Urteil des VG Hannover vom 13.04.2011

VG Hannover: ausweisung, vollstreckung der strafe, öffentliche sicherheit, familie, eltern, aufenthaltserlaubnis, geschwister, eigene mittel, abschiebung, drohende gefahr

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Zwingende Ausweisung und
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
VG Stade 4. Kammer, Urteil vom 13.04.2011, 4 A 1413/09
§ 53 Nr 2 AufenthG, § 56 AufenthG, Art 8 Abs 2 MRK, Art 8 Abs 1 MRK
Tatbestand
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und
wendet sich gegen eine Ausweisungsverfügung des Beklagten. Gleichzeitig
begehrt er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Der Kläger reiste am 16. März 1988 gemeinsam mit seinen Eltern und sechs
Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo weitere drei
Kinder/Geschwister zur Welt kamen. Die Einreise der Familie erfolgte - aus
H./Libanon kommend - über den Flughafen I. (J.). Gegenüber der
Grenzschutzstelle wiesen sich die Eltern des Klägers durch türkische
Reisepässe, die nach dem Ergebnis einer später durchgeführten
kriminaltechnischen Untersuchung weder gefälscht noch verfälscht waren, als
K. B. (geb. 10.11.1960 in K./Türkei) und L. B. (geb. am 01.05.1954 in
M./Türkei) aus und beantragten für sich und ihre Kinder die Anerkennung als
Asylberechtigte. Der Kläger wurde dabei, wie im Reisepass seiner Mutter
angegeben, als A. B. (geb. 02.07.1986) geführt. Am 25. März 1988 sprachen
die Eltern des Klägers bei der Ausländerbehörde des Beklagten vor und
stellten einen weiteren Asylantrag, wobei sie nunmehr vortrugen, die
libanesischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit N. O. (geb.
01.12.1953 in H.) und P. O. (geb. 03.02.1953 in H.) zu sein. Für den Kläger
erfolgte die (zweite) Asylantragstellung unter dem Namen Q. O. (geb.
28.01.1986 in H.). Schließlich äußerten die Eltern des Klägers am 4. Juli 1988
auch noch in AB ein Asylbegehren, wobei sie erneut als Kurden aus dem
Libanon auftraten, sich aber nunmehr als L. S. und M. S. bezeichneten und
den Namen des Klägers mit R. S. angaben.
Den Asylantrag der Familie O. lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge durch Bescheid vom 9. September 1988 und den
der Familie B. durch Bescheid vom 27. Februar 1989 - jeweils - als
offensichtlich unbegründet ab. Eine Entscheidung über den Asylantrag der
Familie S. erging nicht mehr, weil sich im Januar 1989 die Personenidentität zu
der Familie O. herausgestellt hatte.
In der Folgezeit musste der Aufenthalt der Familie O. im Zuständigkeitsbereich
des Beklagten geduldet werden, weil dessen Bemühungen, die
Staatsangehörigkeit der Familie zu klären und für diese libanesische Pässe zu
erlangen, scheiterten. Am 21. Juli 1994 erhielten die Angehörigen der Familie
O. schließlich wegen der Unmöglichkeit ihrer Abschiebung befristete
Aufenthaltsbefugnisse nach dem seinerzeit maßgeblichen Aufenthaltsrecht
(heute: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5
Aufenthaltsgesetz - AufenthG -), die am 22. Juli 1996 um zwei Jahre verlängert
wurden. Nachdem im Zuge von Ermittlungen gegen türkische
Staatsangehörige, die sich als Kurden ungeklärter Staatsangehörigkeit aus
dem Libanon ausgegeben hatten, aufgrund der Fingerabdrücke der Mutter des
Klägers festgestellt worden war, dass zwischen den Familien B./O./S.
Personenidentität bestand, befristete der Beklagte durch sofort vollziehbaren
Bescheid vom 1. Juli 1997 die der Familie O. erteilten Aufenthaltsbefugnisse
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nachträglich auf den 31. Juli 1997. Rechtsmittel hiergegen blieben erfolglos.
Am 11. September 1997 stellten die Eltern des Klägers für sich und acht ihrer
Kinder einen Asylfolgeantrag, wobei sie sich auf eine ihnen im Libanon wegen
der sich dort zuspritzenden Lage drohende Verfolgung beriefen und bestritten,
die türkischen Staatsangehörigen mit dem Familiennamen B. zu sein. Im
Rahmen dieses Asylverfahrens wurde für den Vater des Klägers darüber
hinaus vorgetragen, dass sein richtiger Name nicht N. O., sondern K. S. sei.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte durch
Bescheid vom 8. Januar 1998 die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens
ab und erließ eine Abschiebungsandrohung in die Türkei. Die hiergegen
erhobene Klage (4 A 91/98) wurde durch Beschluss der erkennenden Kammer
vom 15. Februar 1999 wegen Nichtbetreibens eingestellt.
