Urteil des VG Hannover vom 07.11.2013

VG Hannover: aufschiebende wirkung, bundesamt, anhörung, annahme des antrags, verordnung, asylverfahren, genfer flüchtlingskonvention, ärztliche behandlung, abschiebung, medizinische betreuung

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Zum Selbsteintritt des BAMFl nach Art. 3 Abs. 2
Dublin II VO
1. Die inhaltliche Anhörung des Asylbewerbers zu seinen Fluchtgründen ist
keine (konkludente) Ausübung zum Selbsteintrittsrecht.
2. Wenn die Anhörung zum Fluchtweg konkrete Anhaltspunkte für eine
anderweitige Asylantragstellung liefert, (hier: Abnahme von
Fingerabdrücken in Italien), das BAMFl deshalb mitteilt, es müsste zunächst
seine Zuständigkeit überprüfen, es dann den Asylbewerber inhaltlich anhört
und das Wiederaufnahmegesuch nach Art. 20 Dublin II VO erst 9 Monate
nach der Anhörung stellt, ist von einem konkludenten Selbsteintritt
auszugehen.
VG Hannover 2. Kammer, Urteil vom 07.11.2013, 2 A 75/13
§ 27a AsylVfG, § 34a AsylVfG, Art 3 Abs 2 EGV 343/2003, Art 20 EGV 343/2003
Tenor
Die drei Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
11.12.2012 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der im Jahr H. geborene Kläger zu 1) und die im Jahre I. geborene Klägerin
zu 2) sind seit 1992 verheiratet. Die in den Jahren J., K. und L. geborenen
Kläger zu 3) bis 5) sind ihre in Syrien geborenen Kinder. Die Familie ist
kurdischer Volkszugehörigkeit und syrischer Staatsangehörigkeit. Die Familie
reiste im Juli 2011 von Libyen nach Italien (Lampedusa). Die Kläger zu 3) bis
5) reisten im September 2011 in die Bundesrepublik Deutschland ein und
wohnten zunächst bei ihrem Onkel und Vormund. Ihre Eltern folgten ihnen im
November 2011, als sie mit dem Pkw über Österreich einreisten. Alle Kläger
stellten am 17.11.2011 einen Asylantrag.
Die Kläger zu 1) und 2) wurden zu ihrem Asylbegehren am 17.11.2011 vor
dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) in
kurdischer Sprache zur Vorbereitung der Anhörung zu ihren Personalien,
ihrem Reiseweg und ihrem Aufenthalt in Italien befragt. Die Kläger brachten
hier vor, sie hätten in Italien keinen Asylantrag gestellt. Es seien ihnen nur ihre
Fingerabdrücke abgenommen worden. Am Ende der Befragung erhielten sie
den Hinweis, das Bundesamt werde aufgrund ihrer Angaben zunächst prüfen,
ob Deutschland für eine inhaltliche Prüfung ihres Asylantrages zuständig ist.
Am 29.11.2011 wurden die Kläger zu 1) und 2) zu den Gründen ihrer Flucht
aus Syrien angehört. Sie erklärten dort übereinstimmend, die Familie habe seit
2004 in Libyen gelebt, wo der Kläger zu 1) als selbstständiger Maurer tätig
gewesen sei. Nach dem Aufstand von Kamishli im März des Jahres 2004
seien sie nicht wieder nach Syrien zurückgekehrt, weil der Ehemann von den
syrischen Behörden gesucht werde. Im Anschluss an ein Fußballspiel sei es
zu Auseinandersetzungen zwischen arabischen und kurdischen Zuschauern
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gekommen, bei denen auch Personen zu Tode gekommen seien. Bei den
anschließenden Demonstrationen der kurdischen Bevölkerung habe er – der
Kläger zu 1) – mit zwei weiteren Männern das Denkmal des Vaters des
Staatspräsidenten beschädigt. Zwei Tage später seien seine beiden Begleiter
festgenommen worden. Er habe sich daraufhin versteckt gehalten und sei über
Damaskus und einem zweimonatigem Aufenthalt in Jordanien nach Libyen
gereist. In Jordanien habe er telefonisch von seinem Bruder erfahren, dass
einer seiner beiden Begleiter unter der Folter seinen Namen preisgegeben
habe.
