Urteil des VG Hannover vom 19.05.2014

VG Hannover: räumung, polizei, körperliche unversehrtheit, aufschiebende wirkung, öffentliche sicherheit, versammlungsfreiheit, gegendemonstration, zugang, verfügung, aufzug

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Versammlungsrecht - Feststellung der
Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen
VG Hannover 10. Kammer, Urteil vom 19.05.2014, 10 A 6312/13
§ 8 Abs 2 S 3 VersammlG ND, § 8 Abs 1 VersammlG ND, § 10 Abs 3 VersammlG ND
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit
versammlungsbezogener Maßnahmen der polizeilichen Einsatzkräfte des
Beklagten bei einer Versammlung am 3. August 2013 in Bad Nenndorf, die er
unter dem Motto „Gefangen, gefoltert, gemordet – Damals, wie heute: Besatzer
raus!“ mit Aufzug und Kundgebungen durchgeführt hatte. Seit 2006 wird mit
ähnlichen Veranstaltungen, sogenannten Trauermärschen, in Bad Nenndorf
die Nutzung des dortigen „Wincklerbades“ durch die britischen
Besatzungskräfte in den Jahren 1945 bis 1947 als Verhörzentrum und
Gefangenenlager thematisiert. Parallel zu diesen Versammlungen finden
ebenfalls jährlich wiederkehrende Gegendemonstrationen statt.
Die Versammlung des Klägers sollte nach dessen Anzeige um 11.00 Uhr
beginnen und bis 21.30 Uhr dauern. Die Aufzugsroute sollte vom
Bahnhofsvorplatz über die Bahnhofstraße vor das Wincklerbad und zurück
führen. Kundgebungen waren unter anderem zu Beginn und vor dem
Wincklerbad angezeigt.
Daneben wurden mehrere Gegendemonstrationen angezeigt. Die größte
dieser Gegendemonstrationen war bereits am 28. November 2012 seitens des
DGB angezeigt worden. Nach Erörterung in einem Kooperationsgespräch mit
der örtlichen Versammlungsbehörde sollte die Versammlung um 10.30 Uhr an
der Bornstraße beginnen und über die Hauptstraße, Kurhausstraße und
Bahnhofstraße ebenfalls zum Wincklerbad führen. Eine weitere
Gegenveranstaltung, deren erwarteten Teilnehmerkreis die Polizeiinspektion
Nienburg/Schaumburg in der Fortschreibung ihrer Gefahrenprognose vom 8.
Juli 2013 aufgrund von Erfahrungen aus dem Vorjahr als linksextrem und
gewaltgeneigt/gewaltbereit einschätzte, sollte von 9.00 Uhr bis 20.00 Uhr
dauern und von der Bornstraße über die Martin-Luther-Straße, Hauptstraße
und Parkstraße wiederum zum Wincklerbad führen, wo ebenfalls eine
Zwischenkundgebung geplant war. Der Anzeigende Herr A. teilte im
Kooperationsgespräch mit der Versammlungsbehörde mit, ein
Zusammenschluss mit der Versammlung des DGB oder anderen
Versammlungen sei nicht beabsichtigt.
Angesichts der Gegendemonstrationen verfügte die örtliche
Versammlungsbehörde mit der Bestätigung der Versammlung des Klägers
diesem gegenüber Beschränkungen unter anderem des Zeitraums zur
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Durchführung der Versammlung und des Verlaufs der Aufzugsroute. Dabei
wurden der Versammlungszeitraum auf 12.00 Uhr bis 18.00 Uhr festgelegt und
der Ort der Zwischenkundgebung am Wincklerbad in die Poststraße auf Höhe
des Grundstücks Poststraße 2 verlegt.
Hiergegen erhob der Kläger Klage (10 A 5752/13) und beantragte vorläufigen
Rechtsschutz (10 B 5753/13). In dem auf vorläufigen Rechtsschutz gerichteten
Verfahren lud die Kammer neben dem Anzeigenden der Gegenversammlung
des DGB auch Herrn A. als Anzeigenden einer weiteren Gegenveranstaltung
bei.
Nach mündlicher Verhandlung gab die erkennende Kammer dem Antrag auf
vorläufigen Rechtsschutz teilweise statt und stellte mit Beschluss vom 23. Juli
2013 die aufschiebende Wirkung der Klage mit der folgenden Maßgabe wieder
her:
Die Versammlung nimmt den im Bescheid vom 19. Juli 2013
festgelegten Verlauf. Abweichend hiervon kann die
Versammlung von der Poststraße in die Bahnhofstraße geführt
werden, wo vor dem Wincklerbad eine Zwischenkundgebung
abgehalten werden kann.
Die Versammlung beginnt um 14.00 Uhr und endet um 20.00
Uhr. Die Einmündung der Poststraße in die Bahnhofstraße darf
nicht vor 16.00 Uhr passiert werden.
Zur Begründung führte die Kammer aus, der Raum vor dem Wincklerbad habe
sowohl für die Versammlung des Klägers als auch für die
Gegendemonstrationen eine prägende Bedeutung, die die
Versammlungsbehörde bei ihrer Entscheidung, in welcher Weise die
konfligierenden Routenanzeigen bestätigt werden könnten, zu berücksichtigen
habe. Nach diesem Maßstab erweise sich die Entscheidung der
Versammlungsbehörde, dem Kläger lediglich eine Zwischenkundgebung
neben dem Wincklerbad in der Poststraße zu genehmigen, als rechtswidrig. In
der mündlichen Verhandlung habe sich ergeben, dass es möglich sei, sowohl
dem Veranstalter der größten Gegendemonstration als auch dem Kläger eine
dem jeweiligen Anliegen gerecht werdende Versammlung in der
Bahnhofstraße vor dem Wincklerbad zu ermöglichen.
Die Gegendemonstration solle um 10.30 Uhr beginnen und mit einer
Kundgebung in der Bahnhofstraße vor dem Wincklerbad ab 12.30 Uhr enden.