Während der Vater des Klägers aus der Abschiebehaft heraus am 7. Juli 1998
zwangsweise in die Türkei verbracht werden konnte, entzog sich der Kläger
der auch hinsichtlich der übrigen Familienmitglieder für diesen Tag geplanten
Abschiebung, indem er gemeinsam mit seiner Mutter und weiteren
Geschwistern untertauchte. Am 2. Dezember 1999 wurde der seinerzeit noch
minderjährige Kläger mit vier weiteren, ebenfalls minderjährigen Geschwistern
aufgrund des Dubliner Übereinkommens aus Schweden in die Bundesrepublik
Deutschland zurückgeführt. Ein weiterer Bruder des Klägers (T. B.) kehrte
anschließend aus Dänemark in das Bundesgebiet zurück. Da sich die Mutter
des Klägers in Schweden der Rückführung durch (erneutes) Untertauchen
entzogen hatte, wurden der Kläger und seine Geschwister bei einer in Verden
lebenden, verheirateten Schwester untergebracht. Diese teilte dem Beklagten
im November 2000 mit, dass der Kläger und seine fünf Geschwister nicht mehr
in Verden, sondern nunmehr wieder bei der Mutter lebten, deren Aufenthaltsort
ihr allerdings nicht bekannt sei.
Im Juni 2001 stellte sich heraus, dass die Mutter des Klägers und ihre sechs
Kinder in die Niederlande gegangen waren, wo sich seinerzeit auch der Vater
des Klägers als Asylbewerber aufhielt. Während der Vater des Klägers nach
Abschluss seines Asylverfahrens in die Türkei zurückkehren musste, wurden
seine Familienangehörigen am 25. März 2002 aufgrund des Dubliner
Übereinkommens von den Niederlanden in das Bundesgebiet überstellt und
nahmen erneut im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ihren Wohnsitz.
Nachdem es dem Beklagten gelungen war, über das Türkische
Generalkonsulat in U. für die Mutter des Klägers und ihre minderjährigen
Kinder Passersatzpapiere zu erlangen, scheiterte im Dezember 2002 ein
erneuter Abschiebungsversuch an erheblichen Widerstandshandlungen der
Familienangehörigen. Weitere Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung
konnten anschließend nicht mehr durchgeführt werden, weil der Mutter des
Klägers aufgrund einer psychischen Erkrankung mehrfach Reiseunfähigkeit
wegen akuter Suizidalität attestiert wurde. Seither wird der Aufenthalt des
Klägers im Bundesgebiet geduldet. Am 12. Dezember 2007 beantragte der
Kläger bei dem Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Der Kläger, der im Bundesgebiet weder einen Schul- noch einen
Ausbildungsabschluss erlangt und - wie auch seine Eltern - seit der Einreise
(und zumindest noch bis zum 10.04.2011) seinen Lebensunterhalt durch den
Bezug öffentlicher Leistungen bestritten hat, ist strafrechtlich/jugendrichterlich
mehrfach in Erscheinung getreten: Durch Urteil des Amtsgerichts Verden vom
24. März 2004 erhielt er wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis die Auflage, 20
Stunden gemeinnütziger Arbeit zu erbringen. Wegen Beleidigung wurde er
durch Urteil des Amtsgerichts Verden vom 11. April 2005 erneut zur
Erbringung von Arbeitsleistungen verurteilt. Am 20. Juli 2005 verhängte das
Jugendgericht wegen unerlaubten Veräußerns von Betäubungsmittel (Kokain)
einen Jugendarrest von zwei Freizeiten. Nachdem der Kläger am 26. Mai 2008
vorläufig festgenommen worden war und sich bis zum 28. November 2008 in
Untersuchungshaft befunden hatte, verurteilte ihn das Amtsgericht Verden am
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8. Januar 2009 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in 225
Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.
Nach vorheriger Anhörung wies der Beklagte den Kläger durch Bescheid vom
10. September 2009 auf unbefristete Zeit aus dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland aus und lehnte seinen Antrag vom 12. Dezember 2007 auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Gleichzeitig erläuterte er dem Kläger,
dass dieser aufgrund der rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrages zur
Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet sei, und kündigte ihm für den Fall,
dass er seiner Ausreiseverpflichtung nicht innerhalb eines Monats nach
Bekanntgabe dieses Bescheides nachkomme, den Vollzug der
Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 8. Januar 1998 an. Zur Begründung führte der
Beklagte unter anderem aus:
Aufgrund der seit dem 28. Mai 2009 rechtskräftigen Verurteilung zu einer
Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten lägen die Voraussetzungen
für eine Ausweisung nach § 53 Nr. 2 AufenthG vor. Danach werde ein
Ausländer ausgewiesen, wenn er wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem
Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens
zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung
ausgesetzt worden sei. Diese Tatbestandsvoraussetzung erfülle der Kläger, so
dass die Ausweisung zwingend zu verfügen sei. Ihm stehe kein erhöhter
Ausweisungsschutz zu, weil ein rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet
zumindest seit der letzten Überstellung aus den Niederlanden nicht vorgelegen
habe und auch heute nicht vorliege. Die Ausweisung sei auch bei Anwendung
der Bestimmungen des Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) zulässig, weil der Kläger - zumindest seit der Überstellung aus den
Niederlanden - durchgehend zur Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet
gewesen sei und sich seine Ausreiseverpflichtung nicht aus der
Ausweisungsverfügung, sondern aus der rechtskräftigen Ablehnung seines
Asylantrages ergebe. Die von dem Kläger im Rahmen der Anhörung
abgegebenen Erklärungen stünden dem Erlass der Ausweisungsverfügung
nicht entgegen. Der Umstand, dass er den Erlös aus den
Rauschgiftgeschäften zur Finanzierung seiner Drogenabhängigkeit gebraucht
habe, sei bereits bei der Bemessung der Strafe von dem Amtsgericht Verden
berücksichtigt worden und führe daher ausländerrechtlich zu keiner anderen
Bewertung. Die Absicht des Klägers, seine in Verden lebende Freundin V. W.