Nachdem am 16.07.2012 eine Sachstandsanfrage des früheren
Prozessbevollmächtigten beim Bundesamt einging, richtete es unter dem
27.08.2012 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin-II-Verordnung an Italien.
Es hatte einen EURODAC-Treffer ermittelt sowie eine Asylantragstellung der
Kläger in Como am 08.08.2011. Das italienische Innenministerium erkannte
daraufhin mit Schreiben vom 06.09.2012 die Zuständigkeit Italiens für die
Bearbeitung der Asylanträge gemäß Art. 16 Abs. 1c der Dublin-II-Verordnung
an.
Das Bundesamt entschied daraufhin mit drei Bescheiden vom 11.12.2012, die
Asylanträge der Kläger seien unzulässig, und ordnete ihre Abschiebung nach
Italien an. In den Bescheiden führt es im Einzelnen aus, dass Italien
gegenüber Asylantragstellern den Mindeststandard erfülle und für einen
Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung keine
hinreichenden Anhaltspunkte bestünden. Die Bescheide wurden den Klägern
am 20.12.2011 durch die Region Hannover als zuständige Ausländerbehörde
übergeben. Mit Schreiben vom gleichen Tage teilte die Region den Klägern
mit, ihre Rückführung nach Italien sei für den 10.01.2013 um 8.00 Uhr morgens
vorgesehen.
Die Kläger haben am 02.01.2013 Klage erhoben und zugleich um vorläufigen
Rechtsschutz nachgesucht. Der Einzelrichter hat mit Beschluss vom
07.10.2013 – 2 B 76/13 – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die drei
Bescheide vom 11.12.2012 angeordnet. Auf die Gründe dieses Beschlusses
wird zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen.
Zur Begründung ihrer Klage bringen die Kläger vor: In Italien seien ihnen
lediglich Fingerabdrücke abgenommen worden, einen Asylantrag hätten sie
nicht gestellt. Allerdings seien sie in Como aufgefordert worden, ein
Schriftstück zu unterschreiben. Dem seien sie nachgekommen, obwohl sie
wegen des Fehlens eines Dolmetschers den Inhalt des Papiers nicht
verstanden hätten. Die Praxis der Durchführung von Asylverfahren entspreche
in Italien nicht den Anforderungen des EU-Rechts, wie sich insbesondere aus
dem Gutachten der Flüchtlingsorganisation Borderline-Europe,
Menschenrechte ohne Grenzen e.V. – Außenstelle Italien – (Judith Gleitze)
aus dem Dezember 2012, erstellt für das VG Braunschweig ergebe. Sie
können auch nicht mehr nach Italien abgeschoben werden, weil das
Bundesamt sein Übernahmeersuchen an Italien verspätet – nach Ablauf von
drei Monaten – gestellt habe. Das Bundesamt habe von dem Italienaufenthalt
seit der Anhörung im November 2011 gewusst, das Verfahren entgegen dem
Grundgedanken der Dublin-II-Verordnung aber nicht zügig und rasch
durchgeführt. Die Kläger zu 2) und 5) litten unter starken psychischen
Erkrankungen und würden auch bereits ärztlich behandelt. Eine solche
ausreichende ärztliche Behandlung könnten sie in Italien nicht erlangen, zumal
ein Asylverfahren dort schon mehr als sechs Monate alt sei. Die Kläger legen
ein ärztliches Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. M. vom
28.08.2013 vor, der für die Klägerin zu 2) die Diagnose „Angst und depressive
Störung, Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung“ stellt und eine
fachpsychologische Therapie für dringend erforderlich hält. Eine inhaltsgleiche
Diagnose hat dieser Arzt am 05.07.2013 für den Kläger zu 5) gestellt. Die
Klägerin zu 2) hat für den 03.12. einen Termin bei der Fachärztin für
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Neurologie und Psychiatrie (Psychotherapie) –N. in Barsinghausen –
vereinbart.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung der drei Bescheide des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11.12.2012 zu
verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen
und das Asylverfahren durchzuführen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