Angesichts dessen sei es zumutbar, die (Gegen-)Versammlung um 14.00 Uhr
zu beenden, um die nachfolgende Nutzung des Bereichs der
Abschlusskundgebung durch den Kläger zu ermöglichen. Wie sich aus der
Stellungnahme der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Leiterin des
Vorbereitungsstabes Frau B. von der Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg
ergeben habe, sei nach polizeilicher Einschätzung damit zu rechnen, dass
jedenfalls zwei Stunden nach Beendigung der Gegendemonstration der Raum
vor dem Wincklerbad für die Versammlung des Klägers zur Verfügung stehen
werde, selbst wenn Teilnehmer der Gegendemonstration nach deren Ende
noch dort verbleiben sollten. Könne sonach eine Zwischenversammlung des
Klägers vor dem Wincklerbad um 16.00 Uhr beginnen, sei es gerechtfertigt,
den Beginn seiner Versammlung auf 14.00 Uhr festzusetzen und zusätzlich
anzuordnen, dass die Einmündung von der Poststraße in die Bahnhofstraße
erst ab 16.00 Uhr passiert werden dürfe. Unter Berücksichtigung des
Routenverlaufs und der Absicht, eine Auftaktkundgebung durchzuführen,
ermöglichten diese zeitlichen Vorgaben dem Kläger eine weitgehend seinen
Vorstellungen entsprechende Versammlung; dies gelte auch dann, wenn es
zu einer Verzögerung des Versammlungsbeginns etwa durch langdauernde
Kontrollen oder Blockademaßnahmen kommen sollte.
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Am 3. August 2013 sagte Herr A. seine Veranstaltung kurzfristig ab. Die
Gegendemonstration des DGB begann zunächst planmäßig. Während der
Aufzug über die Bahnhofstraße zum Wincklerbad zog, begehrten ca. 260
Personen Zugang zu der Versammlung, die die Einsatzkräfte vor Ort dem bei
der Gegenveranstaltung von Herrn C. erwarteten, als linksextrem und
gewaltgeneigt eingestuften Teilnehmerkreis zuordneten. Nach Rücksprache
mit der Polizei gestattete der Versammlungsleiter der Gegendemonstration des
DGB diesen Personen den Zugang zu seiner Versammlung. Vor dem
Wincklerbad hielten sich bereits ca. 120 Personen auf, die die Einsatzkräfte
ebenfalls dem linksorientierten Spektrum zuordneten.
Nach dem Einsatzprotokoll der Polizeidirektion Göttingen wurde die
Abschlusskundgebung vor dem Wincklerbad um 14.03 Uhr für beendet erklärt
und die ca. 1.200 Teilnehmer wurden aufgefordert, den Kundgebungsort zu
verlassen. Daraufhin setzten sich ca. 400 Personen kollektiv auf die Straße.
Etwa zeitgleich stellten Einsatzkräfte im Bereich der Bühne am Wincklerbad
eine ca. 40 x 40 cm große Betonpyramide fest, an der sich vier Personen
festgekettet hatten.
In Rücksprache mit dem Gesamteinsatzleiter der Polizei bewertete der
Einsatzabschnittsleiter vor Ort die Ansammlung der vor dem Wincklerbad
sitzenden Personen als Versammlung und forderte sie auf, einen
Versammlungsleiter zu benennen. Um 14.24 Uhr sprach er eine
beschränkende Verfügung aus und forderte die Teilnehmer des
Zusammenschlusses auf, sich um 50 Meter in Richtung der Kramerstraße zu
entfernen. Der Gesamteinsatzleiter der Polizei gab um 14.29 Uhr die
Anordnung, dass die Versammlung aufzulösen sei, wenn sie der
Beschränkung nicht Folge leiste. Die beschränkende Verfügung wurde um
14.34 Uhr, 14.40 Uhr und 14.45 Uhr wiederholt, ohne dass ihr die Teilnehmer
des Zusammenschlusses Folge leisteten.
Um 14.51 Uhr gab die Polizei durch Lautsprecherdurchsage die Auflösung der
Blockadeversammlung bekannt. Unter Wiederholung dieser Durchsage wurde
den verbliebenen Teilnehmern um 15.04 Uhr ein Platzverweis ausgesprochen.
Mit einer weiteren Wiederholung der Durchsage um 15.09 Uhr wurde die
Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung des Platzverweises
angedroht.
Für 15.34 Uhr ist im Einsatzprotokoll die Einschätzung vermerkt, dass eine
Räumung von 500 Personen ca. drei Stunden in Anspruch nehmen werde.
Nach Einschätzung des Konfliktmanagements würden ca. 150 Personen bei
einer Durchsetzung der Räumung mit Zwangsmitteln den Bereich freiwillig
verlassen. Um 15.52 Uhr wies die Einsatzleitung zwei Einsatzhundertschaften,
die mit den Vorkontrollen befasst gewesen waren, dem mit der Räumung
betrauten Einsatzabschnitt zu. Zeitgleich erfolgte eine letzte
Lautsprecherdurchsage mit der Aufforderung, sich zu entfernen.
Um 16.07 Uhr wurde die Räumung durch Wegtragen bzw. Wegführen
einzelner Personen eingeleitet. Vom Einsatz von Zwangshilfsmitteln wie
Dienstpferden, Wasserwerfern oder Reizstoffen nahm die Polizeiführung
Abstand. Um 16.17 Uhr wurden „für die Räumung“ Mobiltoiletten und Getränke
angefordert, die um 17.11 Uhr eintrafen. Per Lautsprecherdurchsage wurde
auf die „Entsorgungsmöglichkeit“ hingewiesen.
Um 16.41 Uhr wurde an die Leitstelle gemeldet, die Räumung habe vor zehn
Minuten begonnen. Hierzu hat der Beklagte schriftsätzlich erläutert, dass vor
der eigentlichen Räumung Schaulustige und Passanten abgedrängt werden
mussten, die sich bis dahin im Bereich der Blockadeversammlung aufgehalten
hatten.
Um 17.01 Uhr meldete der Einsatzabschnitt, es seien bisher 50 Personen
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weggetragen worden. 450 Personen seien noch vor Ort. Der Raumgewinn sei
nicht erwähnenswert. Um 17.10 Uhr waren 85 Personen weggetragen. Zur
Durchführung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren wurden in zwei
Bearbeiterstraßen die Identitäten der weggetragenen Personen festgestellt.