zu heiraten, stehe der Ausweisung ebenfalls nicht entgegen, weil sich auch
aus einer Eheschließung ein Aufenthaltsrecht nicht ergeben würde, weil seine
Freundin nur im Besitz eines befristeten humanitären Aufenthaltsrechts gemäß
§ 25 Abs. 5 AufenthG sei. Auch unter Berücksichtigung des langjährigen
Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet sei die Ausweisung gerechtfertigt,
weil er im Bundesgebiet über kein Aufenthaltsrecht verfüge und ihm auch trotz
des langjährigen Aufenthalts kein Aufenthaltstitel erteilt werden könne.
Insbesondere sei darauf zu verweisen, dass die Voraussetzungen für die
Erteilung eines Aufenthaltsrechts nach der gesetzlichen Altfallregelung des §
104a AufenthG von dem Kläger nicht erfüllt würden, weil zum einen bereits die
zeitlichen Vorgaben fehlten und er zum anderen aufgrund seines
strafrechtlichen Verhaltens von der Teilnahme an dieser Altfallregelung
ausgeschlossen sei. Aufgrund der verfügten Ausweisung sei der Antrag des
Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG
abzulehnen, weil einem Ausländer, der ausgewiesen worden sei, keine
Aufenthaltserlaubnis erteilt werden dürfe.
Gegen den ihn am 11. September 2009 zugestellten Bescheid hat der Kläger
am 12. Oktober 2009 (Montag) Klage erhoben und trägt zur Begründung im
Wesentlichen vor:
Er sei im Alter von zwei Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist
und hier im Familienverbund mit mehreren älteren und jüngeren Geschwistern
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aufgewachsen. Er sei regulär eingeschult worden und seine schulischen
Leistungen hätten sich zunächst auch sehr zufriedenstellend gestaltet. Durch
die zwei Ausreisen seiner Familie nach Schweden und in die Niederlande sei
seine Schulausbildung jedoch verzögert und unterbrochen worden, so dass er
im Ergebnis keinen Schulabschluss habe erhalten können, was sich auch
negativ auf die Erlangung einer Lehrstelle ausgewirkt habe. Unter
Berücksichtigung der Aufenthaltszeiten in Schweden und den Niederlanden
lebe er dennoch seit mehr als 20 Jahren im Bundesgebiet. Zu der Türkei habe
er weder kulturelle noch persönliche Verbindungen. Zwar sei sein Vater 1998
in die Türkei abgeschoben worden, zu diesem bestehe aber so gut wie kein
Kontakt. Er sei bei der Abschiebung seines Vaters 10 Jahre alt gewesen. Auch
vorher sei sein Vater wenig zu Hause gewesen, so dass eine vitale Vater-Kind-
Beziehung zu keiner Zeit habe aufgebaut werden können. Nach seiner
Kenntnis lebten keine weiteren Verwandten in der Türkei. Seine große Familie
wohne vielmehr vor allem in Niedersachsen und AB und es bestehe zu seinen
Angehörigen ein intensiver familiärer Kontakt. In der Türkei habe er überhaupt
keine Bekannten. Freunde, Sport- und ehemalige Schulkameraden habe er
naturgemäß in Verden. Er beabsichtige noch in diesem Jahr, seine langjährige
Freundin zu heiraten und später eine Familie zu gründen. Der Unterhalt der
Familie sei ohne Beanspruchung von Sozialleistungen sichergestellt. Aufgrund
seines Lebenslaufes sei er kulturell ein Deutscher und kein Türke. Er sei nicht
verantwortlich dafür, dass seine Eltern mit ihm und seinen Geschwistern 1988
in die Bundesrepublik Deutschland eingereist seien. Dies gelte auch für die
Erklärungen, die seine Eltern hier in seinem Namen abgegeben hätten.
Ebenso wenig könne er dafür verantwortlich gemacht werden, dass seine
Mutter in den 1990er Jahren entschieden habe, mit ihren Kindern zeitweise
nach Schweden und in die Niederlande zu reisen. Das ungeschickte
ausländerrechtliche Agieren der Familie in den achtziger und neunziger Jahren
sei eine Konsequenz aus ihrer damals fehlenden sprachlichen, kulturellen und
vor allem rechtlichen Kompetenz gewesen.
Der gesetzgeberische Grund der zwingenden Ausweisung nach § 53 Abs. 2
AufenthG bestehe in der Gefahrenabwehr. Erforderlich sei daher eine
drohende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Er sei in einer
Phase großer Depressionen von Personen seines Alters verführt worden,
Drogen zu konsumieren, und sei dann schnell tiefer in die Sucht hineingeraten.
