist, enthielt einen entsprechenden Hinweis (vgl. § 102 Abs.
2 VwGO).
13 Die zulässige Klage ist begründet.
14 Der Bescheid des Bundesamtes ist in Nr. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Dem Kläger steht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, da er sich aus begründeter
Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten politischen Überzeugung
außerhalb Syriens befindet (§ 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG).
15 Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung müssen unabhängig von einer Vorverfolgung grundsätzlich
alle aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit
rechnen, Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG durch das Assad-Regime zu erleiden (dazu
1.). Diese Verfolgungshandlungen knüpfen stets an eine ihnen vom Regime zugeschriebene regimefeindliche
Einstellung an, so dass bei ihnen eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen einer politischen
Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG besteht (dazu 2.).
16 1. Eine Verfolgungsgefahr für einen nicht verfolgt Ausgereisten und damit dessen begründete Furcht vor
Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG,
Vorabentscheidungsersuchen vom 07.02.2008 – 10 C 33/07 –, juris, Rn. 37) unter folgenden
Voraussetzungen vor:
17 „Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht
vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände
seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im
Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine 'qualifizierende' Betrachtungsweise im
Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es
kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen
Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem
Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer
'quantitativen' oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen
Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der
vorzunehmenden 'zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts' die für
eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen
sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die
Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die
Wahrscheinlichkeit einer Gefahr 'beachtlich' ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und
vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände
eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur
ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben
ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein
vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des
Falles die 'reale Möglichkeit' (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer
Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung
aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang
in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe
mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen
und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann,
einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die
Todesstrafe riskiert (Urteil vom 5. November 1991 – BVerwG 9 C 118.90 – BVerwGE 89, 162<169
f.>m.w.N.).“
18 Hinsichtlich der Behandlung von aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen sind belastbare Fakten
aus der jüngeren Vergangenheit nur lückenhaft vorhanden (vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom
November 2016 zu den Beschlüssen des OVG Schleswig – 3 LB 17/16 und 12 A 222/16 –). Das Auswärtige
Amt gibt sogar an, dass ihm keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten
Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme zu dem
Amtshilfeersuchen des OVG Schleswig vom 07.11.2016 – 3 LB 17/16 –). Das Fehlen von Referenzfällen lässt
vorliegend indes keinen Rückschluss auf eine fehlende Gefahrendichte zu (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil
vom 18.07.2012 – 3 L 147/12 –, juris, Rn. 84). Denn es ist darauf zurückzuführen, dass mit der
Verschärfung des inneren Konfliktes in Syrien in den Jahren 2011 und 2012 wegen verschiedener
Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge aus Syrien mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden. Die
Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer im Falle der Rückkehr drohenden Verfolgung, ihres Charakters und
ihrer Schwere muss im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren
Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber Personen, die in jüngerer Vergangenheit durch
nichteuropäische Staaten nach Syrien zurückgeführt wurden, und gegenüber Syrern im Inland erfolgen (vgl.
VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris, Rn. 43 m.w.N.).
19 Das U.S. Department of State führt in seinem jüngsten Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016 aus,
Personen, die erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, seien bei der Rückkehr in ihr
Heimatland Verfolgung ausgesetzt gewesen. Das Gesetz erlaube die Verfolgung jeder Person, die in einem
anderen Land um Asyl nachgesucht habe, um einer Bestrafung in Syrien zu entgehen. Die Regierung
inhaftiere regelmäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Verbindungen, die nach
Jahren oder sogar nach Jahrzehnten des selbstgewählten Exils versuchten, in das Land zurückzukehren (vgl.
United States Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor, Country Reports on
Human Rights Practices for 2015, Syria 2015 Human Rights Report, S. 34, online abrufbar unter
http://www.state.gov/documents/organization/253159.pdf).