Um 17.21 Uhr hatten die Beamten einen Zuweg zu der Pyramide freigetragen.
Um 17.45 Uhr lag die Einschätzung des Bereiches Technische Lösungen vor,
wonach die Pyramide angehoben und ihre Verankerung mit dem Boden gelöst
werden könne. Dann könne sie mit den Personen von der Fahrbahn getragen
werden. Die Personen waren untereinander noch mit Fahrradschlössern
aneinander gekettet. Daneben wurden (mindestens) zwei weitere Gruppen von
Personen festgestellt, die sich mit Fahrradschlössern aneinandergekettet
hatten.
Um 17.51 Uhr entschied die Polizeiführung, zunächst weiter Personen
wegzutragen, die „leicht zu transportieren“ waren. Nach einer Meldung von
18.05 Uhr waren zu diesem Zeitpunkt 210 Personen weggetragen worden;
nach einer Meldung von 18.25 Uhr waren es um 18.06 Uhr 433 Personen bei
100 verbleibenden Teilnehmern der Blockade.
Um 18.42 Uhr forderte der Einsatzabschnittsleiter in Vorbereitung der Arbeiten
an der Pyramide einen Notarzt an. Unter 19.09 Uhr ist erstmals die
Einschätzung vermerkt, dass die Räumung nicht vor 20.00 Uhr vollendet
werden könne. Um 19.10 Uhr waren zunächst die drei an der Pyramide mit
Fahrradschlössern verketteten Personen voneinander gelöst, eine weitere
Gruppe aneinander geketteter Personen war bis 19.18 Uhr befreit. Um 19.29
Uhr war die Fahrbahn bis auf die Personen an der Pyramide und eine Gruppe
mit Fahrradschlössern aneinander geketteter Personen geräumt. Um 19.57
Uhr lösten sich die Personen an der Pyramide freiwillig von dieser.
Der Beginn der Versammlung des Klägers verzögerte sich zunächst durch
eine Blockade am Bahnhof Bad Nenndorf, aufgrund derer ein Teil der
Versammlungsteilnehmer über den Bahnhof Haste und mit Bussen des
Schienenersatzverkehrs anreisen musste und Bad Nenndorf erst gegen 14.00
Uhr erreichte. Aufgrund der vor dem Wincklerbad begonnenen Blockade
verzögerte sich der Beginn weiter, bis die Teilnehmer der Versammlung des
Klägers um 15.41 Uhr Aufstellung nahmen und die Auftaktkundgebung mit
Redebeiträgen begann. Um 16.02 Uhr setzte sich der Aufzug des Klägers in
Richtung Wincklerbad in Bewegung und stoppte im Bereich
Hauptstraße/Kurhausstraße. Die Versammlungsteilnehmer äußerten, dort so
lange warten zu wollen, bis der Platz vor dem Wincklerbad geräumt sei.
Um 17.31 Uhr nahm ein Versammlungsteilnehmer des Klägers die Situation im
Augenschein und kündigte eine Zwischenkundgebung an, die in der
Poststraße stattfinden sollte; diese Straße liegt am Nordflügel des
Wincklerbades. Die Einsatzkräfte errichteten daraufhin eine neue Sperre in der
Poststraße auf Höhe Hausnummer 2, von der aus das Wincklerbad in
Sichtweite des Aufzugs lag. Vor dem Wincklerbad waren zu diesem Zeitpunkt
140 Personen weggetragen.
Die neu errichtete Sperre erreichte der Aufzug um 17.59 Uhr. Um 18.08 Uhr
begannen die Teilnehmer die Zwischenkundgebung, die aber durch
erheblichen Lärm seitens der Gegendemonstranten gestört wurde. Die
Einsatzleitung veranlasste daraufhin Lautsprecherdurchsagen, die die
Gegendemonstranten zur Ruhe ermahnten. Falls es nicht gelinge, die
Lautstärke der Gegendemonstration zu reduzieren, müsse die dem Kläger
gegenüber verfügte Beschränkung hinsichtlich der Lautstärke angepasst
werden. Hiervon wurde abgesehen, nachdem um 18.46 Uhr in der
Versammlung des Klägers per Lautsprecher durchgesagt worden war, dass
man den Vorplatz vor dem Wincklerbad selbst geräumt hätte, wenn die
eigenen Ordner anwesend gewesen wären.
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Um 19.23 Uhr erklärte der Kläger seinen Aufzug für beendet und trat den
Rückweg zum Bahnhof an.
Am 2. September 2013 hat der Kläger Klage erhoben. Er hält das Vorgehen
der Polizei bei der Räumung für rechtswidrig. Die Einsatzkräfte hätten die
Weisung des Gerichts ignoriert, den Platz vor dem Wincklerbad so rechtzeitig
zu räumen, dass er noch während des ihm zugebilligten
Versammlungszeitraums bis 20.00 Uhr vor das Wincklerbad gelangen und
eine Kundgebung habe abhalten können. Nach dem Beschluss der Kammer
sei ihm die Kreuzung vor dem Wincklerbad ab 16.00 Uhr zugesprochen
worden.
Erst um 17.00 Uhr hätten die Polizeikräfte erstmals Zwangsmittel angedroht.
Eine schnellere Räumung sei möglich gewesen. Stattdessen habe die Polizei
die Teilnehmer der Blockade nachgerade zum Verbleib ermuntert, indem sie
ihnen Getränke und Toiletten zur Verfügung gestellt habe.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass die Beklagte es am 3. August 2013 rechtswidrig
unterlassen hat, den Platz vor dem Wincklerbad so rechtzeitig zu
räumen, dass die Kundgebung des Klägers noch innerhalb des vom
Gericht verfügten Versammlungszeitraums 14.00 Uhr bis 20.00 Uhr
stattfinden konnte,
hilfsweise
festzustellen, dass die den Blockierern zuteil gewordene
Zurverfügungstellung von Getränken wie Wasser und Apfelschorle sowie
von Toilettenhäuschen rechtswidrig war.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass der Kläger schon keinen Anspruch auf ein
polizeiliches Einschreiten, geschweige denn ein rechtzeitiges Einschreiten
gehabt habe. Die Polizei habe grundsätzlich die Aufgabe, Gefahren für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Dabei unterliege sie dem
Opportunitätsgrundsatz, der ihr auch ein (Entschließungs-) Ermessen
dahingehend einräume, ob sie überhaupt einschreite.