Deshalb sei er auf Geheiß seiner Dealer gezwungen gewesen, selber Drogen
zu verkaufen, weil er auf andere Weise seine Schulden bei den Dealern, deren
Gefährlichkeit er gekannt habe, nicht mehr habe bezahlen können. Bereits in
dem Urteil vom 8. Januar 2009 sei festgestellt worden, dass er die ihm
vorgeworfenen Taten wegen und aufgrund seiner
Betäubungsmittelabhängigkeit begangen habe. Diese
Betäubungsmittelabhängigkeit sei daher auch der zentrale Punkt bei der
Beantwortung der Frage, ob eine Rückfall- oder Wiederholungsgefahr bei ihm
bestehe bzw. ob eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung von
ihm ausgehe. Im Ergebnis könne dies verneint werden. In der
Untersuchungshaft habe er einen sogenannten kalten Entzug durchlaufen und
habe seit dem 28. Mai 2008 bis heute keine Betäubungsmittel mehr
konsumiert. Seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 28.
November 2008 habe er regelmäßige Gruppen- und Einzeltherapiegespräche
bei der Drogenberatung der Diakonie Verden durchgeführt und werde
kurzfristig über einen stationären Drogentherapieplatz verfügen, so dass die
Voraussetzungen für eine Rückstellung der Strafvollstreckung nach § 35
Betäubungsmittelgesetz vorlägen. Hinzu komme, dass er durch die für ihn
vollkommen ungewohnte Haftsituation in sehr entscheidender Weise positiv
beeinflusst worden sei. Dafür, dass die Gefahr neuerlicher Straftaten durch ihn
nunmehr sehr klein sei, spreche auch der Umstand, dass er sich noch aus der
Haft heraus entschlossen habe, Aufklärungshilfe bei der Verfolgung fremder
Straftaten zu leisten. So habe er sehr maßgebliche Angaben zu Personen aus
der Drogenszene in Verden und Umgebung und darüber hinaus eine
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richtungweisende Zeugenaussage in dem Verfahren wegen Mordes an sieben
Vietnamesen in Sittensen gemacht.
Schließlich habe sich der ohnehin schlimme Krankheitszustand seiner Mutter,
mit der er sich neben weiteren Geschwistern die Wohnung teile, nochmals
verschlechtert. Seine Mutter sei auf seine Pflege einschließlich der
Unterstützung bei der Körperpflege angewiesen. Er übernehme praktisch alle
Haushaltstätigkeiten und das Einkaufen. Außerdem sorge er dafür, dass seine
jüngeren Geschwister morgens pünktlich aufstünden und ein vernünftiges
Schulbrot zu essen bekämen. Er koche, helfe bei den Hausaufgaben und
bringe seine Geschwister zu Bett.
Seit dem 11. April 2011 verfüge er über eine Arbeitsstelle.
Der Kläger beantragt,
die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 10. September 2009
aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm auf seinen Antrag
vom 12. Dezember 2007 einen Aufenthaltstitel zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er erwidert unter anderem:
Der Kläger erfülle aufgrund seiner Verurteilung wegen Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs
Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt worden sei, die
Voraussetzungen für eine zwingende Ausweisung nach § 53 Nr. 2 AufenthG.
Trotz seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet stehe ihm ein
besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG nicht zu, weil er die dort
genannten Voraussetzungen nicht erfülle. Insbesondere sei darauf zu
verweisen, dass er während seiner Aufenthalte im Bundesgebiet mit
Ausnahme des Zeitraumes von Juli 1994 bis Juli 1997 nicht im Besitz eines
Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland gewesen sei, wobei die
im Juli 1994 erteilte Aufenthaltsbefugnis von seiner Familie unter Angabe
falscher Personalien erschlichen worden sei.
Im Falle des Klägers komme aber auch unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes bezüglich der Ausweisung
von ausländischen Staatsangehörigen, die hier aufgewachsen seien, keine
andere Beurteilung in Betracht, weil diese eine Verwurzelung des Ausländers
im Bundesgebiet voraussetze. Eine solche Verwurzelung könne allerdings nur
angenommen werden, wenn sich der Ausländer rechtmäßig hier aufhalte und
mit der Erteilung eines Aufenthaltsrechts habe rechnen können. Dies sei im
Falle des Klägers nicht gegeben. Er sei durchgängig zur Ausreise verpflichtet
gewesen und habe sich aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, wenn auch auf
Veranlassung seiner Mutter, entzogen.
Der Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei gemäß §
11 Abs. 1 AufenthG abgelehnt worden. Es sei eine Ausweisung verfügt
worden und der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis. Hier käme allenfalls die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht, wenn festgestellt
werden könnte, dass dem Kläger eine Ausreise aus dem Bundesgebiet nicht
möglich sei. Dabei komme es nicht auf die Zumutbarkeit der Ausreise, sondern
auf deren tatsächliche Unmöglichkeit unter Berücksichtigung des Art. 6
Grundgesetz (GG) und des Art. 8 EMRK an. Eine solche tatsächliche
Unmöglichkeit könne unter anderem nur dann angenommen werden, wenn
aufgrund einer im Bundesgebiet erfolgten Integration eine Ausreise nicht
möglich wäre. Im Falle des Klägers sei die erforderliche Integration aber nicht
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erfolgt. Er sei während seines Aufenthalts wiederholt strafrechtlich in
Erscheinung getreten. Schließlich habe die Verurteilung zu einer Jugendstrafe
sogar zu seiner Ausweisung geführt. Auch eine wirtschaftliche Integration des
Klägers könne nicht festgestellt werden, weil er seinen Lebensunterhalt nach
wie vor durch den Bezug öffentlicher Leistungen bestreite. Im Übrigen habe er
sich wiederholt einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entzogen.
