Urteil des VG Hannover vom 14.04.2014

VG Hannover: legasthenie, lese, analphabetismus, gesundheit, rechtschreibschwäche, geistige behinderung, krankheit, syrien, besitz, eltern

1
2
Einbürgerungserleichterung aufgrund von § 10 Abs. 6
StAG bei Verdacht auf Legasthenie oder funktionalen
Analphabetismus (verneint)
1. Wie Analphabetismus stellt auch Legasthenie im Erwachsenenalter keine
Krankheit oder Behinderung im Sinne von § 10 Abs. 6 StAG dar, solange sie
nicht mit einer körperlichen oder seelischen Erkrankung einhergeht.
2. Ein Unvermögen, infolge einer Legasthenie oder eines Analphabetismus
im Zusammenhang mit einer körperlichen oder seelischen Erkrankung die
Sprachanforderungen des §10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG zu erfüllen, kann in
der Regel erst angenommen werden, wenn der Einbürgerungsbewerber
überhaupt versucht hat, mit angemessener Vorbereitungszeit die Prüfung
zum Zertifikat Deutsch zu bestehen und dabei angebotene
Prüfungserleichterungen in Anspruch genommen hat.
VG Hannover 10. Kammer, Urteil vom 14.04.2014, 10 A 4141/12
§ 10 Abs 1 S 1 Nr 7 RuStAG, § 10 Abs 1 S 1 Nr 6 RuStAG, § 10 Abs 6 RuStAG
Tenor
Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren
eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 v.H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden,
soweit nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu
vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt ihre Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Sie
wurde 1985 oder 1986 in Syrien geboren. Die Klägerin reiste am 29.
Dezember 1997 mit ihren Eltern in das Bundesgebiet ein. Seit dem 11. August
2004 war sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, die regelmäßig verlängert
wurde; seit 13. November 2008 ist sie im Besitz einer Niederlassungserlaubnis
gem. § 26 Abs. 3 AufenthG. Sie ist im Besitz eines Reiseausweises für
Flüchtlinge, der für alle Staaten außer Syrien gilt. In diesem Ausweis ist als
Geburtsort Shasim/Syrien und als Geburtstag der 19. Mai 1985 eingetragen.
Die Klägerin ist seit 31. Januar 2003 mit einem deutschen Staatsangehörigen
verheiratet. Bei der Eheschließung wurden ihre Abstammung, der Geburtsort
Shasim/Syrien und der Geburtstag 19. Mai 1985 durch Frau A. B. und Herrn C.
als ihre Eltern eidesstattlich versichert. Ob diese Identitätsdaten und die
Staatsangehörigkeit bzw. eine Staatenlosigkeit der Klägerin mit hinreichender
Gewissheit feststehen, ist zwischen den Beteiligten streitig. Die Klägerin hat
einen Auszug aus dem Ausländerregister der syrischen Provinz Al-Hassake
vorgelegt, in dem sie mit dem Geburtsdatum 10. Februar 1986 und dem
3
4
5
6
7
Geburtsort Markab als Tochter von D. und E. eingetragen ist. Nach einer
ebenfalls vorgelegten Identitätsbescheinigung eines Dorfvorstehers wurde sie
am 19. Mai 1985 in Shasim als Tochter von F. und G. geboren. Frau A. B. ist
im Besitz eines türkischen Passes und im Personenstandsregister der Stadt
Batman/Besiri, ………., eingetragen.
Von 1998 bis 2001 besuchte die Klägerin die Ausländerförderklasse an der
Hauptschule Springe, ohne einen Abschluss zu erzielen. Danach absolvierte
sie ein Berufsvorbereitungsjahr an den Berufsbildenden Schulen Burgdorf-
Lehrte. Der Lebensunterhalt der Klägerin ist gesichert; Verurteilungen oder
laufende Strafverfahren sind nicht bekannt.
Am 2. Juli 2007 beantragte die Klägerin bei der Beklagten ihre Einbürgerung
und legte eine nicht datierte Bescheinigung einer Sprachtherapeutin und
Legasthenietrainerin vor, wonach sie in dem Bereich optische Figur-Grund-
Differenzierung leichte und bei der auditiven Merkfähigkeit deutliche
Schwächen habe. Diese Defizite ließen wie auch die Fehler der Klägerin beim
Schreiben nach Diktat oder dem sinnerkennenden Lesen Rückschlüsse auf
eine Legasthenie zu. Die Kläger spreche ein nahezu akzentfreies,
grammatikalisch gutes Deutsch. Die Buchstaben des deutschen Alphabets
könne sie zu 90 v. H. benennen und erkennen. Es sei deutlich erkennbar,
dass in der Kindheit eine Legasthenie oder Lese- und Rechtschreibschwäche
vorgelegen habe, die nicht durch entsprechende Förderung abgebaut worden
sei.
Die Beklagte legte diese Bescheinigung ihrem ärztlichen Dienst zur
Beurteilung vor; der Fachbereich Gesundheit begutachtete die Klägerin am 7.