20 Das Immigration and Refugee Board of Canada stellt in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar
2016 fest, Personen, die erfolglos im Ausland um Asyl nachgesucht hätten, würden im Falle ihrer Rückkehr
regelmäßig inhaftiert. Nach Aussage des geschäftsführenden Direktors des „Zentrums für Gerechtigkeit und
Verantwortlichkeit“ in Syrien werde ein abgewiesener Asylbewerber mit Sicherheit festgenommen und
gefangengesetzt. Er/sie würde der Verbreitung falscher Nachrichten im Ausland beschuldigt und
dementsprechend als Regierungsgegner und Oppositioneller behandelt. Er/sie wäre der Folter ausgesetzt, da
die Behörden versuchten, auf diese Art Informationen über andere Asylbewerber oder über die Opposition
zu erlangen. Der abgewiesene Asylbewerber laufe Gefahr, zu Tode gefoltert oder aber gefoltert und
anschließend zu einer sehr langen Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Der Aussage eines Senior Research
Fellows des Kings College in London zufolge könne ein abgewiesener Asylbewerber verhaftet und gefangen
gesetzt werden, weil er im Ausland einen Asylantrag gestellt habe; dies sei jedoch „kein Automatismus“
(15.12.2015). Die eher traditionell eingestellten syrischen Amtsträger betrachteten alle Asylsuchenden als
Regierungsgegner. In einem solchen Fall könnten diese verhaftet, gefangen gesetzt und gefoltert werden;
indes gebe es auch Amtsträger, die anerkennen würden, dass einige der Betreffenden möglicherweise aus
wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen hätten. Die Zuspitzung des Bürgerkrieges habe jedoch die
Schwelle für Verdächtigungen erheblich gesenkt (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada [IRB], Syria:
Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border
crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who
have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014 –
December 2015], online abrufbar unter http://www.irb.gc.ca/Eng/ResRec/RirRdi/Pages/index.aspx?
doc=456353&pls=1).
21 Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der
Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrem Bericht vom 11. August 2016 das Vorliegen
zehntausendfacher Fälle des „Verschwindenlassens“ von Personen seitens der syrischen Regierung
festgestellt. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals aufgetaucht sei und bis heute anhalte, würden
Syrer durch Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwänden dann aus der öffentlichen
Wahrnehmung. Angehörige hätten regelmäßig über verschwundene Verwandte zwischen 2011 und 2015
berichtet. Zu den Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfänden, gehörten
Checkpoints, Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen. Während des gesamten Bestehens der
Kommission hätten Syrer über ihre panische Angst davor erzählt, mitgenommen zu werden und „zu
verschwinden“, wenn sie Checkpoints der Regierung passieren müssen. Einige Frauen hätten darauf
hingewiesen, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin liege, dass ihre erwachsenen Söhne
zunehmend dem Risiko ausgesetzt gewesen seien, an den Checkpoints festgehalten zu werden. Der
massenhafte und systematische Charakter der Todesfälle in staatlich kontrollierten Haftanstalten habe sich
zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einem Kriegsverbrechen entwickelt. Der Gebrauch von
Folter durch Regierungskräfte, besonders durch die Geheimdienste und die Sicherheitskräfte, sei von der
Kommission seit der Aufnahme ihrer Tätigkeit festgestellt worden. Es sei sehr selten, dass eine Person
gefunden werde, die von der Regierung verhaftet wurde und nicht massive Folter erlitten habe. Die
Mehrzahl der Opfer seien Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Dennoch würden Regierungsbeamte auch
Frauen und Kinder, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, foltern (Human Rights Council, 33rd session,
Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, 11. August
2016, Rn. 70, 75, 77 f., 93 f., online abrufbar unter https://documents-dds-
ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/178/60/PDF/G1617860.pdf?OpenElement).
22 Dem Auswärtigen Amt war es aufgrund der Situation vor Ort nicht möglich, seine Lageberichte über die
asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien, wie üblich, in regelmäßigen
Zeitabständen zu aktualisieren. Der letzte reguläre Bericht datiert vom 27. September 2010 und damit
noch vor den Unruhen im Frühjahr 2011. Seitdem hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen Ad-hoc-
Bericht veröffentlicht. In diesem aus dem Februar 2012 stammenden Bericht wird ausgeführt, Polizei,
Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wendeten systematisch Gewalt an. Die Gefahr körperlicher und
seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch
Familienangehörige Zugang hätten, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht
oppositioneller Umtriebe stünden, unterlägen ebenfalls einem hohen Folterrisiko. Seit März 2011 seien
zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu
Todesfällen infolge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gebe es indes nicht. Fälle von
„Verschwindenlassen“ hätten seit März 2011 erheblich zugenommen. Menschenrechtsverteidiger schätzen,
dass ca. 20.000 Menschen verschwunden seien (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und
abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S.10 f.).