Schließlich habe seine Familie zu Beginn ihres Aufenthalts falsche
Personalien angegeben, um so ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik
Deutschland zu erhalten. Das Verhalten seiner Eltern müsse sich der Kläger
zurechnen lassen.
Der Kläger ist wegen seiner Drogenabhängigkeit bis zum 7. Juni 2010
stationär in der Reha-Klinik X. behandelt und regulär entlassen worden.
Anschließend ist er zu seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern in die
Wohnung C. in der Stadt D. (Y.) zurückgekehrt. Seit Januar 2011 befindet er
sich nach einer in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bescheinigung
vom 12. April 2011 in psychotherapeutischer Behandlung bei der Dipl.-
Psychologin Z.-AA in AB. Zu einer Vollstreckung der Jugendstrafe von zwei
Jahren und sechs Monaten ist es bisher nicht gekommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend
auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge
des Beklagten (Beiakten A bis C) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 10. September 2009 erweist sich als
rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten, wie es für
eine erfolgreiche Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 113 Abs. 1
Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche wäre. Der Beklagte hat den Kläger
zu Recht unbefristet aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (1.)
und die von ihm am 12. Dezember 2007 beantragte Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis abgelehnt (2.). Dazu im Einzelnen:
1. Für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung einer Ausweisungsverfügung ist
die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
maßgeblich. Dieser ursprünglich für die Überprüfung von Unionsbürgern und
assoziationsberechtigten türkischen Staatsanghörigen entwickelte Grundsatz
gilt nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und
asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007
(BGBl. I S. 1970) auch für alle Drittstaatenangehörigen, weil bei der Prüfung
der Verhältnismäßigkeit ihrer Ausweisung und der Gegenwärtigkeit der von
ihnen ausgehenden Gefahr auf eine möglichst aktuelle Tatsachengrundlage
abzustellen ist (vgl. u. a.: BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE
130, 20).
Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Klägers ist § 53 Nr. 2 Alt. 1
AufenthG. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt, weil
der Kläger wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem
Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens
zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung
ausgesetzt worden ist [vgl. Urt. d. AG D. - Strafgericht - v. 08.01.2009, 9a Ls
103 Js 30862/07 (33/08), rechtskräftig seit d. 28.05.2009].
Besonderen Ausweisungsschutz nach nationalem Recht (hier: § 56 AufenthG)
genießt der Kläger nicht. Er besitzt schon keinen der in § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr.
1 bis 3 AufenthG aufgeführten Aufenthaltstitel (Niederlassungserlaubnis,
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Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG oder Aufenthaltserlaubnis) und hält sich
auch bereits seit dem 1. August 1997 wegen der durch den Bescheid des
Beklagten vom 1. Juli 1997 erfolgten nachträglichen Befristung der ihm zuvor
am 21. Juli 1994 erteilten Aufenthaltsbefugnis nicht mehr rechtmäßig im
Bundesgebiet auf, so dass der Umstand seiner als Minderjähriger im Jahre
1988 erfolgten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland einen besonderen
Ausweisungsschutz nicht zu begründen vermag. Da er auch nicht mit einem
deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder
lebenspartnerschaftliche Lebensgemeinschaft lebt und auch nicht als
Asylberechtigter anerkannt worden ist oder die Rechtsstellung eines
ausländischen Flüchtlings genießt, finden die Regelungen des § 56 Abs. 1
Satz 1 Nr. 4 und 5 AufenthG ebenfalls keine Anwendung. Schließlich war der
am 2. Juli 1986 geborene Kläger bei Erlass der Ausweisungsverfügung vom
10. September 2009 bereits 23 Jahre alt, so dass schon aus diesem Grund die
Regelung des § 56 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu keiner für ihn günstigeren
Beurteilung führen kann. Darüber hinaus lässt sich für den Kläger, der die
türkische Staatsangehörigkeit besitzt, aber auch europarechtlich kein erhöhter
Ausweisungsschutz aus der Anwendbarkeit des Assoziationsratsbeschluss
Nr. 1/80 EWG-Türkei (ARB 1/80) herleiten. Er hat selbst - jedenfalls bis zum 10.
April 2011 - zu keinem Zeitpunkt dem regulären deutschen Arbeitsmarkt
angehört und auch sein Vater (bis zu dessen Abschiebung in die Türkei am
07.07.1998) und/oder seine Mutter sind niemals als türkische Arbeitnehmer(in)
im Bundesgebiet tätig gewesen. Der Kläger und seine Eltern haben während
ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland ihren Lebensunterhalt
ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten. Daher scheiden
Assoziationsrechte des Klägers aus Art. 6 und/oder 7 ARB 1/80 und damit ein
erhöhter europarechtlich begründetet Ausweisungsschutz ebenfalls aus.