weil systemische Mängel im Asylverfahren in Italien nicht ersichtlich seien und
dort auch eine hinreichende medizinische Betreuung – auch psychischer
Erkrankungen – gewährleistet sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Akten
des Bundesamtes verwiesen. Die Kammer hat die Kläger zu 1), 2) und 3) in
der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört, wegen ihrer Aussage
wird auf das Verhandlungsprotokoll Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Soweit sie über die Anfechtung
des Bundesamtsbescheides hinausgehend darauf gerichtet ist, das
Bundesamt zur Durchführung eines Asylverfahrens zu verpflichten, kommt
diesem Begehren eine rechtlich selbständige Bedeutung nicht zu. Die insoweit
beantragte Rechtsfolge ergibt sich im Falle des Erfolgs des
Anfechtungsbegehrens unmittelbar aus der gesetzlichen Regelung. Die
Kammer hat in ihrem Urteil vom 13.09.2013 – 2 A 4489/12 – bereits
entschieden, dass in vorliegender Konstellation allein eine isolierte
Anfechtungsklage statthaft ist. Da die Kläger im gerichtlichen Verfahren keinen
auf ihre Anerkennung als Flüchtling zielenden Antrag gestellt haben, kann das
Klagebegehren im Wege der Auslegung als bloßer Hinweis auf die Rechtslage
verstanden werden.
Das Anfechtungsbegehren muss in der Sache Erfolg haben. Die angefochten
drei Bescheide des Bundesamtes vom 11.12.2012 erwiesen sich als
rechtswidrig und verletzen deshalb die Kläger ihren Rechten, sodass sie
antragsgemäß aufzuheben sind, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Asylanträge der Kläger sind unzulässig nach Maßgabe des § 27a
AsylVfG, wenn nicht die Bundesrepublik Deutschland sondern ein anderer
Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder
eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung der Asylverfahren
zuständig ist. Die in den angegriffenen Bescheiden des Weiteren verfügte
Anordnung der Abschiebung der Kläger nach Italien ist rechtens, wenn
feststeht, dass die Abschiebung der Kläger in den anderen für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat durchgeführt werden
kann, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der hier anwendbaren (§ 77 Abs. 1 Satz
1 AsylVfG) Fassung vom 28.08.2013.
Die Abschiebung kann nicht durchgeführt werden, wenn wegen eines
inlandsbezogenen Hindernisses Abschiebungsschutz zu gewähren ist. Im
Gegensatz zur Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylVfG, die das
Bundesamt mit der Entscheidung über den Asylantrag erlässt und bei der es
nur sog. zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zu berücksichtigen hat
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(BVerwGE 105, 323 f., 383 f.), muss das Bundesamt bei Erlass der
Abschiebungsanordnung feststellen, dass alle Zulässigkeitsvoraussetzungen
für eine Abschiebung erfüllt sind und die Abschiebung durchgeführt werden
kann. Die Abschiebungsanordnung ist also rechtswidrig, wenn die
Abschiebung aus in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich
oder tatsächlich nicht möglich ist (OVG Hamburg, Beschluss vom 03.12.2010,
juris; VGH Mannheim, Beschluss vom 31.05.2011, AuAs 2011, 187; OVG
Lüneburg, Beschluss vom 02.05.2012, AuAs 2012, 164). Die geltend
gemachten Erkrankungen der Klägerin zu 2) und des Klägers zu 5)
ergeben einen solchen Duldungsgrund nicht. Dazu sind die bisher
vorgelegten ärztlichen Atteste zu unsubstantiiert. Um dem Verdacht auf eine
PTBS näher nachzugehen, muss sich aus einer ärztlichen Bescheinigung
regelmäßig nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage ein Facharzt
seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall
darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich
der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm
geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden.