Februar 2008 und bestätigte den Verdacht auf Legasthenie. Die Klägerin
spreche fließend und fast akzentfrei deutsch und habe zwischenzeitlich auch
gelernt, ihre Adresse zu schreiben. Die einzelnen Buchstaben des Alphabets
seien ihr bekannt, sie könne diese aber nicht verknüpfen. Nach Rücksprache
mit dem amtsärztlichen Dienst der Beklagten forderte diese die Klägerin unter
dem 22. Juni 2009 auf, alle Schulzeugnisse aus der Haupt- und Berufsschule
und eine schriftliche Auflistung ihrer Deutschlehrer einzureichen. In der
Beurteilung der vorgelegten Zeugnisse stellte der Fachbereich Gesundheit
fest, dass eine Legasthenie in keinem Schulzeugnis erwähnt worden sei. Im
Schuljahr 1999 seien Probleme beim Lesen einzelner Vokabeln angemerkt
worden, im Schuljahr 2000 dagegen deutliche Fortschritte beim Fibellesen
erwähnt. Die Klägerin habe kurze Texte richtig abschreiben können. Im
nächsten Schuljahr sei erwähnt, dass die Klägerin beim Lesen von Texten und
bei der Rechtschreibung Fortschritte gemacht habe. Im Ergebnis hielt der
Fachbereich Gesundheit fest, dass die Klägerin aufgrund ihres noch jungen
Alters die Lese- und Rechtschreibschwäche durch spezielle Kurse lindern und
bei entsprechendem Fleiß dann auch die in einer Sprachprüfung geforderten
Leistungen erbringen könne.
Im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit und Identität der Klägerin teilte die
Beklagte der Klägerin unter dem 13. März 2008 mit, dass sie bei ihr von einem
Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit durch Abstammung von ihrer
Mutter ausgehe und aufgrund der widersprüchlichen Angaben in den
syrischen Personenstandsurkunden ihre Identität als ungeklärt erachte. Dabei
nahm die Beklagte Bezug auf ein Schreiben der Botschaft der Bundesrepublik
in Damaskus vom 14. Januar 2008, wonach die von der Klägerin vorgelegten
syrischen Personaldokumente widersprüchlich seien. Nach der Bescheinigung
des Dorfvorstehers sei die Klägerin nicht registrierte Ausländerin, zugleich
liege aber ein Registerauszug aus dem Ausländerregister vor. Auch die
Angaben zum Namen der Mutter und zum Geburtsdatum seien
unterschiedlich.
Auf Anfrage der Beklagten teilte das Türkische Generalkonsulat unter dem
5. September 2008 mit, eine Registrierung der Klägerin setze voraus, dass
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
zuvor die Eheschließung der Mutter der Klägerin (nach)registriert werde.
Daneben bezeichnete das Generalkonsulat die von der Klägerin für die
Nachregistrierung beizubringenden Unterlagen. Mit Schreiben vom 18.
September 2008 und vom 10. November 2008 forderte die Beklagte die
Klägerin sodann auf, das Nachregistrierungsverfahren bei den türkischen
Behörden einzuleiten und darüber Nachweis zu erbringen.
Unter dem 15. Dezember 2008 hörte die Beklagte die Klägerin zu der
beabsichtigten Ablehnung ihres Einbürgerungsantrags an. Die Klägerin ließ
daraufhin mitteilen, sie habe das Nachregistrierungsverfahren eingeleitet.
Derzeit werde der Antrag ihrer Mutter auf einen neuen türkischen Pass
bearbeitet.
Mit Schreiben vom 7. September 2009 teilte das Generalkonsulat der Republik
Türkei der Klägerin mit, dass die Mutter der Klägerin als ledig registriert sei und
keine außerehelichen Kinder bekannt seien. Die Registrierung der Klägerin
setze deshalb voraus, dass die Klägerin eine Geburtsurkunde vorlege oder
zwei Zeugen aufbiete, die sie seit ihrer Geburt kennten, eine
Aufenthaltsbescheinigung und eine Meldebescheinigung vorlege und ihre
Mutter mit deren Personalausweis erscheine.
Wegen der sprachlichen Voraussetzungen stellte die Beklagte den
Einbürgerungsantrag mit Schreiben vom 26. Januar 2010 bis zum 31.
Dezember 2012 zurück, um der Klägerin Gelegenheit zu geben, ihre
schriftlichen Deutschkenntnisse zu verbessern.
Unter dem 4. Januar 2011 bat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten unter
Hinweis auf die Bescheinigung der Logopädin Frau I. um Wiederaufnahme
ihres Einbürgerungsantrags und rechtsmittelfähigen Bescheid. Sie sei
entgegen der Einschätzung der Beklagten nicht in der Lage, bis zum 31.
Januar 2012 nach Diktat zu schreiben oder sinnerkennend die deutsche
Schrift zu lesen. Sie habe mehrfach Kurse bei der Volkshochschule besucht
und anderweitig nach Möglichkeiten gesucht, Deutsch zu lesen und zu
schreiben. Das sei ihr jedoch schlechterdings nicht möglich.
Mit Schreiben vom 12. April 2011 hörte die Beklagte die Klägerin zur
beabsichtigten Ablehnung des Einbürgerungsantrags an und wies erneut
darauf hin, dass sie ihre Kenntnisse der deutschen Sprache durch ein
Sprachzeugnis auf dem Niveau B1 des gemeinsamen Europäischen
Referenzrahmens für Sprachen belegen müsse.