23 Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt in ihrem jüngsten Bericht zu den
Haftbedingungen in Syrien im Jahr 2016 an, ihre Untersuchungen seit Beginn der Krise im Jahr 2011
deuteten darauf hin, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könne, Gefahr laufe,
willkürlich verhaftet zu werden, „gewaltsam zu verschwinden“ und Folter oder anderer Misshandlung
ausgesetzt zu sein und möglicherweise zu sterben. Fast jeder der von ihnen befragten 65 früheren Häftlinge
habe beschrieben, dass er Zeuge einer Art „Willkommensparty“ geworden sei. Dieser Begriff werde benutzt,
um die brutalen Schläge zu bezeichnen, die die Häftlinge bei ihrer Ankunft in einer Haftanstalt oder bei einer
Verlegung in eine andere Haftanstalt von den Wächtern erhielten. Jeder befragte Häftling habe berichtetet,
dass er während mindestens eines Verhörs gefoltert oder anderweitig misshandelt worden sei, meist bei
nahezu jedem Verhör. Alle ehemaligen Häftlinge berichteten von langer Einzelhaft, extremer Überbelegung
der Zellen, dem fehlenden Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung, sanitären Einrichtungen,
Nahrungsmitteln und Wasser, extremen Temperaturen, und dass sie Stunden oder Tage in Zellen mit
Leichen von verstorbenen Häftlingen hätten verbringen müssen. Nach vorsichtigen Schätzungen seien
mindestens 17.723 Menschen zwischen dem 15. März 2011 und dem 31. Dezember 2015 in der Haft
getötet worden (vgl. Amnesty International, It breaks the human: Torture, disease and death in Syria's
Prisons, Index: MDE 24/4508/2016, S. 16, 22, 24, 35).
24 Laut einem Bericht der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (Dezember 2015) sahen alle von
Human Rights Watch befragten ehemaligen Häftlinge zahlreiche Gefangene in ihren Zellen sterben und
beschrieben Zustände in ihren Zellen, die das Recht der Inhaftierten auf Leben und körperliche
Unversehrtheit verletzten. In einigen Fällen habe eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw.
Folter stattgefunden. Nach der Auskunft von Gefangenen und einem desertierten Gefängniswärter hätten
die Behörden von diesen Bedingungen gewusst und sie durch die Verweigerung von angemessener
Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Hygieneartikeln, ausreichender Durchlüftung und ausreichend Raum
verstärkt (vgl. Human Rights Watch, If the Dead Could Speak – Mass Deaths and Torture in Syria’s
Detention Facilities, Dezember 2015, S. 60).
25 Inhaftierungen nach freiem Ermessen der Sicherheitsbehörden werden dadurch gefördert, dass der syrische
Staat mit dem „Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 regelt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf
oder gar eine förmliche Anklage für eine Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist (vgl. Amnesty International,
It breaks the human: Torture, disease and death in Syria's Prisons, Index: MDE 24/4508/2016, 2016, S. 14,
Fn. 23). Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung
der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste vom Regime eine carte blanche erhalten hätten (vgl.
Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtlich relevante Lage in der Arabischen
Republik Syrien vom 17. Februar 2012, S.10 f.).
26 Die Gesamtschau dieser Erkenntnisse führt im vorliegenden Fall im Wege einer Prognoseentscheidung zu
der Überzeugung des Gerichts, dass aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen bei
einer (unterstellten) Rückkehr nach Syrien die Furcht vor Inhaftierung und einer anschließenden
Behandlung durch syrische Staatsorgane hervorgerufen wird, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so
gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt (vgl. §
3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Es besteht für ihn die berechtigte Furcht vor einer Verhaftung und anschließender
schwerer Folter, vor einem „Verschwindenlassen“ und vor Haftbedingungen, die für sich genommen eine
schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG
darstellen. Angesichts der Schwere der berechtigt zu befürchtenden Verfolgungshandlungen, die bis hin zu
Tötungen durch Folter oder als Folge der Haftbedingungen reichen, ändert sich an dieser Prognose einer
„realen Möglichkeit“ einer Verfolgung nichts dadurch, dass es auch Amtsträger gibt, die es anerkennen, dass
einige Rückkehrer Syrien aus rein wirtschaftlichen Gründen verlassen haben und diese in der Folge keiner
Behandlung unterziehen, die deren grundlegende Menschenrechte schwerwiegend verletzt.
