Urteil des VG Hannover vom 10.12.2013

VG Hannover: amnesty international, syrien, grobes verschulden, flüchtlingseigenschaft, familie, gewalt, heimat, untersuchungskommission, asylverfahren, regierung

1
2
3
4
5
6
Wiederaufgreifen des Asylverfahrens in Syrien
1. Die Sach- und Rechtslage hat sich im Hinblick auf die Lage in Syrien
spätestens zum 31. Dezember 2013 geändert.
2. Die Drei-Monats-Frist nach § 51 Abs. 3 AsylVfG in Bezug auf diesen
Wiederaufgreifensgrund beginnt ab diesem Zeitpunkt zu laufen.
VG Hannover 2. Kammer, Urteil vom 10.12.2013, 2 A 4636/12
§ 71 Abs 3 AsylVfG, § 71 Abs 1 AsylVfG, § 51 Abs 3 VwVfG, § 51 Abs 1 VwVfG
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, insoweit ist das Urteil vorläufig
vollstreckbar.
Tatbestand
Der im Jahre D. geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Er begehrt die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in
seiner Person.
Er beantragte am E. mit seiner Mutter und zwei Geschwistern bei angeblich
ungeklärter Staatsangehörigkeit Asyl in der Bunderepublik Deutschland. Der
Asylantrag wurde mit Bescheid vom F. abgelehnt. Die Familie wandte sich
hiergegen mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht G.). Mit Urteil vom H.
wies das Gericht die Klage ab. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der
Berufung wurde vom Niedersächsischen OVG am I. abgelehnt. Am J. stellte
die Familie einen Asylfolgeantrag. Dieser wurde von der Beklagten am K.
abgelehnt. Das Verwaltungsgericht Hannover (Az: L.) wies die hiergegen
erhobene Klage am M. ab.
Am N. stellte der Kläger erneut einen Asylfolgeantrag. Zur Begründung trug er
vor, er müsse aufgrund der veränderten Situation in Syrien bei einer Rückkehr
mit Übergriffen seitens der syrischen Sicherheitsorgane schon bei seiner
Einreise rechnen.
Mit Bescheid vom O. lehnte die Beklagte das Wiederaufgreifen des
Asylverfahrens ab. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 1
AufenthG seien nicht erfüllt. Sie bejahte aber das Wiederaufgreifen des
Verfahrens hinsichtlich subsidiären Schutzes und stellte für den Kläger unter
Abänderung des Bescheids vom F. ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2
AufenthG hinsichtlich Syriens fest. Weiterhin wurde die
Abschiebungsanordnung des Bescheids vom F. aufgehoben. Es sei
angesichts der derzeitigen Rückkehrprognose für syrische Staatsangehörige
vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG auszugehen.
Der Kläger hat am P. Klage erhoben und trägt zur Begründung vor:
Der Bescheid sei teilweise rechtswidrig. In seiner Person lägen die
Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60
Abs. 1 AufenthG vor. Denn es bestehe bei ihm nach derzeitigem Stand mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, nach einer Rückkehr nach Syrien
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
von Angehörigen der syrischen Ordnungsmacht gefoltert oder anderer
asylrelevanter Maßnahmen unterzogen zu werden. Nach ständiger
Auskunftslage würden zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien
zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den
Grund ihrer Abschiebung befragt und danach ggf. inhaftiert und gefoltert. Das
Regime in Syrien sehe auch diejenigen als seine Feinde an, die ihre
Ablehnung des Systems durch ihre vorherige Flucht in das Ausland öffentlich
geäußert hätten.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom
O. zu verpflichten, festzustellen, dass bei ihm die Voraussetzungen für
die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1
AufenthG hinsichtlich Syriens vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verteidigt ihre Verfügung.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese sind
Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen
Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG.
Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines
früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres
Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
bis 3 VwVfG vorliegen (§ 71 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylVfG). Nach § 51
Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die
Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu
entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach-
oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Ein
weiteres Asylverfahren ist hiernach dann durchzuführen, wenn aufgrund der
Änderung der Sach- oder Rechtslage eine andere Entscheidung möglich
erscheint (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Mai 2008 – A 10 S
3032/07 –, juris).
Gemäß § 51 Abs. 3 VwVfG ist der Antrag binnen einer Frist von drei Monaten
zu stellen, wobei die Frist gemäß § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG mit dem Tag
beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen
Kenntnis erhalten hat. Auch bei Dauersachverhalten ist grundsätzlich die
erstmalige Kenntnisnahme von den Umständen für den Fristbeginn
maßgeblich. Diese Frist kann nur dann erneut in Lauf gesetzt werden, wenn
der Dauersachverhalt einen Qualitätsumschlag erfährt. Das Erfordernis, die
Drei-Monats-Frist nach § 51 Abs. 3 VwVfG einzuhalten, gilt auch für sich
prozesshaft entwickelnde dauerhafte Sachverhalte sowie
Wiederaufgreifensgründe, die während des gerichtlichen Verfahrens auftreten
(vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 – 9 C 49/92 – BVerwGE 92, 278;
Funke-Kaiser, GK, AsylVfG, § 71, Rn. 142 und 226). Unbilligkeiten aufgrund
des Umstandes, dass bei sich prozesshaft entwickelnden dauerhaften
Sachverhalten der Zeitpunkt, zu welchem ein Qualitätssprung stattfindet bzw.