Weiterhin forderte sie die Klägerin auf, einen Nachweis über den Besitz oder
den Nichtbesitz der türkischen Staatsangehörigkeit, ein Sprachschulzeugnis
und einen Nachweis über den bestandenen Einbürgerungstest vorzulegen.
Nachdem die Klägerin sich nicht mehr geäußert hatte, lehnte die Beklagte den
Einbürgerungsantrag mit Bescheid vom 27. Juni 2011 ohne
Rechtsbehelfsbelehrung ab.
Am 29. Juni 2012 hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Juni 2011 zu
verpflichten, die Klägerin in den deutschen Staatsverband einzubürgern.
Sie hält die Versagung der Einbürgerung für rechtswidrig. Sie sei infolge einer
seelischen Behinderung außer Stande, die Anforderungen des § 10 Abs. 1
Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG zu erfüllen; aufgrund von § 10 Abs. 6 StAG sei von
diesen Anforderungen deshalb abzusehen. Die Beklagte habe die
Bescheinigung der Logopädin I. aus dem Jahr 2007 nicht hinreichend
gewürdigt. Sie - die Klägerin - habe viele Jahre Volkshochschulkurse besucht,
ohne dass sich ihre Lese- und Rechtschreibfähigkeiten zum Besseren
geändert hätten. Die theoretische Prüfung zur Erteilung der Fahrerlaubnis
18
19
20
21
22
23
24
habe sie aufgrund ihres Analphabetismus mit Audiounterstützung ablegen
dürfen.
Sie habe sich umfangreich um eine Registrierung in der Türkei bemüht. Ihre
Bemühungen seien aber erfolglos geblieben.
Mit Verfügung vom 6. Februar 2013 hat das Gericht der Klägerin aufgegeben,
binnen sechs Wochen die vorgetragenen Bemühungen um die Verbesserung
ihrer Sprachkenntnisse - insbesondere den jahrelangen Besuch zahlreicher
Volkshochschulkurse zur Besserung ihrer Lese- und Rechtschreibfähigkeiten -
nachzuweisen und unter Nachweis ihre Bemühungen um die Entlassung aus
der türkischen Staatsangehörigkeit darzulegen.
Die Klägerin hat daraufhin erklärt, die Nachregistrierung sei schwierig, wenn
nicht gar unmöglich. Die Vorlage eines neuen Passes der Mutter allein genüge
nicht. Hierzu hat die Klägerin ein Schreiben des Türkischen Generalkonsulats
vom 28. Februar 2013 vorgelegt, mit dem der Klägerin bestätigt wird, dass sie
im Familienregister ihrer Mutter nicht eingetragen sei. Falls sie einen
Nachregistrierungsantrag stelle, werde dieser an die zuständige Behörde in
der Türkei weitergeleitet. Für die Antragstellung seien unter anderem die
Aussagen der Eltern oder - wenn diese verstorben seien - ein
Feststellungsbeschluss eines türkischen Gerichts aufgrund eines DNS-Tests
erforderlich.
Weiter hat die Klägerin eine Bescheinigung der Volkshochschule der
Landeshauptstadt Hannover vom 9. August 2010 vorgelegt, mit der ihr die
Teilnahme an einem Kurs „Deutsch Lesen und Schreiben von Anfang an“ für
einige Monate ab dem 29. November 2004 bestätigt wird. Ergänzend führte die
Klägerin aus, der Kurs habe ihr nicht entscheidend weitergeholfen. Auch
weitere Kurse würden das nicht ändern. Die Klägerin habe auch an weiteren
Kursen zur Verbesserung der Lese- und Rechtschreibschwäche
teilgenommen, darüber habe sie aber keine Nachweise mehr.
Die Klägerin legte außerdem eine Bescheinigung ihrer Fahrschule vor, wonach
sie an einer Theorieprüfung mit Audiounterstützung teilgenommen habe, die
ihr mit der Begründung „Analphabetismus“ gewährt worden ist. Ebenso legt sie
eine Stellungnahme des Diplom-Pädagogen Herrn H. vor, wonach dieser den
Eindruck habe, die Klägerin habe mit Versagensängsten zu kämpfen. Der
bloße Gedanke an neuartige Worte löse unmittelbar sichtbare Blockaden aus.
Sie habe das Gefühl, ein dummer Mensch zu sein und leide mitunter an
Identitätsproblemen. Das Aufsuchen einer Psychologin zur Bewältigung dieser
Schwierigkeiten beschäme sie, sie fühle sich hierzu nicht in der Lage. Ein
Erwerb der deutschen Schriftsprache könne möglich sein. Inwieweit die
Klägerin dies unter Auslassung psychologischer oder psychotherapeutischer
Hilfe vermöge, sei fraglich. Es bedürfe eines längeren Zeitraums, der Klägerin
das Lesen und Schreiben soweit zu vermitteln, dass sie ohne Zuhilfenahme
Dritter im Alltag selbständig ihre künftigen Lese und Schreibkompetenzen
anzuwenden vermöge.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ihr Vorbringen dahingehend
ergänzt, dass sie zwischenzeitlich eine Freundin ins Vertrauen gezogen habe
und sich regelmäßig in einer Gruppe mit mehreren Frauen treffe, um ihre
Deutschkenntnisse zu verbessern.