27 Gerade weil seit Erlass des europaweiten Abschiebestopps im April 2011 keine abgelehnten syrischen
Flüchtlinge aus Europa mehr in ihre Heimat abgeschoben wurden, ist davon auszugehen, dass das Interesse
des Assad-Regimes an einer Verhaftung von aus Deutschland abgeschobenen Rückkehrern bei ihrer Ankunft
am internationalen Flughafen in Damaskus besonders groß ist. Da abgelehnte Asylbewerber nur über diesen
Flughafen, der unverändert unter der Kontrolle der Regierungskräfte steht, rückgeführt werden können (VG
Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris, Rn. 84; VG Würzburg, Urteil vom 08.09.2016 – W 2
K 16.30639 –, juris, Rn. 23), vermag auch die von dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht
eingeholte Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom November 2016, wonach hinsichtlich der Frage, ob
vor der Ausreise nicht verfolgte syrische Staatsbürger Verfolgung durch den syrischen Staat ausgesetzt sind,
der Ort des Wiedereintritts entscheidend sei, nichts an der Prognoseentscheidung des Gerichts zu ändern.
Aus diesem Grund folgt das Gericht auch nicht der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, nach welcher
maßgeblich auf die derzeitige Situation im jeweiligen Herkunftsort des Klägers abzustellen sei (VG
Magdeburg, Urteile vom 12.10., 13.10., 14.10. und 18.10.2016 – 9 A 403/16, 9 A 175/16, 9 A 545/16 und 9
A 444/16 –; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 – 2 A 5162/16 –; jeweils juris).
28 Das Gericht zweifelt auch nicht daran, dass der syrischen Regierung zum maßgeblichen Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung für die Verhaftung und Misshandlung bis hin zu Folter und Tötung der Rückkehrer
aus Deutschland ausreichende Mittel zur Verfügung stehen. Das Gericht schließt sich insoweit den
Ausführungen des VG Trier in seinem Urteil vom 07. Oktober 2016 (– 1 K 5093/16.TR –, juris, Rn. 80 ff.) an
und nimmt auf diese vollumfänglich Bezug:
29 „Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Regierung in absehbarer Zukunft
militärisch oder wirtschaftlich kollabieren könnte. Vielmehr hat sich die militärische Situation seit Frühjahr
2013 aufgrund des zunächst kleineren zu verteidigenden Gebiets, dem Ende der Massendesertionen und
gestützt auf die Luftwaffe sowie massierte Artillerieeinsätze stabilisiert. Die Regierungstruppen konnten im
Wesentlichen ihre Stellungen halten und lokal begrenzte Erfolge erzielen. Im Mai 2013 trafen Milizen der
schiitischen Hisbollah in großer Zahl aus dem Libanon kommend in Syrien ein und schlossen sich den
Regierungstruppen an. Mit dieser Unterstützung gelang es den syrischen Streitkräften an mehreren Stellen,
die Rebellen zu schlagen und größere Gebiete, etwa die als Schlüsselstellung für den Rebellennachschub
wichtige Stadt Kusseir, zu erobern. Mitte August 2015 begann Russland mit dem Aufbau einer Basis in
Latakia, die es den Luftstreitkräften ermöglichen sollte, die Regierungstruppen zu unterstützen. Im
September 2015 begannen russische Kampfflugzeuge, Stellungen des Islamischen Staates, aber auch
anderer Oppositionsgruppen aus der Luft anzugreifen. Anfang des Jahres 2016 rückten regimetreue Kräfte
aus dem Iran, dem Libanon und aus Afghanistan unter dem Schutz russischer Luftangriffe in die Region
nördlich von Aleppo vor und vertrieben die dortigen Oppositionsgruppen. Die Stadt ist seit Sommer 2016
eingekesselt. Im September 2016 kam es zu massiven Luftangriffen gegen das Stadtzentrum, die von einer
Bodenoffensive gefolgt wurde (vgl. The New York Times vom 23. September 2016, 'Doomsday Today in
Aleppo': Assad and Russian Forces Bombard City, verfügbar unter http://www.ny-
times.com/2016/09/24/world/middleeast/aleppo-syria-airstrikes.html; Süddeutsche Zeitung vom 24.