Des Weiteren soll das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit,
deren Behandlungsbedürftigkeit sowie über den bisherigen
Behandlungsverlauf geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf
traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome
erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, ist
regelmäßig auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung
nicht früher geltend gemacht worden ist (BVerwG, Urteil vom 11.09.2007,
NVwZ 2008, 330). Die Kammer sieht in Anwendung dieser Grundsätze keinen
Anlass, den geltend gemachten Erkrankungen von Amts wegen näher
nachzugehen. Sie berücksichtigt dabei auch, dass sich die Kläger vor ihrer
Einreise nach Italien für acht Jahre in Libyen aufgehalten haben.
Die Klage muss jedoch Erfolg haben, weil die Asylanträge der Kläger zulässig
sind.
Die Zuständigkeit Italiens ist für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß
Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II VO zunächst einmal begründet worden. Die
gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO vorrangig zu prüfenden
Zuständigkeitskriterien nach Art. 6 bis 9 dieser Verordnung sind nicht
einschlägig. Nach ihren Angaben reisten die Kläger aus Libyen kommend auf
dem Seeweg nach Italien (Lampedusa) ein. Das italienische Innenministerium
hat bestätigt, dass die Kläger in Italien einen Asylantrag gestellt haben. Die
Kläger haben dies zunächst abgestritten, schließlich aber doch eingeräumt,
dass sie etwas unterschrieben hätten, was sie nicht verstanden haben. An der
Asylantragstellung hat die Kammer aufgrund der italienischen Urkunden keine
Zweifel. Italien hat sich gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchstabe c Dublin II VO
ausdrücklich für die Wiederaufnahme zuständig erklärt.
Die Zuständigkeit für die Bescheidung der Anträge ist nicht gemäß § 17 Abs. 1
Satz 2 Dublin II VO auf die Beklagte übergegangen. Nach dieser Vorschrift hat
der Mitgliedsstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde und der einen anderen
Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, diesen in jedem
Fall innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrages zu ersuchen,
den Asylbewerber aufzunehmen. Bei Überschreitung der Frist geht die
Zuständigkeit auf den ersuchenden Staat über. Die Kläger haben ihre
Asylanträge in Deutschland am 17.11.2011 gestellt, das Übernahmeersuchen
des Bundesamtes aber erst am 27.08.2012 an Italien gerichtet, mithin erst
neun Monate später. Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO ist hier jedoch nicht
einschlägig. Denn die dort genannte Dreimonatsfrist gilt ausdrücklich nur im
Rahmen des Aufnahmeverfahrens, nicht aber in Fällen des
Wiederaufnahmeverfahrens. Die Dublin II VO unterscheidet gerade in Art. 16
Abs. 1 zwischen der Überstellung des Asylsuchenden in einem
Aufnahmeverfahren gemäß den Artikel 17 bis 19 der VO einerseits und einer
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Überstellung des Asylsuchenden im Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 20
der VO andererseits. Durch Art. 16 Dublin II VO wird der Anwendungsbereich
der nachfolgenden Art. 17 bis 20 der VO bestimmt. Aus den dort für Aufnahme-
und Wiederaufnahmeverfahren vorgesehenen unterschiedlichen Rechtsfolgen
ergibt sich, dass für das Wiederaufnahmeverfahren eine
Übernahmeersuchensfrist in der VO nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Art. 20
der VO nennt eine solche Frist nicht und nimmt auch nicht die Regelung in Art.
17 Abs. 1 der VO Bezug.
Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist auch nicht
gemäß Art. 20 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Buchstabe d Satz 2 Dublin II VO auf die
Beklagte übergegangen. Danach erfolgt die Überstellung des Asylsuchenden
von dem Mitgliedsstaat, in dem der zweite Asylantrag gestellt wurde
(Bundesrepublik Deutschland) in dem Mitgliedstaat, der die Wiederaufnahme
akzeptiert (Italien), gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des
ersuchenden Mitgliedsstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten
Mitgliedsstaaten, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb
einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf
Wiederaufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser
aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von
sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit gemäß Art. 20 Abs. 2
Satz 1 Dublin II VO auf den Mitgliedsstaat über, in der der zweite Asylantrag
eingereicht wurde. Im vorliegenden Fall hat Italien das
Wiederaufnahmegesuch unter dem 06.09.2012 ausdrücklich angenommen.