Die Klägerin hat außerdem die Bereitschaft erklärt, sich aus der
Staatsangehörigkeit der Republik Türkei entlassen zu lassen. Hierzu hat sie
ein Schreiben eines türkischen Anwalts vorgelegt, der bekundet, dass er seit
September 2013 recherchiere und sich bemühe, einen Weg zu finden, die
Kinder von Frau A. B. in der Türkei zu registrieren. Diese seien türkische
Staatsangehörige. Weil alle Kinder volljährig seien, müssten sie eigene
Nachregistrierungsanträge stellen und dazu die Abstammung von Frau B.
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
nachweisen. Zuständig seien die türkischen Behörden am jeweiligen
Wohnsitz. Das Personenregisteramt vor Ort in der Türkei würde die Anträge
dagegen ablehnen.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Juni 2011 zu
verpflichten, ihr eine Einbürgerungszusicherung zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid. Die Klägerin habe keinen
Anspruch auf Einbürgerung, weil ihre staatsbürgerlichen Verhältnisse
ungeklärt seien und sie weder hinreichende Sprachkenntnisse nachgewiesen
noch einen Einbürgerungstest abgelegt habe. Von den Erfordernissen nach
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG sei nicht aufgrund von § 10 Abs. 6 StAG
abzusehen, weil die Klägerin auch bei einer Legasthenie oder einem
Analphabetismus nicht dauerhaft gehindert sei, die deutsche Schriftsprache zu
erlernen. Das ergebe sich aus allen vorgelegten Stellungnahmen.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens
der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen
Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war
Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den
Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. Dezember 2013 zur Entscheidung
übertragen hat.
I. Soweit die Klägerin den ursprünglich auf die Verpflichtung der Beklagten zur
Einbürgerung gerichteten Klagantrag auf die Verpflichtung der Beklagten zur
Erteilung einer Einbürgerungszusicherung beschränkt hat, liegt darin eine
stillschweigende Teilrücknahme der Klage. Das Verfahren ist insofern in
entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
II. Hinsichtlich des noch zur Entscheidung des Gerichts gestellten
Klagebegehrens ist die Klage zulässig, aber unbegründet.
Der Zulässigkeit der Klage steht insbesondere nicht entgegen, dass die Klage
mehr als einen Monat nach Zustellung des angefochtenen Bescheides
erhoben worden ist. Weil dem Bescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung
beigefügt war, hat eine Rechtsmittelfrist nicht zu laufen begonnen (§ 58 Abs. 1
VwGO). Die einjährige Ausschlussfrist (§ 58 Abs. 2 VwGO) hat die Klägerin
gewahrt.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Der ablehnende Bescheid der Beklagten ist
rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz
1 VwGO). Die Klägerin hat jedenfalls gegenwärtig, in dem für die Beurteilung
der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung, keinen Anspruch auf die Erteilung einer
Einbürgerungszusicherung. Ein solcher Anspruch ergibt sich weder aus § 10
des Staatsangehörigkeitsgesetzes - StAG - in der Fassung des Gesetzes vom
1. Juni 2012 (BGBl. I, S. 1224) noch aus § 9 oder aus § 8 StAG.
1. Die Erteilung einer Einbürgerungszusicherung steht grundsätzlich im
Ermessen der Behörde. Dieses Ermessen reduziert sich nur dann auf eine
37
38
39
40
41
Pflicht zur Erteilung einer Einbürgerungszusicherung, wenn bis auf die
Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit alle sonstigen Voraussetzungen
eines Einbürgerungsanspruchs vorliegen und die Durchsetzung eines
Einbürgerungsanspruchs dadurch ermöglicht oder doch wesentlich erleichtert
wird, dass der Einbürgerungsbewerber zum Zwecke der Aufgabe seiner
bisherigen Staatsangehörigkeit eine solche Zusicherung erhält.
Diese Voraussetzungen einer Ermessensreduzierung auf eine Pflicht zur
Erteilung einer Einbürgerungszusicherung und mit ihnen die Voraussetzungen
eines damit korrespondierenden Anspruchs der Klägerin auf deren Erteilung
sind nicht erfüllt, weil nicht alle Voraussetzungen - mit Ausnahme der Aufgabe
der bisherigen Staatsangehörigkeit - eines Einbürgerungsanspruchs nach § 10
Abs. 1 StAG vorliegen. Der Einbürgerung der Klägerin steht vielmehr
entgegen, dass ihre Identität ungeklärt ist (a.) und sie keine hinreichenden
Kenntnisse der deutschen Sprache und der Rechts- und
Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland
nachgewiesen hat (b.) und von der letzteren Voraussetzung auch nicht aus
Krankheitsgründen abzusehen ist (c.).
a. Zwingende Voraussetzung einer Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG
und damit auch des Anspruchs auf Erteilung einer Einbürgerungszusicherung
ist, dass die Identität des Einbürgerungsbewerbers geklärt ist und feststeht.