Die Annahme des Klägers, die Blockade sei absehbar gewesen, sei irrig. Nach
der polizeilichen Lageeinschätzung sei von einem – wie in den vergangenen
Jahren – insgesamt friedlichen Verlauf der Großdemonstration des DGB
ausgegangen worden. Der Versammlungsleiter dieser Gegendemonstration
habe sich von Blockaden glaubhaft distanziert. Entsprechend sei die Planung
zwar auf kleinere Blockaden mit geringen Teilnehmerzahlen und
Einzelaktionen ausgerichtet gewesen, nicht aber auf eine Großblockade.
Die Polizei habe den Platz vor dem Wincklerbad auch weder ab 14.00 Uhr
noch bis 16.00 Uhr zu räumen gehabt. Es sei offenkundig, dass eine (nicht
verbotene) Großdemonstration mit 1.200 Teilnehmern nicht von einem
Moment auf den anderen verschwinde. Die Kammer habe keine Anordnung
dahin getroffen, dass die Räumung bis 16.00 Uhr habe vollendet sein müssen,
sondern vielmehr dem Kläger aufgegeben, die Kreuzung vor dem Wincklerbad
wegen der erwarteten Räumung kleinerer Blockaden „nicht vor“ 16.00 Uhr zu
begehen.
Angesichts der Teilnehmerzahl und des friedlichen Verlaufs der Blockade sei
eine schnellere Räumung, die mittels Diensthunden, Wasserwerfern oder
Reizstoffen möglich gewesen wäre, nicht verhältnismäßig gewesen.
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Die Polizeiführung habe erwogen, die dem Kläger gegenüber verfügte
Beschränkung des Versammlungszeitraums aufzuheben und dem Kläger die
Kundgebung vor dem Wincklerbad auch dann zu ermöglichen, wenn die
Räumung länger als 20.00 Uhr gedauert hätte. Bei Ende der Räumung habe
der Kläger allerdings seine Versammlung bereits abgebrochen gehabt.
Die Kammer hat über den Ablauf des Polizeieinsatzes anlässlich des
versammlungsrechtlichen Geschehens am 3. August 2013 Beweis erhoben
durch Vernehmung des Leitenden Polizeidirektors D. als Zeugen. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 19.
Mai 2014 verwiesen.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des
Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen
Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Sämtliche Akten waren Gegenstand
der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 VwGO zulässig. Dem Kläger
geht es dem erkennbaren Klagebegehren nach um die Feststellung, dass der
Beklagte ihm gegenüber seinen Rechtspflichten bei der Durchführung der
Versammlung am 3. August 2013 nicht nachgekommen ist und dadurch
rechtswidrig in seine Versammlungsfreiheit eingegriffen hat. Insofern kann der
Kläger seine Rechte nicht durch eine Gestaltungs- oder Leistungsklage
verfolgen (§ 43 Abs. 2 VwGO), denn das Geschehen ist durch Zeitablauf
beendet. Der Kläger hat unter diesem Gesichtspunkt auch ein berechtigtes
Feststellungsinteresse, weil Rechtsschutz in einem auf Verurteilung der
Polizeidirektion Göttingen zum (sofortigen) Tätigwerden gerichteten
Hauptsacheverfahren nicht rechtzeitig erreichbar war und sich die
Maßnahmen auf die Ausübung seiner Versammlungsfreiheit in erheblicher
Weise ausgewirkt haben.
II. Die Klage ist indes unbegründet. Weder auf den Haupt- noch auf den
Hilfsantrag ist die begehrte Feststellung auszusprechen.
1. Dass die Polizei des Beklagten den Platz vor dem Wincklerbad nicht so
rechtzeitig geräumt hat, dass die Kundgebung des Klägers dort noch innerhalb
des vom Gericht verfügten Versammlungszeitraums (14.00 Uhr bis 20.00 Uhr)
stattfinden konnte, stellt kein rechtswidriges Unterlassen dar (a). Auch das
aktive Vorgehen der Einsatzkräfte erweist sich als noch rechtmäßig (b).
a) Die Polizei hat am 3. August 2013 keine Handlungen unterlassen, zu denen
sie rechtlich verpflichtet gewesen wäre.
Zwar lagen angesichts des Personenzusammenschlusses vor dem
Wincklerbad die Voraussetzungen für ein polizeiliches Einschreiten vor, weil
die Blockade einer nicht verbotenen Versammlung auch dann gegen das
Störungsverbot des § 4 NVersG verstößt und zugleich eine Straftat nach § 20
Abs. 1 Nr. 2 NVersG darstellt, wenn die Teilnehmer der Blockade ihrerseits ein
kommunikatives Anliegen verfolgen und deshalb unter den Schutz der
Versammlungsfreiheit fallen sollten. Die Polizei hat in diesem Fall die Befugnis,
die Versammlung aufzulösen (§ 8 Abs. 2 NVersG) und zur Durchsetzung der
aus § 8 Abs. 2 Satz 3 NVersG folgenden Pflicht der Teilnehmer, sich
unverzüglich zu entfernen, Platzverweise auszusprechen (§ 17 Nds. SOG)
und erforderlichenfalls mit Zwangsmitteln durchzusetzen.
In Anbetracht des hohen Rangs der Versammlungsfreiheit war auch das
Entschließungsermessen der Polizei – die Entscheidung, ob überhaupt
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eingeschritten werden soll – auf eine Pflicht zum Einschreiten reduziert. Das
gilt auch angesichts des Umstands, dass die Einsatzleitung der Blockade
ihrerseits zunächst den Schutz der Versammlungsfreiheit zugebilligt hat. Denn
der Grundsatz der praktischen Konkordanz gebietet, widerstreitende
Grundrechte bestmöglich zur Geltung zu bringen. Nachdem die Teilnehmer
der Blockade im Rahmen der angezeigten Gegendemonstration den für die
kommunikativen Anliegen beider Versammlungen relevanten Platz vor dem
Wincklerbad hatten in Anspruch nehmen können, war diese Möglichkeit
nunmehr auch der Versammlung des Klägers zuzubilligen, wie es die Kammer
in ihrem Beschluss vom 23. Juli 2013 verfügt hatte.