September 2016, Massive Luftangriffe gegen Aleppo, verfügbar unter
http://www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikte-massive-luftangriffe-gegen-aleppo-dpa.urn-newsml-dpa-
com-20090101-160924-99-573005; Tagesschau vom 27. September 2016, Auf Luftangriffe folgt
Bodenoffensive, verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-aleppo-offensive-101.html,
letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016).
30 (b) Russische Streitkräfte unterstützen die Regierungstruppen weiterhin uneingeschränkt militärisch,
logistisch und mit Geheimdienstinformationen (vgl. The New York Times vom 30. September 2016, Russia
Fighting in Syriafor a Year, Still at Odds With US, verfügbar unter
http://www.nytimes.com/aponline/2016/09/30/us/ politics/ap-us-united-states-russia.html; Spiegel-Online
vom 1. Oktober 2016, Luftangriffe in Syrien - Krankenhaus in Aleppo bombadiert, verfügbar unter
http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krankhaus-in-aleppo-bombardiert-russland-schickt-flugzeuge-a-
1114858.html, letzter Aufruf jeweils: 7. Oktober 2016). Diese fortdauernde Unterstützung der syrischen
Regierung trotz ausgehandelter Waffenruhe hat auch zum Scheitern der Friedensgespräche geführt (vgl.
The New York Times, Tension With Russia Rises as U.S. Halts Syria Negotiations, verfügbar unter
http://www.nytimes.com/2016/10/04/world/middleeast/us-sus pends-talks-with-russia-on-syria.html, letzter
Aufruf: 7. Oktober 2016). Dieses Vorgehen beweist, dass offensichtlich jedenfalls ausreichende personelle
und wirtschaftliche Ressourcen vorhanden sein müssen, um neben militärischen Erfolgen zumindest die
überwiegende Zahl der Rückkehrer einer Befragung und Inhaftierung zu unterziehen, zumal für diese
Tätigkeiten auch die Rekrutierung oder Reaktivierung von Soldaten und Sicherheitskräften in Betracht
kommt, die – etwa aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands - nicht mehr zur Beteiligung an
aktiven Kampfhandlungen an der Front geeignet sind.“
31 Eine (unterstellte) Rückführung würde seitens der Bundesrepublik Deutschland jeweils in Abstimmung mit
den Behörden des syrischen Staates erfolgen, so dass diesen genau bekannt wäre, wann Rückkehrer am
Flughafen in Damaskus landen würden (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 08.09.2016 – W 2 K 16.30639 –,
juris, Rn. 23). Aufgrund der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise könnten Rückkehrer aus
Deutschland leicht identifiziert werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13
–, juris, Rn. 4). Eine Verhaftung direkt bei der Ankunft am Flughafen würde dann nur sehr geringe personelle
Mittel erfordern (VG des Saarlandes, Urteil vom 11.11.2016 – 3 K 583/16 –, juris, Rn. 28; VG Regensburg,
Urteil vom 06.07.2016 – RN 11 K 16.30889 –, juris, Rn. 31). Auf diese Art und Weise wäre es den syrischen
Behörden möglich, ihre „Ressourcen“ gezielt für die Rückkehrer aus Deutschland einzusetzen, an deren
Verhaftung aufgrund des jahrelangen Abschiebestopps ein besonders Interesse des Assad-Regimes
anzunehmen ist. Im Übrigen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die in Europa lebenden
Flüchtlinge etwa massenhaft gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen (vgl. VGH
Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris, Rn. 4; vgl. VG Trier, Urteil vom
07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris, Rn. 91).
32 Überdies ist festzustellen, dass selbst ein Rückgang der „Ressourcen“ im Ergebnis nichts an der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsmaßnahmen ändern würde, da gleichzeitig die Schwere des zu
befürchtenden Eingriffs zunehmen würde. Es ist davon auszugehen, dass dann die sich im rechtsfreien Raum
bewegenden und mit großer Routine agierenden Sicherheitskräfte (vgl. VG Meiningen, Urteil vom
01.07.2016 – 1 K 20205/16 Me –, n.v.; vgl. VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris, Rn.