Zwar hat dieses Erfordernis im Wortlaut des § 10 Abs. 1 StAG keine
ausdrückliche Erwähnung gefunden. Die Klärung offener Identitätsfragen ist
jedoch notwendige Voraussetzung und unverzichtbarer Bestandteil der
Prüfung der in §§ 10 und 11 StAG genannten Einbürgerungsvoraussetzungen
und Ausschlussgründe (vgl. eingehend BVerwG, Urteil vom 1.9.2011 -
BVerwG 5 C 27.10; BVerwGE 140, 311-319; juris Rn. 11). Dies gilt auch für
Einbürgerungsbewerber, die - wie die Klägerin - im Besitz eines
Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 GFK sind. Den bei anerkannten
Flüchtlingen typischerweise bestehenden Beweisschwierigkeiten in Bezug auf
ihre Identität kann nur durch Erleichterungen bei der Beweisführung und durch
deren Berücksichtigung bei der Mitwirkungspflicht, nicht aber durch einen
generellen Verzicht auf die Identitätsprüfung Rechnung getragen werden (vgl.
BVerwG - a. a. O. -, juris Rn. 16).
An der Identität der Klägerin bestehen Zweifel, weil sie zwei Urkunden mit
widersprüchlichen Angaben über Ihre Identität vorgelegt hat. Nach der nicht
datierten Bescheinigung des Dorfvorstehers des Dorfes Tabaria ist die
Klägerin am 19. Mai 1985 als Tochter von F. und G. in Markab/Syrien geboren
worden. Nach einem Auszug aus dem Ausländerregister der Provinz Al-
Hassake in Syrien ist die Klägerin am 10. Februar 1986 als Tochter von D. und
E. in Marakab/Syrien geboren worden. Auch wenn sich dieser Widerspruch
womöglich nie vollständig wird aufklären lassen und einiges dafür spricht, dass
der Eintrag im Ausländerregister eher Richtigkeit für sich beanspruchen kann
als die Bescheinigung eines Dorfvorstehers, bestehen deshalb Restzweifel an
der Identität der Klägerin, zumal die von ihr angegebenen Identitätsdaten
durch keine der vorgelegten Bescheinigungen allein bestätigt werden.
Vielmehr benennt sie ihre Eltern wie in dem Registerauszug angegeben und
ihr Geburtsdatum entsprechend der Bescheinigung des Dorfvorstehers.
Diese Zweifel werden auch durch die eidesstattliche Versicherung vom 6.
Dezember 2002 von C. und A. B. nicht ausgeräumt, die die Klägerin im
Rahmen ihrer Eheschließung vorgelegt hat. Denn auch darin werden
Identitätsangaben - insbesondere zu den Eltern der Klägerin und zu ihrem
Geburtsdatum und -Ort gemacht, die nicht vollständig mit den jeweiligen
Angaben in dem vorgelegten Registerauszug und der Bescheinigung des
Dorfvorstehers vereinbar sind, sondern Daten beider Dokumente enthalten.
Nachdem allerdings Frau A. B. aufgrund ihrer Eintragung im
Personenstandsregister der Republik Türkei einen türkischen Pass erhalten
42
43
44
45
46
47
und ihre Identität damit hinreichend geklärt hat, ließe sich - im Hinblick auf die
bei Flüchtlingen erleichterte Beweisführung - hinreichende Klarheit über die
Identität der Klägerin dadurch erreichen, dass sie ihre Abstammung von Frau
A. B. durch ein genetisches Abstammungsgutachten belegt, in der Türkei
gerichtlich feststellen lässt und die (Nach-)Registrierung im türkischen
Personenstandsregister erwirkt. Die türkischen Behörden sind nach Auskunft
des Generalkonsulats der Republik Türkei auch erklärtermaßen bereit, unter
diesen Voraussetzungen einen Nachregistrierungsantrag der Klägerin zu
bearbeiten.
Einen solchen Abstammungstest hat die Klägerin jedoch nicht durchgeführt,
obwohl sie unter dem 8. März 2009 mitgeteilt hatte, bereits die Erteilung eines
türkischen Passes für Frau A. B. beantragt zu haben und nach dessen Erhalt
das Nachregistrierungsverfahren einzuleiten, und das Generalkonsulat unter
dem 28. Februar 2013 auf die Möglichkeit hingewiesen hatte, vermittels eines
Abstammungsgutachtens eine Nachregistrierung der Klägerin zu erreichen.
Nach Maßgabe der § 37 Abs. 1 StAG, § 82 Abs. 1 AufenthG hat die Klägerin
an der Klärung ihrer Identität auch im Gerichtsverfahren mitzuwirken. Ihr obliegt
auch die materielle Beweislast für ihre Identität als einer zwingenden
Einbürgerungsvoraussetzung. Die Klägerin hat nach Auffassung des Gerichts
weder die notwenigen Mitwirkungshandlungen vorgenommen noch
anderweitig Beweis über ihre Identität erbracht. Sie hat vielmehr auch in der
mündlichen Verhandlung nicht erkennen lassen, dass sie bereit wäre, ein
Abstammungsgutachten einzuholen, sondern um eine Entscheidung nach der
gegenwärtigen Sachlage gebeten. Sowohl hinsichtlich der Kosten als auch
hinsichtlich der damit verbundenen Belastung ist auch nicht ersichtlich, dass
die Vorlage eines Abstammungsgutachtens eine unzumutbare
Mitwirkungshandlung darstellen würde. Dass die Klägerin statt dessen einen
Rechtsanwalt in der Türkei beauftragt hat, der keine Erkenntnisse mitgeteilt
hat, die nicht schon aus vorliegenden Auskünften der türkischen Behörden
bekannt wären, widerlegt nicht die Notwendigkeit der aufgeführten
Mitwirkungshandlungen und vermag diese Mitwirkungshandlungen auch nicht
zu ersetzen.
b. Darüber hinaus setzt ein Anspruch auf (Erteilung einer) Einbürgerung
(szusicherung) gem. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG voraus, dass die
Klägerin über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und
Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der
Lebensverhältnisse in Deutschland verfügt.