Mit dem Entschließungsermessen war zugleich das Auswahlermessen der
Polizei zumindest darauf reduziert, gegenüber den Personen, die den Platz
blockiert hielten, Platzverweise auszusprechen und diese erforderlichenfalls
mit Zwangsmitteln durchzusetzen. Soweit die Einsatzleitung diesen Personen
ihrerseits den Schutz der Versammlungsfreiheit zubilligte, folgt aus dieser
Ermessensreduzierung auch das Gebot, die Versammlung aufzulösen, falls
die Teilnehmer nicht freiwillig weiterziehen.
Dass das Entschließungsermessen und das Auswahlermessen auf eine
Pflicht zur Räumung der Kreuzung vor dem Wincklerbad reduziert waren, hat
die Polizei auch erkannt. Die damit einhergehende Verpflichtung hat sie
wahrgenommen, indem sie gegenüber dem Zusammenschluss zuerst eine
beschränkende Verfügung, dann eine Auflösungsverfügung erlassen hat,
schließlich Platzverweise erteilt und diese durchgesetzt hat.
Die Bindung des Ermessens der Polizei geht indes nicht so weit, dass die
Einsatzkräfte auf konkrete polizeiliche Mittel festgelegt gewesen wären.
Ebenso wenig folgt aus der Pflicht zum Einschreiten eine Pflicht, einen
konkreten Erfolg zu erzielen und dazu jedes erdenkliche Mittel einzusetzen.
Eine solche Pflicht lässt sich auch aus dem Beschluss der Kammer im
Eilverfahren nicht begründen. Die Kammer ist bei der Formulierung, der Kläger
und sein Anhang dürften die Einmündung der Poststraße in die Bahnhofstraße
„nicht vor 16.00 Uhr“ passieren, von der Einschätzung der Leiterin des
Vorbereitungsstabes der Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg Frau B.
ausgegangen, dass die Einsatzkräfte in der Lage sein würden, etwaige
Blockaden binnen zwei Stunden zu räumen. Mit der im Eilverfahren
ausgesprochenen Maßgabe hat die Kammer aber keine Anordnung getroffen,
die Räumung selbst dann bis 16.00 Uhr durchzuführen, wenn sich die
tatsächliche Lage anders darstellen sollte als erwartet.
Ebenso wenig waren die Einsatzkräfte verpflichtet, gegen die Teilnehmer der
Blockade mit allen gesetzlich vorgesehenen Zwangsmitteln vorzugehen. Im
Gegenteil hatte die Polizei neben der Versammlungsfreiheit des Klägers auch
die Grundrechte der Teilnehmer der Blockade, insbesondere deren Recht auf
körperliche Unversehrtheit zu wahren. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu
beanstanden, dass die Polizeiführung davon abgesehen hat, Hilfsmittel der
körperlichen Gewalt (Dienstpferde, Reizstoffe, Wasserwerfer) oder Waffen
(Schlagstöcke) einzusetzen. Denn der Einsatz dieser Hilfsmittel und Waffen
begründet ein erhebliches Verletzungsrisiko und wäre gegen passive
Blockierer kaum verhältnismäßig gewesen. Trotz ihres hohen Rangs als
konkurrierendem Schutzgut tritt die Versammlungsfreiheit des Klägers und der
Teilnehmer an seiner Versammlung gegenüber der körperlichen
Unversehrtheit der Teilnehmer an der Blockade zurück. Das gilt jedenfalls,
solange – wie hier – von den Teilnehmern der Blockade keine gewalttätigen
Handlungen ausgingen, die ihrerseits die körperliche Unversehrtheit Dritter
gefährdet hätten.
(b) Auch das aktive Vorgehen der Einsatzkräfte erweist sich sowohl bei einer
Gesamtwürdigung als auch bei Einzelbetrachtung als – noch – rechtmäßig.
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Wenngleich die Entscheidung der Kammer im Eilverfahren keine konkreten
Vorgaben hinsichtlich der Ermessensausübung enthält, musste die Polizei bei
der Ausübung ihres Ermessens allerdings mit hinreichendem Gewicht
berücksichtigen, dass die Kammer gerade aufgrund der Prognose der
Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg die aufschiebende Wirkung der Klage
nicht auch dahingehend wieder hergestellt hatte, zuerst dem Kläger und
seinen Versammlungsteilnehmern eine Kundgebung vor dem Wincklerbad zu
ermöglichen. Dabei hatte die Kammer durchaus zur Kenntnis genommen,
dass die in der mündlichen Verhandlung über den Eilantrag geäußerte
Einschätzung der Leiterin des Vorbereitungsstabes zur Möglichkeit und der zu
erwartenden Dauer einer Räumung etwaiger Blockaden von den bis dahin
schriftlich vorgelegten Gefahrenprognosen abwich. Diese Abweichung wurde
allerdings – für die Kammer plausibel – damit erklärt, dass aus den Reihen der
Gegendemonstration des DGB keine flächendeckenden Blockaden erwartet
würden und die polizeiliche Taktik darauf gerichtet sei, gewaltbereite und
blockadewillige Störer von der Versammlung des DGB strikt zu trennen.
Von dieser Einsatztaktik ist die Polizei indes abgerückt, als die Einsatzkräfte
einer Gruppe von ca. 260 Teilnehmern einer anderen Versammlung den
Zugang zu der Großveranstaltung des DGB gewährt haben, bevor diese den
Platz vor dem Wincklerbad erreicht hatte. Den erwarteten Teilnehmerkreis
dieser Versammlung hatte die Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg in der
Fortschreibung ihrer Gefahrenprognose vom 8. Juli 2013 aufgrund von
Erfahrungen aus dem Vorjahr als linksextrem und gewaltgeneigt/gewaltbereit
eingeschätzt. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass
die Teilnehmer der Versammlung versuchen würden, durch Blockaden oder
gewalttätige Aktionen den Aufzug des Klägers zu stören. Auch am
Versammlungstag erkannten die Einsatzkräfte vor Ort den Zulauf dieser
Gruppe als problematisch; nach der Aussage des Gesamteinsatzleiters der
Polizei in der mündlichen Verhandlung ging die Polizeiführung jedoch
zunächst davon aus, dass schon der Versammlungsleiter der
Großveranstaltung des DGB der Gruppe den Zugang verwehren würde.