17
18
19
20
der Zeitpunkt, zu welchem der Sachverhalt Asylerheblichkeit erreicht, nur
schwer feststellbar ist, lassen sich dadurch vermeiden, dass für die
Gewährung subsidiären Abschiebungsschutzes ein Wiederaufgreifen bei
Versäumung auch nach Ermessen möglich ist. Eine Nichtanwendung der Frist
im Rahmen des AsylVfG auf Sachverhalte, bei denen die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft begehrt wird, würde jedoch dem eindeutigen
gesetzgeberischen Willen widersprechen (vgl. sinngemäß BVerwG Urteil vom
20. Oktober 2004 - 1 C 15/03 -, juris).
Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG ist grundsätzlich für
jeden selbständigen Wiederaufgreifensgrund eigenständig zu prüfen (vgl.
BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 – 9 C 49/92 – BVerwGE 92, 278; Funke-
Kaiser, a.a.O., Rn. 139). Voraussetzung für die fristgerechte Geltendmachung
eines Wiederaufgreifensgrundes ist darüber hinaus, dass innerhalb der Drei-
Monats-Frist substantiiert und schlüssig, gegebenenfalls unter Darlegung von
Beweismitteln sowohl die geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe als
auch die Einhaltung der Frist dargelegt werden (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rn.
224 ff.). Zudem ist der Antrag gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn
der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das
Wiederaufgreifen in den früheren Verfahren, insbesondere dem Rechtsbehelf,
geltend zu machen.
Zwar hat sich die Sachlage für syrische Staatsangehörige, die nach langem
Auslandsaufenthalt und Asylantragstellung in Europa in ihr Heimatland
zurückkehren seit dem rechtsbeständigem Abschluss des vorangegangenem
Asylfolgeverfahrens geändert (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Der Kläger hat jedoch
diese Änderung nicht innerhalb der Drei-Monatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG
geltend gemacht.
Unter der Änderung der Sachlage fallen sämtliche tatsächliche Vorgänge, die
eine Änderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts zur Folge haben.
Die politische Situation in Syrien seit dem Frühjahr 2011 stellt grundsätzlich
eine solche geänderte Sachlage dar. Die Sachlage hat sich spätestens mit
Ablauf des Kalenderjahres 2011 derart verfestigt, dass seitdem kein
Qualitätsumschlag mehr erfolgt ist und die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3
VwVfG durch nachfolgende Ereignisse nicht erneut zu laufen begonnen hat.
Seit dem verschärften Auftreten des Konflikts zwischen dem Regime Assad
und seinen Gegnern zu Beginn des Jahres 2011 häufen sich die Berichte,
dass die syrische Regierung gegenüber Rückkehrern nach Syrien, die vorher
illegal ausgereist sind und einen Asylantrag im Ausland gestellt haben,
misstrauisch geworden ist. So wird diese Personengruppe grundsätzlich
verdächtigt, eine Gegnerin des Systems Assad zu sein. Das Auswärtige Amt
schilderte in seinen Auskünften vom 1. und 2. Februar 2011, dass eine aus
Deutschland abgeschobene Familie festgenommen wurde. Die Organisation
Kurdwatch berichtete am 29. März 2011, dass ein aus Dänemark
Abgeschobener gefoltert wurde. Auch am 29. April 2011 sei laut Kurdwatch ein
aus Deutschland Abgeschobener festgenommen worden. In dem Urteil des
OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (3 L 147/12 -, juris) sind zahlreiche
weitere Fälle aus dem Jahr 2011 dokumentiert, in dem die syrische
Ordnungsmacht in ähnlicher Weise mit dieser Personengruppe umgegangen
ist.
Diese Entwicklung verlief parallel zu der politischen Eskalation in Syrien. Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schilderte Mitte 2011, dass
sich die Übergriffe gegen Regimegegner stark gehäuft hätten. So wird
hinsichtlich des Vorgehens der syrischen Sicherheitskräfte gegen
Demonstranten berichtet: „Noch nie haben wir solchen Horror gesehen“ (vgl.
Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 3. Juni 2011, „Warum hasst du
unsere Kinder?“). Seit dem Ausbruch der Proteste wurden allein bis Mitte 2011
10.000 Menschen verhaftet (vgl. Artikel in der Welt vom 14. Juni 2011, „Sie
können uns umbringen, aber nicht stoppen“; Artikel in Die Tageszeitung vom
21
22
23
18. Juli 2011, „In der Gewalt des syrischen Regimes“). Einen ersten größeren
Überblick über die Lage in Syrien gab Amnesty International in seinem Bericht
vom Juli 2011 (vgl. Bericht vom Juli 2011, Crackdown in Syria: Terror in Tell
Kalakh). Der Bericht schließt damit, dass seit dem Beginn der Proteste im März
2011 die Zahl an Folterungen, Verhaftungen und Tötungen von
Regimegegnern stark zugenommen habe (vgl. Bericht vom Juli 2011, a.a.O.,
S. 19). In der Folgezeit konnte Amnesty International - insoweit neue -
Erkenntnisse über 88 dokumentierte Todesfälle in der Haft gewinnen (vgl.
Bericht vom August 2011, Deadly Detention - Death in Custody). Auch gegen
im Ausland lebende Oppositionelle ging die Regierung Assad immer
verstärkter vor, indem die Exilsyrer bedroht wurden und ihre noch in der
Heimat lebenden Verwandten gefoltert wurden, sog. Sippenhaft (vgl. Amnesty
International, Bericht vom Oktober 2011, The Long Reach of the Mukhabaraat:
Violence and Harassment against Syrians abroad and their relatives back
home). Deshalb sah sich der Präsident des Sicherheitsrates der Vereinigten
Nationen bereits am 3. August 2011 veranlasst, die syrischen Behörden zur
Achtung der Menschenrechte aufzufordern und erinnerte sie an ihre
Verpflichtung das Völkerrecht zu achten (Protokoll der 6598. Sitzung des
Sicherheitsrates).
Einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Eskalationslage im
Jahr 2011 konnte eine unter der Schirmherrschaft der UN stehende
Untersuchungskommission in seinem Bericht von Ende November 2011
geben (vgl. Unabhängige Internationale Untersuchungskommision für Syrien,
Bericht vom 23. November 2011, Menschenrechtslage - Exekutionen - Folter -
Verhaftungen - Sippenhaft - Gewalt - Kinderrechte). Human Rights Watch hat
einen ähnlichen Bericht wenige Wochen später veröffentlicht (vgl. Human
Rights Watch, Bericht vom Dezember 2011, By All Means Necessary). Die
letztgenannten beiden Berichte belegen, dass sich seit dem Beginn der
Unruhen im März 2011 die Menschenrechtsverletzungen des Regimes Assad
immer weiter gesteigert haben, aber in den letzten Monaten des Jahres keine
qualitative Änderung der Situation mehr feststellbar gewesen ist. Der
Maßnahmenkatalog des Regimes Assad gegen Demonstranten, Inhaftierte,
Rückkehrer, Exilsyrer und ihre in Syrien lebenden Familien hat sich im Lauf
des Jahres 2011 abschließend gebildet und sozusagen „verfestigt“. Seitdem
sind lediglich Unterschiede quantitativer Art in den einzelnen Monaten
ausmachbar. Dies hat sich auch nach dem Jahreswechsel nicht geändert.
Damit ist bei großzügiger Betrachtung spätestens zum Ende des Jahres 2011
von einer gefestigten Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1
VwVfG auszugehen. Dieser von der Kammer gewählte Zeitpunkt trägt auch
dem Umstand Rechnung, dass zum Jahresende 2011 umfassende
Dokumentationen zur Lage in Syrien veröffentlicht wurden, allen voran der
Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für
Syrien.
Der Asylfolgeantrag des Klägers vom N. wahrt nicht die Drei-Monats-Frist des
§ 51 Abs. 3 VwVfG. Dem Kläger musste aufgrund der großen medialen
Präsenz die Lage in Syrien auch spätestens zum Jahresende 2011 bekannt
gewesen sein. Hinzu kommt, dass im Ausland lebende Syrer
erfahrungsgemäß mit Familie und Freunden in der Heimat im Austausch
stehen und oftmals frühzeitig Kenntnisse „aus erster Hand“ über die dortige
aktuelle politische Situation haben. Der Kläger hat zudem trotz Vorhalts in der
mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 2013 keine Tatsachen
vorgetragen, die es rechtfertigen könnten, in seinem Einzelfall von einem
anderen Beginn des Fristenlaufs auszugehen.
Der Kläger hat auch aus § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG keinen Anspruch
auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Asylverfahrens. Denn die
Verweisung des § 71 Abs. 1 und 3 AsylVfG auf lediglich § 51 Abs. 1 bis 3
VwVfG schließt die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung nach § 51 Abs.
24
25
5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG für Asylfolgeanträge aus (vgl. BVerGE 111,
77). Der Kläger hat daher nur einen gebundenen Anspruch auf
Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf subsidiären Schutz wegen
einer Ermessensreduktion auf Null (vgl. für die dogmatische Begründung:
BVerwG NVwZ 2000, 204). Diesem Anspruch ist das Bundesamt mit der
Feststellung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG
nachgekommen.
Daher hat der Kläger zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf die
Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz
1 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 S. 1 und 2 ZPO.