Die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 6 liegen vor, wenn der
Einbürgerungsbewerber die Anforderungen der Sprachprüfung auf dem
Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen
in mündlicher und schriftlicher Form erfüllt. Die Voraussetzungen des Absatzes
1 Satz 1 Nr. 7 sind in der Regel durch einen erfolgreichen Einbürgerungstest
nachgewiesen. Keinen dieser Nachweise hat die Klägerin erbracht.
c. Die Klägerin kann auch - die Entscheidung insofern selbständig tragend -
nicht die Erleichterung nach § 10 Abs. 6 StAG für sich in Anspruch nehmen,
wonach von den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 StAG
abgesehen wird, wenn der Einbürgerungsbewerber sie wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder wegen einer
Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllen kann.
aa. Soweit die Klägerin geltend macht, dass sie an einer Lese- und
Rechtsschreibschwäche oder einer Lese- und Rechtschreibstörung leide, hat
das Gericht erhebliche Zweifel, ob diese Beeinträchtigungen tatsächlich
vorliegen. Eine Lese- und Rechtschreibschwäche als Teilleistungsstörung wird
in der undatierten Bescheinigung der Logopädin Frau I. und in den
Stellungnahmen der Amtsärztin Frau Dr. J. zwar angesprochen; diese
48
49
50
51
Stellungnahmen sind aber inhaltlich nicht hinreichend belastbar, um die
komplexe Diagnostik einer Legasthenie oder Lese- und
Rechtschreibschwäche zu leisten. Grundsätzlich muss sich aus einem
ärztlichen Gutachten nachvollziehbar mindestens ergeben, auf welcher
Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit
im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann
und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob
die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde
bestätigt werden. Des Weiteren soll das Attest Aufschluss über die Schwere
der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen
Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben (vgl. BVerwG,
Beschluss vom 26.7.2012 - BVerwG 10 B 21.12 -, juris Rn. 7). An die
Diagnostik einer umschriebenen Teilleistungsstörung sind insofern keine
geringeren inhaltlichen Anforderungen zu stellen.
So ist bei erkennbaren (schulischen) Defiziten eine umschriebene
Teilleistungsstörung auf dem Gebiet des Lesens und Schreibens von anderen
Ursachen, wie Beeinträchtigungen der audiovisuellen Wahrnehmung,
Intelligenzdefiziten und (letztlich auch) ungenügendem Unterricht
abzugrenzen. Gerade im Hinblick auf die Biographie der Klägerin drängt sich
die Möglichkeit auf, dass ihre Defizite im Schriftdeutsch auch andere Ursachen
haben könnten als eine umschriebene Teilleistungsstörung der Klägerin. Denn
sie ist erst im Alter von elf oder zwölf Jahren in das Bundesgebiet eingereist
und im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren erstmals und nur für die Dauer
von drei Jahren (zzgl. einem Berufsvorbereitungsjahr) an einer Regelschule
auf Deutsch beschult worden. Soweit die vorgelegten Zeugnisse - im Fach
Mathematik - Rückschluss auf das Leistungsniveau der von der Klägerin
besuchten Ausländerförderklasse erlauben, bewegt sich dieses im zweiten
Jahr des Schulbesuchs auf dem Kenntnisstand der Grundschulklasse zwei.
Auf diese Umstände gehen aber weder die Logopädin Frau I. noch die
Amtsärztin Frau Dr. J. oder Herr Dipl.-Päd. H. in ihren Beurteilungen ein. Frau I.
schildert lediglich, dass die Klägerin gegenwärtig Defizite zeige, die „deutlich“
auf eine Legasthenie oder LRS hinwiesen - ohne dabei näher zwischen
Legasthenie und der leichteren Lese-Rechtschreibschwäche zu differenzieren.
Ob bei einem lediglich dreijährigen Schulbesuch auf Grundschulniveau und
zwischenzeitlichem Abstand von zehn Jahren überhaupt noch diagnostisch
zwischen einer Teilleistungsstörung im Kindesalter und anderen Ursachen
unterschieden werden kann, hält das Gericht für durchaus zweifelhaft; die
vorgelegten Stellungnahmen leisten diese Differentialdiagnose zumindest
nicht. Ebenso wenig äußert sich die Stellungnahme von Frau I. zum Verlauf
etwaiger Fördermaßnahmen und zu konkreten therapeutischen Ansätzen.
Auch dass die Klägerin 2004 einen Alphabetisierungskurs der
Volkshochschule begonnen hat, hat in die Beurteilung keinen Eingang
gefunden.
Ähnliches gilt für die Beurteilung durch die Amtsärztin Frau Dr. J., die immerhin
feststellt, dass in keinem Schulzeugnis ein Verdacht auf eine Legasthenie
erwähnt worden ist, im Übrigen aber ohne eigene erkennbare Exploration die
ihrerseits defizitäre Bescheinigung der Logopädin zugrunde legt.