Dass der Versammlungsleiter der Versammlung des DGB der Gruppe den
Zugang zu seiner Versammlung gestattete, hat der Gesamteinsatzleiter der
Polizei in seiner Vernehmung als „überraschend“ bezeichnet. Gleichwohl
haben die Einsatzkräfte die Entscheidung des Versammlungsleiters des DGB-
Aufzuges hingenommen, ohne Maßnahmen in eigener Zuständigkeit zu
prüfen. Die Polizei hat damit nicht nur die eigene polizeiliche Einschätzung
hintangestellt, sondern ist zugleich von ihrer Taktik abgerückt, den bürgerlich-
friedlichen Protest und gewaltbereite Gegendemonstranten nach Möglichkeit
zu trennen. Soweit sich die Einsatzkräfte gehindert sahen, dieser
Personengruppe den Zugang zu der Versammlung des DGB zu verwehren,
nachdem deren Versammlungsleiter den Zugang gestattet hatte, dürfte darin
eine Fehleinschätzung liegen. Mit § 10 Abs. 3 NVersG, wonach die zuständige
Behörde Personen die Teilnahme an einer Versammlung untersagen oder
diese von der Versammlung ausschließen kann, wenn dies zur Durchsetzung
der Verbote nach den §§ 3 und 9 unerlässlich ist, sieht das
Versammlungsrecht eine Rechtsgrundlage vor, die an die Entscheidung des
Versammlungsleiters nicht gebunden ist. Daneben war auch eine
beschränkende Verfügung auf Grundlage von § 8 Abs. 1 NVersG gegenüber
der den Zugang begehrenden Gruppe denkbar, weil nach der Einschätzung
der Einsatzkräfte vor Ort die Gefahr von Störungen der Versammlung des
Klägers von ihr ausging. Ob die strengen tatbestandlichen Voraussetzungen
dieser Eingriffsermächtigungen vorlagen, lässt sich im Nachhinein nicht mehr
feststellen; ebenso wenig ist aber erkennbar, dass die Einsatzkräfte diese
Rechtsgrundlagen erkannt und geprüft haben. Der Gesamteinsatzleiter der
Polizei hat hierzu in der mündlichen Verhandlung lediglich ausgesagt, dass
Maßnahmen zur Unterbindung des Zusammenschlusses überlegt, aber in
Abwägung mit der Versammlungsfreiheit der Personengruppe verworfen
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Rechtswidrig wäre die Gestattung des Zusammenschlusses der Gruppe mit
dem Aufzug des DGB allerdings nur gewesen, wenn wiederum das
Entschließungsermessen der Polizei insoweit auf eine Pflicht reduziert
gewesen wäre, den Zusammenschluss zu verhindern; und selbst dann hätte
dies nicht die Rechtswidrigkeit des übrigen Einsatzes zur Folge gehabt,
solange die tatsächlichen Umstände die weitere Ermessensausübung trugen.
Aus der Entscheidung, den Zusammenschluss zu gestatten, und aus der dem
Gericht gegenüber geäußerten Prognose über die Dauer einer etwaigen
Räumung folgte allerdings eine Ermessensbindung der Polizei zumindest
dahingehend, die Räumung unverzüglich anzugehen und nicht ohne Not zu
verzögern. Diesen Anforderungen wird das Vorgehen der Einsatzkräfte jedoch
– noch – gerecht.
Dabei kann dahin stehen, ob es sich rückblickend als rechtlich tragfähig
erweist, die Ansammlung vor dem Wincklerbad als Versammlung einzustufen.
Denn maßgeblich ist insofern – wie bei der Beurteilung einer Gefahrenlage –
die ex-ante-Sicht der Einsatzkräfte vor Ort. Anderes könnte in Anlehnung an
die zur sogen. Schein- oder Putativgefahr entwickelten Grundsätze nur gelten,
wenn ein idealtypisch urteilender Beamter unter Zugrundelegung der
objektiven Tatsachenlage keinesfalls zur Annahme einer Versammlung
gekommen wäre, die Einstufung der Blockade als Versammlung mithin auf
einer unvertretbaren Fehleinschätzung beruht. Das ist hier nicht erkennbar.
Grundsätzlich erstreckt sich der Schutz des Art. 8 GG nicht auf Personen, die
nicht die Absicht haben, an einer Versammlung teilzunehmen, sondern diese
verhindern wollen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.6.1991 – 1 BvR 772/90 –,
BVerfGE 84, 203 <209 f.>). Dagegen kann auch die Blockade einer
Versammlung ihrerseits unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fallen,
wenn die Teilnehmer über die Blockade hinaus einen kommunikativen Zweck
verfolgen (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 28.2.2007 – 5 A 685/05 –
www.dbovg.niedersachsen.de); dieser kommunikative Zweck wird selbst dann
als ausreichend erachtet, wenn er sich darauf richtet, mit der eigenen
Versammlung den angemeldeten Versammlungsort der anderen
Versammlung „physisch in Beschlag zu nehmen“ und sich damit im Kern
wiederum auf die Verhinderung einer nicht verbotenen Versammlung
beschränkt (vgl. VG Berlin, Urteil vom 23.2.2005 – 1 A 188.02 – juris Rn. 21).
Vor diesem Hintergrund werden mitunter auch kurzfristige gewaltfreie
demonstrative Blockaden noch als Versammlung betrachtet (vgl.
Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Aufl., Rn. 209 zu § 15;
Rusterberg, in: NJW 2011, 2999 <3002>).
Der Gesamteinsatzleiter der Polizei ging nach seinen Angaben in der
mündlichen Verhandlungen nach Rücksprache mit dem Einsatzabschnittsleiter
davon aus, dass sich der Teilnehmerkreis der Blockade durchaus heterogen
zusammensetzte, die Teilnehmer aber gleichwohl gemeinsam handelten und
sie demnach ein gemeinsames kommunikatives Anliegen einte, über die bloße
Verhinderung der Versammlung des Klägers hinaus die Instrumentalisierung
des Wincklerbads zu kritisieren. Angesichts dessen ist die rechtliche
Bewertung der Blockade als Versammlung aus der Perspektive der vor Ort
eingesetzten Beamten vertretbar, zumal die Polizei bei ihrer Einschätzung
offenkundig nicht davon ausgegangen ist, dass aufgrund dieser Einschätzung
eine Blockade auf Dauer zulässig wäre.