Seitdem sind zwar mehr als sechs Monate verstrichen. Dies führt jedoch nicht
zu einer Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung des Asylverfahrens.
Die Überstellungsfrist beginnt nämlich frühestens mit der Entscheidung im
Hauptsacheverfahren über den Rechtsbehelf des Asylsuchenden gegen die
Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag wegen der Zuständigkeit
eines anderen Mitgliedstaates nicht zu prüfen, sofern der Rechtsbehelf
aufschiebende Wirkung hat (vgl. EuGH, Urteil vom 29.01.2009 – C 19/08 –
juris; Nds.OVG, Beschluss vom 02.08.2012 – 4 MC 133/12 – juris Rdnr. 14).
Der von den Klägern eingelegte Rechtsbehelf der Klage hatte aufschiebende
Wirkung im Sinne des Art. 20 Abs. 1 Buchstabe d Dublin II VO. Die Kammer
hat nämlich durch ihren Einzelrichter im Beschluss vom 07.01.2013 – 2 B
76/13 – die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen die drei
Bescheide des Bundesamtes vom 11.12.2012 angeordnet, die hier
streitbefangen sind. Die Rechtsfolge der aufschiebenden Wirkung ist damit
eingetreten, auch wenn zum Zeitpunkt der damaligen Eilentscheidung das
nationale geschriebene Recht einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung
nicht vorgesehen hatte (§ 34 AsylVfG a. F.).
Eine Pflicht der Beklagten, die Asylanträge der Kläger in eigener Zuständigkeit
zu prüfen und zu entscheiden, ergibt sich auch nicht aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II
VO. Diese Vorschrift verpflichtet die Beklagte nicht zur Ausübung des eigenen
Prüfungsrechts im Wege des sog. Selbsteintritts. Nach der genannten Norm
kann jeder Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen
eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung
festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Ob er von dieser
Befugnis Gebrauch macht, steht grundsätzlich in seinem pflichtgemäß
auszuübenden Ermessen. Eine Reduzierung des Ermessens der Beklagten
auf null ist nicht erkennbar. Der durch die Dublin II VO geschaffenen
Zuständigkeitsregelung zwecks Verwirklichung eines gemeinsamen
europäischen Asylsystems, wie es Art. 78 des Vertrages über die Arbeitsweise
der Europäischen Union – AEUV – vorschwebt, liegt die Annahme zugrunde,
in allen Mitgliedstaaten sei die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention
und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt. Eine
Durchbrechung dieses sog. Konzepts der normativen Vergewisserung
aufgrund einer Reduzierung des Ermessens eines Mitgliedsstaats nach Art. 3
Abs. 2 Dublin II VO auf null kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn sich
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aufgrund konkreter Tatsachen aufdrängt, dass der Asylbewerber von einem
Sonderfall betroffen ist, der von dem vorgenannten Konzept nicht aufgefangen
wird. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 21.12.2011 – C 411/10
und C 493/10 – juris) ist von einem solchen Ausnahmefall nur dann
auszugehen, wenn es ernstzunehmende und durch Tatsachen gestützte
Gründe dafür gibt, dass in dem Mitgliedsstaat, in den abgeschoben werden
soll, in verfahrensrechtlicher oder materieller Hinsicht nach aktuellen
Erkenntnissen kein hinreichender Schutz gewährt wird. Dafür reicht aber nicht
jeder Verstoß gegen die GFK oder die EMRK oder gegen die Richtlinie über
die Mindestnormen aus. Erforderlich ist vielmehr, dass das Asylverfahren oder
die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedsstaat
systemische, dem ersuchenden Mitgliedsstaat nicht unbekannte Mängel
aufweisen, die für den Asylbewerber eine tatsächliche Gefahr begründen,
einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3
EMRK, der mit Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
übereinstimmt, ausgesetzt zu sein. Die Kammer hat bereits im genannten Urteil
vom 13.09.2013 in Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemachten Erkenntnismittel entschieden, dass diese
Voraussetzungen hinsichtlich Italiens nicht vorliegen. Dafür spricht auch die
neuere, im dortigen Verfahren noch nicht berücksichtigte Auskunft des
Auswärtigen Amtes vom 21.01.2013 an das OVG Magdeburg.