Auch die Bescheinigung von Herrn Dipl.-Päd. H. beschränkt sich auf die
Auswertung der Angaben der Klägerin im Anamnesegespräch, ohne eigene
Befunde zu erheben oder auch nur die Schulzeugnisse oder bisher erfolgte
Förderversuche zu würdigen. Diese Bescheinigung beschreibt auch keine
Teilleistungsschwäche - eine Legasthenie ist darin mit keinem Wort erwähnt -,
sondern attestiert defizitäre Lese- und Schreibkompetenzen und damit
vielmehr einen funktionalen Analphabetismus (den im Übrigen auch der TÜV
Nord in der Entscheidung über die Zulassung der Klägerin zur theoretischen
Fahrerlaubnisprüfung mit Audiounterstützung zugrunde gelegt hat).
Ein (funktioneller) Analphabetismus bezeichnet kulturell, bildungs- oder
52
53
54
psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen und/oder Schreiben bis hin
zu völligem Unvermögen. Er ist als solcher keine Krankheit oder Behinderung
im Sinne des § 10 Abs. 6 StAG. Hierfür müssten die unzureichenden
Sprachkenntnisse ihre wesentlichen Ursachen in einer Krankheit oder einer
Behinderung haben, die auch einer Überwindung dieses Zustandes
entgegensteht. Dies ist bei dem hier vorliegenden (funktionalen)
Analphabetismus nicht ohne weiteres ersichtlich. Analphabetismus hat zwar
vielfältige Ursachen, die auch mit der Sozialisation oder der geistigen
Entwicklung eines Menschen zusammenhängen können. Er kann auch durch
eine Behinderung, vor allem eine geistige Behinderung oder längerfristige oder
chronische Krankheit verursacht oder mit dem als Lernbehinderung
bezeichneten Komplex verbunden sein. Ein nicht behebbares Schicksal ist er -
auch für erwachsene Menschen - indes nicht. Zu einer Behinderung wird
Analphabetismus auch nicht durch die sozialen Folgen, die er für die Teilhabe
am Leben in der Gemeinschaft haben kann (vgl. BVerwG, Urteil vom
27.5.2010 – BVerwG 5 C 8.09 –, juris Rn. 20).
bb. Die Klägerin hat auch nicht zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass
sie aufgrund einer Legasthenie, einer Lese- und Rechtschreibschwäche oder
aufgrund ihres funktionalen Analphabetismus an einer seelischen Krankheit
leidet. Eine Störung der seelischen Gesundheit liegt nicht bereits dann vor,
wenn ein Logopäde oder Pädagoge das (frühere) Vorliegen einer
umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten wie z.B. einer
Lese- und Rechtschreibstörung - oder einen funktionalen Analphabetismus -
attestiert hat. Zumindest im Zusammenhang mit schulischen
Teilleistungsstörungen ist eine Abweichung von der für das Lebensalter
typischen Gesundheit vielmehr nur zu bejahen, wenn zusätzlich zu der
Teilleistungsstörung eine seelische Störung vorliegt (sog. sekundäre
Neurotisierung; vgl. mit ausführlicher Begründung u.a. Urteil der 3. Kammer
des erkennenden Gerichts vom 20.5.2008, 3 A 3648/07, m.w.N., JAmt 2009,
S. 385 ff). Entsprechendes gilt nach der vorstehend zitierten Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts für den Analphabetismus (vgl. BVerwG, Urteil
vom 27.5.2010 – a. a. O. –, Rn. 20.
Auf eine solche Neurotisierung deutet in Ansätzen die von der Klägerin
vorgelegte Bescheinigung von Herrn Dipl.-Päd. H. hin. Diese Stellungnahme
lässt aber auch insofern nicht erkennen, auf welcher Grundlage sie ergangen
ist und erfüllt unter keinem Aspekt die inhaltlichen Mindestanforderungen an
ein fachärztliches Gutachten. Das Vorbringen der Klägerin in der mündlichen
Verhandlung, dass sie erfolglos mehrere Unterrichtsstunden bei Herrn H.
genommen habe, findet in dessen Stellungnahme, die sich ausschließlich auf
das Anamnesegespräch bezieht, keine Grundlage. Im Übrigen drängt es sich
zumindest nicht auf, dass Herr H. als Diplom-Pädagoge eine hinreichende
Qualifikation besitzt, um eine seelische Störung zu erkennen und gesichert zu
diagnostizieren. Die Diagnostik psychischer Störungen setzt üblicherweise ein
Studium der Psychologie oder der Medizin mit dem Erwerb einer ärztlichen
Approbation und der Weiterbildung als Facharzt voraus.
cc. Sodann setzt § 10 Abs. 6 StAG voraus, dass die Klägerin tatsächlich außer
Stande ist, die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 5 und 6 StAG zu
erfüllen. Das kann nach Auffassung des Gerichts nur dann mit hinreichender
Sicherheit festgestellt werden, wenn sie - ggf. mit einer angemessenen
Vorbereitungszeit, wie sie auch andere Einbürgerungsbewerber für diese
Nachweise aufbringen - wenigstens einmal erfolglos versucht hat, diese
Voraussetzungen zu erbringen. Soweit die Klägerin geltend macht, an einer
Legasthenie zu leiden, hätte sie dazu nach den Durchführungsbestimmungen
des Goethe-Instituts für die Prüfung zum Zertifikat Deutsch
Prüfungserleichterungen für Prüfungsteilnehmende mit spezifischem Bedarf in
Anspruch nehmen können. Danach kann für Teilnehmende mit Lese- und /
oder Rechtschreibschwäche die Prüfungszeit entsprechend der Angabe im
55
56
57
58
59
60
ärztlichen Attest um 25 v. H. bis 100 v. H. verlängert werden.