Es ist sodann nicht zu beanstanden, dass die Polizei, bevor sie die
Protestversammlung aufgelöst hat, zunächst eine beschränkende Verfügung
mit der Maßgabe erlassen hat, sich in Sichtweite zu entfernen. Der
Gesamteinsatzleiter der Polizei hat diese Maßnahme dahingehend begründet,
dass er rechtssicher habe agieren wollen und taktisch die Bereitschaft der
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Teilnehmer der Blockade habe prüfen wollen, den Platz freiwillig zu räumen.
Mit diesen Erwägungen war die Beschränkung als milderes Mittel gegenüber
einer Auflösung der Versammlung sowohl verhältnismäßig als auch
polizeitaktisch vertretbar. Denn die Polizei gab den Teilnehmern der Blockade
dadurch die Möglichkeit, ihr kommunikatives Anliegen in unmittelbarer Nähe
zum Ausdruck zu bringen, ohne die Blockade fortzusetzen. Da nach der
Lageeinschätzung der Einsatzkräfte vor Ort ca. 250 Teilnehmer der Blockade
dem sogenannten bürgerlichen Spektrum zuzuordnen waren, war diese
Erwägung auch nicht offenkundig aussichtslos. Selbst wenn nur einige
Teilnehmer der Blockade dem gefolgt wären, hätte auch die Durchsetzung der
Räumung gegenüber den verbliebenen Teilnehmern der Blockade erheblich
weniger Zeit in Anspruch nehmen können.
Auch dass der Einsatzabschnittsleiter die Aufforderung zur räumlichen
Verlegung wiederholt und bis zum Erlass der Auflösungsverfügung 23 Minuten
– bis 14.52 Uhr – gewartet hat, ist im Hinblick auf polizeitaktische
Gesichtspunkte noch vertretbar und deshalb von Rechts wegen nicht zu
beanstanden. In rechtlicher Hinsicht war es geboten, die beschränkende
Verfügung so bekannt zu geben, dass alle Teilnehmer der Blockade davon
Kenntnis erhalten konnten. Wiederholte Durchsagen, die nach dem
Einsatzprotokoll um 14.24 Uhr, 14.34 Uhr, 14.40 Uhr und 14.45 Uhr erfolgt
sind, erweisen sich vor diesem Hintergrund nicht als grundsätzlich
ermessensfehlerhaft. Dass die vierfache Wiederholung unter idealtypischen
Umständen nicht erforderlich gewesen wäre, macht sie nicht rechtswidrig.
Zudem lagen zwischen den letzten Aufforderungen, die Versammlung zu
verlegen, nur jeweils 5-6 Minuten.
Entsprechendes gilt für die Auflösungsverfügung, die nach dem
Einsatzprotokoll um 14.51 Uhr ausgesprochen und um 15.02 Uhr sowie um
15.13 Uhr wiederholt worden ist. Die Bekanntgabe der Auflösungsverfügung
löst gem. § 8 Abs. 2 Satz 3 NVersG die Pflicht der Teilnehmer der aufgelösten
Versammlung aus, sich unverzüglich zu entfernen. Eine Auflösungsverfügung
muss deshalb eindeutig und unmissverständlich sein; auch sie muss ggf.
wiederholt werden, um eine wirksame Bekanntgabe an alle Teilnehmer zu
gewährleisten. Kommen die Teilnehmer der aufgelösten Versammlung der
Pflicht, sich zu entfernen, nicht nach, kann diese Pflicht erst dann
zwangsweise durchgesetzt werden, wenn ein Platzverweis ergangen ist.
Dieser setzt allerdings gem. § 17 Abs. 1 Nds. SOG eine Gefahr für die
öffentliche Sicherheit voraus, die nicht schon mit der Auflösung der
Versammlung eintritt, sondern erst dann, wenn die Teilnehmer der aufgelösten
Versammlung der Pflicht, sich unverzüglich zu entfernen, nicht nachkommen.
Denn mit dieser Pflicht korrespondiert zugleich das entsprechende Recht, den
Versammlungsort zunächst ungehindert und ohne Zwang zu verlassen. Vor
diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass die Polizei erst mit der
Wiederholung der Auflösungsverfügung auch Platzverweise ausgesprochen
hat.
Soweit eine Verzögerung bei der Räumung dadurch eingetreten ist, dass die
Einsatzkräfte (erst unmittelbar) vor dem Wegtragen der Teilnehmer der
Blockade Schaulustige und Passanten abgedrängt haben, ist auch dies von
Rechts wegen nicht zu beanstanden. Denn bis zum Beginn der tatsächlichen
Räumung ging von diesen Personen keine Gefahr aus. Sie nahmen weder an
der Sitzblockade teil, noch behinderten sie polizeiliche Maßnahmen. Die
Voraussetzungen für die Erteilung von Platzverweisen gegenüber diesen
Personen lagen deshalb bis zum Beginn der Räumung nicht vor.
Die Wahl der Einsatztaktik bei der Räumung, die der Gesamteinsatzleiter der
Polizei in der mündlichen Verhandlung als „schonend, aber konsequent“
bezeichnet hat, lässt keine Ermessensfehler erkennen. Der
Gesamteinsatzleiter hat in seiner Vernehmung nachvollziehbar dargelegt, dass
die vorhandenen, kurzfristig durch die Verlegung zweier Hundertschaften
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verstärkten Polizeikräfte für eine Räumung nach diesen Maßgaben
ausreichend waren und der „kleinräumige und enge“ Einsatzraum auch bei
einem Einsatz weiterer Kräfte keine signifikante Beschleunigung der Räumung
ermöglicht hätte. Die Einschätzung, dass bei einer „unruhigen“ Räumung
bereits geräumte Teilnehmer der Blockade wieder in diese hätten einsickern
können, vermag die Kammer ebenfalls nachzuvollziehen.