91) auf einen Rückgang der Ressourcen mit noch größerer Brutalität reagieren würden. Nach den
historischen Erfahrungen mit im Untergang befindlichen totalitären Systemen sind diese in der Regel von
besonderer Unnachgiebigkeit und Brutalität geprägt (vgl. VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1 K 5093/16.TR
–, juris, Rn. 91). Dass gerade der syrische Staat nach diesem „Muster“ auf drohenden Machtverlust reagiert,
zeigt sich dadurch, dass seit April 2011 willkürliche Verhaftungen durch die Sicherheitskräfte, Fälle der
Isolationshaft und des „Verschwindenlassens“, sowie Folter oder anderweitige Misshandlung in Haft
zugenommen haben (vgl. Amnesty International, It breaks the human: Torture, disease and death in Syria's
Prisons, Index: MDE 24/4508/2016, 2016, S. 13 f.).
33 2. Die grundsätzlich allen aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerbern drohende Gefahr
der Inhaftierung und einer anschließenden menschenrechtswidrigen Behandlung durch syrische Behörden
im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG knüpft an deren – zumindest durch die Verfolger zugeschriebenen –
politischen Überzeugung und damit an ein Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an.
34 Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem Beschluss vom 29.10.2013 zu der Frage, ob
die Maßnahmen der syrischen Sicherheitskräfte bei Rückkehrern aus dem Ausland an ein asyl- bzw.
flüchtlingsrelevantes Merkmal anknüpfen, ausgeführt, es sei nicht ansatzweise ersichtlich, dass es ein
realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der Eingriffe die
bestehende Gerichtetheit indizieren könne. Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann
gerechtfertigt, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien
der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen
Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpfe, einer besonderen
Begründung bedürfte (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 –, juris, Rn. 6). Weiter
führt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in diesem Beschluss aus:
35 „Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner
Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf
befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer
potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es [… ]
jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies
gerade, dass die Sicherheitsorgane – wenn auch sicherlich völlig undifferenziert – pauschal eine Nähe, wenn
nicht gar eine Verbundenheit mit der Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine
regimefeindliche Haltung gerichtet sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es
nicht rechtfertigen würde, von einem bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung
oder Folter auszugehen, sondern nur dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante
gefahrerhöhende Merkmal festgestellt werden könnten [...]. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die
Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr“.
36 Das Gericht schließt sich diesen grundsätzlichen Ausführungen vollumfänglich an. Anhaltspunkte dafür, dass
die zu erwartende obligatorische Rückkehrerbefragung zur allgemeinen Informationsgewinnung über die
Exilszene und die damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einhergehenden Misshandlungen bis hin zu
Folter und Tötungen nunmehr ausschließlich stattfinden würden, um sadistische Machtphantasien der
Sicherheitsorgane zu befriedigen oder Geld zu erpressen, sind nicht ersichtlich. Aufgrund des immer länger
andauernden Abschiebestopps ist vielmehr von einem im Vergleich zum Jahr 2013 gesteigerten
Ausforschungsinteresse der syrischen Behörden über die Exilszene in Deutschland auszugehen.
37 Eine andere Einschätzung ist auch nicht deshalb geboten, weil auch dem syrischen Staat bekannt sein
dürfte, dass mittlerweile die übergroße Zahl der syrischen Asylbewerber vor den Gefahren des Bürgerkriegs
nach Westeuropa geflohen ist (a. A.: OVG NRW, Beschluss vom 06.10.2016 –14 A 1852/16.A –, juris, Rn.
18). Entscheidend für den Verdacht der Regimegegnerschaft sind zum einen die vermuteten Kontakte zur
syrischen Exilszene in Deutschland. Derartige Kontakte können nach wie vor bei allen aus Europa
zurückgekehrten Syrern bestehen, auch wenn sie ihr Heimatland in erster Linie aufgrund der
Bürgerkriegsauseinandersetzung verlassen haben (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 – A 11
S 2046/13 –, juris, Rn. 4; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –, juris, Rn. 49). Zum
anderen werden zurückkehrende Asylbewerber von den syrischen Sicherheitskräften generell beschuldigt,
Falschinformationen über Syrien im Ausland verbreitet zu haben und gegen das Regime eingestellt zu sein
(VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –, juris, Rn. 50).