Es verbleibt damit bei der zwingend zu verfügenden Ausweisung des Klägers.
Dem Beklagten kommt insoweit kein Ermessen zu und es besteht
grundsätzlich auch kein Raum für eine einzelfallbezogenen Abwägung.
Allenfalls in extremen, höchst seltenen Ausnahmefällen kann eine zwingende
Ausweisung dennoch unverhältnismäßig sein (vgl. Urt. d. VG Oldenburg v.
27.10.2010 - 11 A 2062/10 - sowie d. dazu ergangene Beschl. d. Nds. OVG v.
07.01.2011 - 11 LA 503/10 -, jeweils mit Nachweisen zur Rspr. d. BVerwG u.
weiterer Obergerichte). Eine solche außergewöhnliche Sonderkonstellation
vermag die Kammer im Falle des Klägers aber nicht festzustellen.
In der Person des Klägers liegen keine Gründe vor, die die Ausweisung im
Hinblick auf das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verbürgte Recht auf Achtung des Privat-
und Familienlebens als unverhältnismäßig erscheinen lassen und damit ein
Abweichen von der gesetzlichen Regelung des § 53 Nr. 2 AufenthG gebieten
würden.
Zwar ist der Kläger bereits im Alter von zwei Jahren in das Bundesgebiet
eingereist und hat hier seither - abgesehen von den Aufenthalten in Schweden
(ca. von Anfang/Mitte Juli 1998 bis zum 02.12.1999) und in den Niederlanden
(ca. von November 2000 bis zum 25.03.2002) - gelebt. Eine Verletzung des in
Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kommt
aber nur bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung
faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten
des Falles ein Leben in dem Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie
keinen Bezug (mehr) haben, schlechterdings nicht zuzumuten ist. Das ist aber
bei dem Kläger auch unter Berücksichtigung der im Bundesgebiet
bestehenden Bindungen aufgrund seines langjährigen Aufenthalts nicht der
Fall.
In diesem Zusammenhang kann zunächst schon nicht unberücksichtigt
bleiben, dass die Eltern des Klägers nach ihrer Einreise den Beklagten am 25.
März 1988 bewusst über ihre wahre Identität und Staatsangehörigkeit, die sie
nur wenige Tage vorher am 16. März 1988 noch gegenüber der
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Grenzschutzstelle des Flughafens I. (J.) unter Vorlage ihrer türkischen
Reisepässe offenbart hatten, täuschten und dass es ihnen nur durch diese
Täuschung gelang, sich als vermeintlich staatenlose Familie O. aus dem
Libanon nach dem Abschluss des unter diesem Namen geführten
Asylverfahrens (vgl. Bescheid d. Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge v. 09.09.1988) zunächst einen geduldeten
Aufenthalt und in der Zeit vom 21. Juli 1994 bis zum 31. Juli 1997 sogar eine
Aufenthaltsbefugnis zu "erschleichen". Darüber hinaus beruht der langjährige
Aufenthalt des Klägers aber auch entscheidend darauf, dass sich seine Mutter
gemeinsam mit ihren Kindern, nachdem das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge durch Bescheid vom 8. Januar 1998 die
Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt hatte und die von der
Familie gegen die in diesem Ablehnungsbescheid erlassene
Abschiebungsandrohung in die Türkei bei der erkennenden Kammer anhängig
gemachten Eilverfahren erfolglos geblieben waren (vgl. Beschl. v. 21.01.1998 -
4 B 98/98 -, v. 19.02. 1998 - 4 B 269/98 - und v. 08.07.1998 - 4 B 762/98 -),
einer Rückführung in die Türkei durch Untertauchen entzog, indem sie sich
zunächst nach Schweden und später in die Niederlande begab. Schließlich
blieb im Dezember 2002 ein weiterer Abschiebungsversuch des Beklagten
aufgrund von erheblichen Widerstandshandlungen einzelner
Familienangehöriger erfolglos.
Die Identitätstäuschung und das rechtsmissbräuchliche Verhalten seiner Eltern
bzw. seiner Mutter nach der am 7. Juli 1998 erfolgten Abschiebung des Vaters
in die Türkei muss sich der Kläger für die Zeit seiner Minderjährigkeit ohne
Weiteres zurechnen lassen (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2009 - 11 LB 136/07 -
). Hinzu kommt aber auch noch, dass er, nachdem er am 2. Juli 2004 volljährig
geworden war, selber ebenfalls nichts unternommen hat, um der vollziehbaren
Ausreiseverpflichtung aus dem Bundesamtsbescheid vom 8. Januar 1998
nachzukommen. Dies und die Tatsache, dass er mehrfach strafrechtlich in
Erscheinung getreten ist und zuletzt im Januar 2009 wegen eines
schwerwiegenden Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz
(Handeltreiben mit Kokain in 225 Fällen) zu einer Jugendstrafe von zwei
Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt werden musste,
belegen, dass er trotz seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht
bereit ist, die hier geltenden Rechtsnormen zu beachten, sondern vielmehr
eine erhebliche, bereits von seinen Eltern übernommene Neigung zur
Missachtung der deutschen Rechtsordnung hat. Von einer gelungenen
sozialen Integration des Klägers kann daher keine Rede. Zudem hat der
Kläger, obwohl er im Juli 2011 bereits 25 Jahre alt wird, keinen Schul- und
Ausbildungsabschluss erlangt und verfügte - jedenfalls bis wenige Tage vor
dem Termin zur mündlichen Verhandlung - weder über einen (sicheren)
Arbeitsplatz noch über ausreichende eigene Mittel zur Sicherung seines
Lebensunterhaltes, geschweige denn zur Sicherung des Lebensunterhaltes
für eine zukünftig zu gründenden Familie. Es kann daher auch eine
wirtschaftliche Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht festgestellt
werden.