Auch sonst sind in der Wahl einer Deeskalationsstrategie keine Rechts- oder
Ermessensfehler zu erkennen. Nachdem bereits um 14.20 Uhr beobachtet
worden war, dass sich einige der Teilnehmer der Blockade vermummt hatten
und die Einsatzkräfte außerdem eine Solidarisierung der Teilnehmer der
Sitzblockade mit den an der Pyramide festgeketteten Personen ausgemacht
hatten, musste die Polizeiführung davon ausgehen, dass zumindest die dem
gewaltbereiten linkautonomen oder linksextremen Spektrum zuzuordnenden
Teilnehmer der Blockade bei einer kompromisslosen Räumung mit
Gewalttätigkeiten hätten reagieren können. Wäre die Lage dabei außer
Kontrolle geraten, wäre eine Räumung nur mit erheblich größerem
Personaleinsatz und dem massiven Einsatz von Hilfsmitteln der körperlichen
Gewalt (Dienstpferden, Reizstoffen, Wasserwerfern) und von Waffen
(Schlagstöcken) möglich gewesen, der bei hoher Verletzungsgefahr für alle –
einschließlich der friedlichen – Beteiligten keinen schnelleren Räumungserfolg
garantiert hätte.
Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Polizeiführung mit der Wahl
ihrer Einsatztaktik die Versammlungsfreiheit des Klägers in ihrer Bedeutung
verkannt hätte. Dabei ist insbesondere nicht zu beanstanden, dass die Polizei
der körperlichen Unversehrtheit der friedlichen Teilnehmer an der Blockade
und der Einsatzkräfte höheren Wert beigemessen hat als der
Versammlungsfreiheit des Klägers. Die Polizei hat außerdem schon während
der Räumung Maßnahmen getroffen, um die Auswirkungen der Blockade auf
die Versammlung des Klägers zu mildern. So hat sie unter Hinnahme eines
geringeren Abstandes zwischen den Gruppierungen mit Fahrzeugen eine
neue Sperre in der Poststraße errichtet und den Kläger soweit vorrücken
lassen, dass er das Wincklerbad in Sichtweite hatte. Als seine
Zwischenkundgebung durch Lärm der Blockadeteilnehmer gestört wurde,
haben die Einsatzkräfte diese zur Ruhe aufgefordert und erwogen, die dem
Kläger gegenüber verfügte Beschränkung auf einen Schalldruckpegel von
maximal 90 dB(A) im Abstand von einem Meter vor den Lautsprechern zu
lockern, um ihn sein Anliegen hörbar vorbringen zu lassen.
Ermessensfehlerhaft wird das Vorgehen der Polizei schließlich auch nicht
dadurch, dass sie während der Räumung mobile Toiletten und Getränke
herbeigeschafft hat. Soweit die Bereitstellung von Mobiltoiletten betroffen ist, ist
schon nicht erkennbar, dass hierdurch die Räumung gezielt verzögert worden
wäre. Denn um die Toiletten aufzusuchen, hätten die Teilnehmer der Blockade
freiwillig aufstehen müssen; dass die Einsatzkräfte ihnen sodann gestattet
hätten, sich wieder in die Blockade zu setzen, ist weder vorgetragen noch
nach dem tatsächlichen Ablauf der Räumung ersichtlich.
Auch die Ausgabe von Getränken ist noch vertretbar. Denn die Teilnehmer der
Blockade waren bei großer Hitze ohne Schatten der Sonne ausgesetzt, so
dass ihnen ohne die Ausgabe von Getränken gesundheitliche Schäden
drohten. Der Einwand des Klägers, die Teilnehmer der Blockade hätten sich
dieser Gefahr selbst und eigenverantwortlich ausgesetzt, geht ebenso wie
seine Forderung nach einer gewaltsamen Räumung fehl. Der
Gesamteinsatzleiter der Polizei hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft
dargelegt, dass die Teilnehmer der Blockade den Platz vor dem Wincklerbad
jedenfalls ab dem Zeitpunkt nicht mehr eigenständig verlassen konnten, als
ihnen die Einsatzabschnittsleitung die Einleitung von Strafverfahren wegen
Verstößen gegen das Versammlungsgesetz eröffnet hatte. Die Teilnehmer der
Blockade konnten daher den Platz nicht mehr selbständig verlassen und
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Schatten aufsuchen oder sich mit Getränken versorgen, sondern mussten sich
zuerst einer polizeilichen Identitätsfeststellung in den dafür eingerichteten
Bearbeiterstraßen unterziehen.
Tatsächlich hat es sich in dieser Situation allerdings nicht unmittelbar
aufgedrängt, die Getränke auch an die noch sitzenden Teilnehmer der
Blockade auszugeben und nicht erst im Bereich der Bearbeiterstraßen
vorzuhalten. Diese Entscheidung erweist sich indes nicht als offensichtlich
pflichtwidrig – vielmehr hatten die Einsatzkräfte auch bei der Räumung die
Verhältnismäßigkeit zu wahren und unnötige Gesundheitsgefahren zu
vermeiden – und lässt auch keine bewusste Verzögerung der Räumung
erkennen. Wie bereits ausgeführt, hält sich die polizeiliche Taktik,
Verzögerungen durch Deeskalationsmaßnahmen in Kauf zu nehmen und im
Gegenzug eine höhere Akzeptanz und damit die zügige reibungslose
Durchführung der Räumung zu erreichen und Solidarisierungseffekte
zwischen passiven Blockierern und gewaltbereiten Störern zu verhindern,
noch im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessensbetätigung. Die Annahme des
Klägers, dass die Räumung durch ein „Austrocknen“ der Blockade schneller
vonstatten gegangen wäre, bleibt dagegen spekulativ.
2. Aus den vorstehenden Erwägungen bleibt auch der Hilfsantrag ohne Erfolg.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit
§ 708 Nr. 11 ZPO.
IV. Gründe, die Berufung zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Eine
grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt der
Rechtssache nicht zu, weil die Rechtmäßigkeit konkreter
versammlungsrechtlicher Maßnahmen nur anhand der Umstände des
jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden kann. Die Kammer weicht mit der
Entscheidung auch nicht im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO von einer
Entscheidung der dort genannten Gerichte ab.