Entsprechende Versuche hat die Klägerin aber gar nicht unternommen,
sondern macht lediglich geltend, dass alle Versuche von vornherein
aussichtlos wären. Dass sie in den vergangenen zehn Jahren substantielle
Versuche unternommen hat, ihre Lese- und Schreibfertigkeiten zu verbessern,
hat sie nicht substantiiert geltend gemacht. Sie hat lediglich eine Bestätigung
der Volkshochschule Hannover vorgelegt, wonach sie im Jahr 2004 - drei
Jahre vor dem Einbürgerungsverfahren mit den dort eingehend erörterten
Sprachanforderungen - für einige Monate an dem Kurs „Deutsch Lesen und
Schreiben von Anfang an“ teilgenommen hat. Dabei handelt es sich um einen
Alphabetisierungskurs; spezifische Lern- und Förderangebote für die von der
Klägerin angenommene Legasthenie hat sie offenbar nicht in Anspruch
genommen; den behaupteten „jahrelangen Besuch zahlreicher Kurse“ hat sie
weder näher bezeichnet noch in irgendeiner Weise belegt.
Soweit die Klägerin davon ausgeht und geltend macht, dass alle Versuche,
ihre Lese- und Schreibfertigkeiten zu verbessern, vergeblich seien, befindet sie
sich im Übrigen in offenem Widerspruch zu allen vorgelegten Begutachtungen,
die - bei allen festgestellten inhaltlichen Mängeln - einhellig feststellen, dass
eine etwaige Legasthenie oder ein funktionaler Analphabetismus bei der
Klägerin grundsätzlich durch entsprechende Förderung behebbare wäre.
dd. Schließlich erfordert § 10 Abs. 6 StAG nach seinem Wortlaut, dass das
Unvermögen, die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG zu
erfüllen, kausal auf der Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit beruht.
Selbst wenn zugunsten der Klägerin von einem funktionalen Analphabetismus
und ihn begleitend von einer Störung der seelischen Gesundheit
ausgegangen würde, stünde dies dem Einbürgerungsanspruch entgegen.
Denn die Klägerin hat gegenüber Herrn Dipl.-Päd. H. angegeben und in der
mündlichen Verhandlung bekräftigt, dass sie aus Scham davon absehe,
etwaige Störungen ihrer seelischen Gesundheit abklären und behandeln zu
lassen. Die Klägerin setzt damit einen eigenen Ursachenbeitrag dafür, dass sie
die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6 und 7 StAG gegenwärtig
nicht erfüllen kann.
Dass die Klägerin sich zwischenzeitlich einer Freundin anvertraut hat und auch
wieder Versuche unternimmt, sich die Schriftsprache anzueignen, erachtet das
Gericht als einen ersten, wichtigen Schritt, um die Haltung abzulegen und
sprachlichen Anforderungen einer Einbürgerung zu erarbeiten - dieser erste
Schritt erfüllt jedoch weder die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 6
und 7 StAG noch die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 10
Abs. 6 StAG.
2. Die Klägerin hat aus den vorstehenden Gründen auch keinen Anspruch auf
Einbürgerung nach § 9 StAG, denn auch dieser Anspruch setzt gem. § 9
Abs. 1 StAG neben der Klärung der Identität der Klägerin voraus, dass sie über
ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt oder den
Ausnahmegrund nach § 10 Abs. 6 StAG erfüllt.
3. Eine Einbürgerung aufgrund Ermessens gemäß § 8 StAG scheidet aus
denselben Gründen ebenfalls aus. Nach Nr. 8.1.2.1.1 der vorläufigen
Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum
Staatsangehörigkeitsrecht (VAH-BMI) und den Niedersächsischen
Durchführungsbestimmungen zum Staatsangehörigkeitsgesetz (VV-StAR)
setzt ein öffentliches Interesse an der Einbürgerung in der Regel voraus, dass
der Einbürgerungsbewerber die sprachlichen Anforderungen an eine
Anspruchseinbürgerung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG erfüllt, solange
nicht die Voraussetzungen des § 10 Abs. 6 StAG erfüllende Umstände
vorliegen. Gegen diese Vorgaben, die den zulässigen Ermessensspielraum (§
114 VwGO) einhalten und den Regelungen der Anspruchseinbürgerung
61
62
entsprechen, ist von Rechts wegen nichts einzuwenden. Gleiches gilt für die
Ermessenserwägung der Beklagten, eine Einbürgerung der Klägerin davon
abhängig zu machen, dass sie zumindest naheliegende und zumutbare
Schritte zur Klärung ihrer Identität vollzieht.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2, § 154 Abs. 1 VwGO. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
IV. Gründe, gemäß § 124 Abs. 2 Nrn. 3 und 4, § 124 a Abs. 1 VwGO die
Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Weder hat der Rechtsstreit über
den konkreten Einzelfall der Klägerin hinaus grundsätzliche Bedeutung, noch
weicht das Gericht von der obergerichtlichen Rechtsprechung ab.