Darüber hinaus führen aber auch weder die bereits bei Klagerhebung am 12.
Oktober 2009 bekundete Absicht des Klägers, "noch in diesem Jahr" seine
langjährige Freundin heiraten zu wollen, noch das geltend gemachte
Angewiesensein seiner pflegebedürftigen Mutter und seiner minderjährigen
Geschwister auf seine weitere Anwesenheit im Bundesgebiet zu der Annahme
der Unverhältnismäßigkeit der von dem Beklagten verfügten Ausweisung. Der
Umstand, dass der Kläger die angekündigte Heirat bis heute nicht in die Tat
umgesetzt hat, begründet bereits Zweifel an der Ernsthaftigkeit der
behaupteten Absicht. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang aber auch
noch, dass seine Freundin, die selbst Ausländerin ist, ebenfalls nicht über ein
auf Dauer gesichertes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland
verfügt, sondern aus humanitären Gründen zur Zeit von dem Beklagten
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lediglich befristete Aufenthaltserlaubnisse erhält. Vor diesem Hintergrund ist es
daher durchaus möglich und zumutbar, eine Ehe, wenn sie denn tatsächlich
beabsichtigt ist, (auch) in der Türkei zu führen. Soweit der Kläger die im
Zusammenhang mit seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern geltend
gemachten Pflege- und Betreuungsaufgaben tatsächlich wahrnehmen sollte,
ist bereits nicht zu erkennen, dass diese Aufgaben ausschließlich nur von ihm
übernommen werden können. Da in der Stadt Verden und in deren Umgebung
verschiedene weitere Angehörige der Großfamilie B./O./S. leben, ist die
Kammer davon überzeugt, dass bei einer Ausreise des Klägers sich diese
Familienangehörigen um seine Mutter und die Geschwister kümmern könnten
und auch kümmern würden. Belegt wird diese Annahme insbesondere
dadurch, dass sich der Kläger bis zum 7. Juni 2010 in einer stationären
Drogentherapie befunden hat, also während seines Aufenthaltes in der Reha-
Klinik X. die Pflege, Betreuung und Versorgung seiner Mutter und der
Geschwister auch anderweitig sichergestellt gewesen sein muss.
Dass dem Kläger ein Leben in der Türkei schlechterdings unzumutbar wäre, ist
ebenfalls nicht erkennbar. Bei einer Rückkehr in das Land seiner
Staatsangehörigkeit wird er sich der Hilfe und Unterstützung seines dort bereits
wieder seit vielen Jahren lebenden Vaters bedienen können. Gerade auch vor
dem Hintergrund, dass der Kläger nicht nur in der Bundesrepublik
Deutschland, sondern auch in Schweden und den Niederlanden mit für ihn
völlig fremden Verhältnissen zurecht gekommen ist, werden ihm diese
Erfahrungen durchaus zugute kommen und ihm ein Einleben in der Türkei
erleichtern. Hinzu kommt, dass er auch noch nicht in einem Alter ist, in dem es
ausgeschlossen erscheint, eine fremde Sprache (Türkisch) zu erlernen und
sich an eine andere Mentalität und Kultur zu gewöhnen. Hinsichtlich der
Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz werden ihm neben einer zu
erwartenden familiären Unterstützung sein Schulbesuch und seine
Deutschkenntnisse nützlich sein, weil diese es ihm ermöglichen können, in
den türkischen Tourismuszentren eine Beschäftigung, die sein Auskommen
sichert, zu finden.
Soweit in dem in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Attest der Dipl.-
Psychologin Z.-AA. vom 12. April 2011 dem Kläger Reiseunfähigkeit und
Suizidgefährdung bei einer drohenden Abschiebung bescheinigt werden, sind
dies Umstände, die vor dem tatsächlichen Vollzug der
Abschiebungsandrohung aus dem Bundesamtsbescheid vom 8. Januar 1998
von dem Beklagten zu prüfen sein werden, die aber eine
Ausweisungsverfügung nicht rechtswidrig machen können, weil es sich dabei
nur um ein vorübergehendes Abschiebungshindernis handeln würde, das
lediglich eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu
rechtfertigen vermag.
Nach alledem fehlen der Kammer ausreichende Anhaltspunkte sowohl für eine
außergewöhnlich gelungene Integration des Klägers im Bundesgebiet als
auch für eine Unzumutbarkeit der Rückkehr in die Türkei, die ausnahmsweise
die verfügte Abschiebung unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK auf als
unverhältnismäßig erscheinen lassen.