38 Auch mit der Frage, ob die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge das „Abschöpfungsinteresse“ des syrischen
Staats abschwäche, hat sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg bereits in seinem Beschluss
vom 29.10.2013 auseinandergesetzt und hierzu ausgeführt, die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge spreche
„nicht im Ansatz“ dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem Auslandsaufenthalt
– insbesondere auch im westlichen Ausland – ehemals illegal ausgereister Syrer aus Sicht der syrischen
Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit Regimegegnern, die
derzeit auch aus Europa Verstärkung erhielten, nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres
Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 – A 11 S
2046/13 –, juris, Rn. 4). Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht aus den dort genannten Gründen
auch in Anbetracht der seither noch weiter gestiegenen Zahl der Flüchtlinge an. Die übereinstimmende
Erkenntnislage der deutschen Verfassungsschutzbehörden belegt das uneingeschränkt fortbestehende
Interesse der syrischen Regierung an der Erlangung von Kenntnissen über die bestehenden Strukturen der
Exilopposition sowie an deren perspektivischer Schwächung oder Zerschlagung (vgl. dazu VG Trier, Urteil
vom 07.10.2016 –1 K 5093/16.TR –, juris, Rn. 37, 69 ff. m.w.N.).
39 Gestützt wird die Einschätzung, dass die Maßnahmen der syrischen Sicherheitskräfte bei Rückkehrern aus
dem Ausland an die ihnen zugeschriebene regimekritische politische Überzeugung anknüpfen, durch die
gegenwärtige Erkenntnislage, wonach der Verdacht einer regimekritischen Haltung bei sich im Inland
aufhaltenden syrischen Staatsangehörigen von den syrischen Behörden sehr niederschwellig angenommen
wird.
40 Nach den „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien
fliehen“ (4. aktualisierte Fassung, November 2015) ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien
oftmals größeren Personengruppen – einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen
sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten – eine politische Meinung unterstellen, eine sich
verstärkende Besonderheit des Konflikts. So seien die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell
ausgewählt würden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen
Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der
Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten seien ganze
Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten
Konfliktpartei unterstellt werde, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten
und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen
Formen sexueller Gewalt und extra-legalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine
bestimmte politische Meinung habe, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstütze, basiere oft nur auf
wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer
Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer
Stammeszugehörigkeit (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen
Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, S. 12 ff.).
41 Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International führt in diesem Zusammenhang aus, für den
syrischen Staat genügten unter Folter erzwungene Anschuldigungen oder Anschuldigungen aus persönlicher
Rache oder finanziellen Erwägungen, um den Verdacht einer regimefeindlichen Haltung zu begründen (vgl.
Amnesty International, It breaks the human: Torture, disease and death in Syria's Prisons, Index: MDE
24/4508/2016, S. 16, 21).
42 Damit ist – unter Berücksichtigung der Intensität der den Rückkehrern drohenden Eingriffe bis hin zu
Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte, die die Gerichtetheit indiziert, und der aufgrund der
fehlenden Referenzfälle naturgemäß bestehenden Beweisnot der Betroffenen – auch gegenwärtig von der
Anknüpfung an eine potenzielle Gegnerschaft bei den mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
Verfolgungshandlungen i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG ausgesetzten Rückkehrern auszugehen. Dieses Ergebnis
entspricht der ganz überwiegenden aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. u. a. VG
Würzburg, Urteil vom 08.09.2016 – W 2 K 16.30639 –; VG Stuttgart, Urteil vom 22.09.2016 – A 9 K
5181/14 – n.v.; VG Schleswig, Urteil vom 06.10.2016 – 12 A 651/16 –; VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 – 1
K 5093/16.TR –; VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 – 8 K 2127/16.A –; VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 –
20 K 2890/16.A –; VG des Saarlandes, Urteil vom 11.11.2016 – 3 K 583/16 –; VG Oldenburg, Urteil vom
18.11.2016 – 2 A 5162/16 –; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 – 3 K 7501/16.A –; jeweils juris).
43 Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht nicht zur Verfügung. Selbst für den Fall, dass innerhalb eines
beschränkten Teils von Syrien keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor
Verfolgung nach § 3d AsylG für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland bestünde (vgl. Deutsches Orient-
Institut, Auskunft vom November 2016 zu den Beschlüssen des OVG Schleswig – 3 LB 17/16 und 12 A
222/16 –), könnte der Kläger aufgrund seines nur möglichen Wiedereintritts in Damaskus jedenfalls nicht
sicher in diesen Landesteil reisen, bevor er in die Hände der Sicherheitskräfte der Regierung fiele (§ 3e Abs.
1 Nr. 2 AsylG).
44 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).