Soweit der Kläger vorträgt, dass der gesetzgeberische Grund der zwingenden
Ausweisung nach § 53 Nr. 2 AufenthG in der Gefahrenabwehr liege, bei ihm
aber eine Rückfall- oder Wiederholungsgefahr nicht bestehe bzw. von ihm
keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mehr) ausgehe, greift
dieser Einwand nicht durch. Ein Ausnahmefall von der Ist-Ausweisung kann
sich zwar auch aus einem extrem gemilderten öffentlichen
Ausweisungsinteresse ergeben, das heißt, es muss nicht nur spezial-, sondern
auch generalpräventiv eine Sondersituation zu Gunsten des Ausländers
festzustellen sein, wobei die Schwelle bei einer zwingenden Ausweisung
deutlich höher als ein bloßer, für einen Ausnahmefall nach § 56 Abs. 1 Satz 3
AufenthG ausreichender atypischer Geschehensverlauf liegt. Dass eine
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solche Sondersituation hier unter generalpräventiven Gesichtspunkten
gegeben sein könnte, ist für die Kammer schon nicht ansatzweise erkennbar.
Aber auch unter spezialpräventiven Gesichtpunkten lässt sich nicht feststellen,
dass bei dem Kläger eine Rückfall- oder Wiederholungsgefahr nahezu sicher
auszuschließen ist. Dabei ist einerseits zu berücksichtigen, dass der Kläger in
der Vergangenheit nicht nur durch die von ihm begangenen Straftaten,
sondern auch durch sein sonstiges Verhalten, wie bereits festgestellt,
nachdrücklich die Missachtung der deutschen Rechtsordnung zu erkennen
gegeben hat. Andererseits ist aber trotz der abgeschlossenen stationären
Drogentherapie und der seit Januar 2011 durchgeführten
psychotherapeutischen Behandlung nicht auszuschließen, dass er, wenn
auch nicht zur Finanzierung der eigenen Drogensucht, so doch wegen des
Fehlens eines über dem Sozialhilfeniveau liegenden eigenen Einkommens
erneut einschlägig in Erscheinung treten wird. Darüber hinaus hat er die
stationäre Drogentherapie auch erst im Juni 2010 beendet und befindet sich
seit Januar 2011 weiter in psychotherapeutischer Behandlung mit den Zielen
"Stabilisierung seines Zustandes in Abstinenz, Krankheitsverständnis,
Einsichten in der Biographie, Rückfallprophylaxe, Stärkung des
Selbstbewusstseins und Stabilisierung für den Arbeitmarkt" (vgl.
Psychologische Bescheinigung v. 12.04.2011), so dass hinreichend sichere
Feststellungen zu einem Leben des Klägers ohne Rauschgiftkonsum bzw.
ohne Rückfall in die Drogenabhängigkeit noch gar nicht getroffen werden
können. Hinsichtlich der Tatsache, dass der Kläger durch seine Angaben und
Aussagen an der Aufklärung von durch dritte Personen begangene Straftaten
mitgewirkt hat, ist dieser Sachverhalt - ebenso wie seine eigene
Drogenabhängigkeit und sein umfassendes Geständnis - bereits strafmildernd
in dem Urteil vom 8. Januar 2009 berücksichtigt worden, doch spielt es nicht
nur strafrechtlich, sondern auch ausweisungsrechtlich eine bedeutende Rolle,
dass er seine Verkaufsgeschäfte konsequent und zielgerichtet über einen sehr
langen Zeitraum (ca. März 2007 bis Mai 2008) mit festem Kundenstamm
ausgeführt hat, dass es sich bei Kokain um eine der härteren der dem
Betäubungsmittelgesetz unterfallenden Drogen handelt und dass er im
Zusammenhang mit Kokain bereits einmal strafrechtlich in Erscheinung
getreten ist (vgl. zum Vorstehenden: Urt. d. AG D. v. 08.01.2009, S. 6), so dass
letztlich eine Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren ohne Bewährung
verhängt werden musste.
Schließlich begegnet die Ausweisung des Klägers auch nicht deshalb
rechtlichen Bedenken, weil sie ohne Befristung verfügt worden ist. Angesichts
der Schwere des von ihm begangenen Rauschgiftdeliktes, der von ihm auch
weiter ausgehenden Gefährdung sowie der Bedeutung der betroffenen
Rechtsgüter war es hier auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit nicht geboten, die Ausweisung von vornherein zeitlich zu
befristen. Der Kläger muss sich daher darauf verweisen lassen, zu gegebener
Zeit nachträglich bei dem Beklagten eine Befristung der Wirkungen der
verfügten Ausweisung (Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Bundesgebiet,
Verbot der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) nach § 11 Abs. 1 Satz 3
AufenthG zu beantragen.
2. Der Erteilung der von dem Kläger begehrten Aufenthaltserlaubnis steht
gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bereits die gegen ihn rechtmäßig verfügte
Ausweisung entgegen, so dass ihm selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen
eines Anspruchs nach dem AufenthG ein Aufenthaltstitel nicht erteilt werden
darf. Im Übrigen fehlen der Kammer aber auch jegliche Anhaltspunkte dafür,
dass im Falle des Klägers überhaupt ein Erteilungsanspruch bestehen könnte.