Dieses Ergebnis gilt auch in Ansehung der geltend gemachten Erkrankungen
der Klägerin zu 2) und des Klägers zu 5). Das Auswärtige Amt (aaO) führt
insoweit aus, eine ärztliche Versorgung sei im Allgemeinen auch gewährleistet,
soweit es um die Behandlung von psychischen bzw. traumatischen
Erkrankungen geht. Eine kostenfreie medizinische Versorgung stehe auch
Personen zu, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind. Die
Notambulanz ist für alle Personen in Italien kostenfrei. Dies gilt auch für
Asylbewerber während des Asylverfahrens. Die in Italien bestehenden
Probleme sind keine systemischen Mängel, die als landesweite strukturelle
Missstände charakterisiert werden könnten.
Im Einzelfall kann unabhängig von der Lage in Italien aus individuellen, in der
Person des Asylsuchenden liegenden Gründen Abweichendes geboten sein,
wenn diese Gründe von vornherein von dem dargelegten Konzept der
normativen Vergewisserung nicht erfasst sind. Von Überstellungen in einen
anderen Mitgliedsstaat ist etwa dann abzusehen, wenn der betroffene
Asylsuchende zu den in Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom
27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von
Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten zählt. Dazu muss der Betroffene nach
einer Prüfung seines Einzelfalles seiner Situation als besonders hilfebedürftig
anerkannt worden sein und zu der besonders schutzbedürftigen
Personengruppe der Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen,
Schwangeren oder Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern gehören
oder aber Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer,
physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. Für solche beachtlichen
Gründe gibt der Vortrag der Kläger nichts her.
Das Bundesamt hat jedoch das Selbstantrittsrecht aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II
VO bereits ausgeübt und durfte deshalb als zuständige Behörde die
Asylanträge nicht als unzulässig behandeln. Wie ein Selbsteintritt auszuüben
ist, wird durch die VO nicht vorgegeben. Maßgeblich kann daher nur sein, dass
das Bundesamt seine Entschließung in irgendeiner verlässlichen Art und
Weise nach außen erkennbar werden lässt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
sich die Ausübung des Selbsteintrittsrechts auch konkludent aus den
Umständen ergeben kann. So soll regelmäßig mit Beginn einer inhaltlichen
Anhörung des Asylbewerbers zu den eigentlichen Fluchtgründen das
Selbsteintrittsrecht ausgeübt worden sein (GK-Funke Kaiser, § 27a AsylVfG
Randziffer 148), während das bloße Anhören zum Reiseweg oder zu
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Voraufenthalten in anderen Staaten dagegen nicht als Ausübung des
Selbsteintrittsrechts verstanden werden kann, da diese Frage typischerweise
zur Klärung gerade der Zuständigkeit dienen. Im vorliegenden Fall sind die
Kläger zu 1) und 2) am 17.11.2011 zur Vorbereitung der Anhörung nach § 25
AsylVfG befragt worden. In dieser Befragung ging es allein um die Familien-
und Personenstandsverhältnisse, Wohnort in Syrien und den Aufenthalt in
Italien sowie den Reiseweg. Am 29.11.2011erfolgte die Anhörung zu den
eigentlichen Fluchtgründen und den Geschehen in der Heimat der Kläger.
Diese zweigeteilte Anhörung führt zur Überzeugung der Kammer jedoch allein
noch nicht dazu, dass von einem Selbsteintritt des Bundesamtes
ausgegangen werden kann. Schließlich gibt es gute Gründe der
Verfahrensgestaltung und -ökonomie, vorbereitend zur eigentlichen Anhörung
Fragen zur Person und zum Reiseweg vorzuziehen. Geht das Bundesamt so
vor, macht es noch nicht in einer nach außen verlautbarten Weise deutlich,
dass es sich für die Prüfung des Asylantrages zuständig hält. Davon kann
insbesondere in den Fällen nicht ausgegangen werden, in denen die
Anhörung zum Reiseweg keine Anhaltspunkte für eine anderweitige
Asylantragstellung gewinnt. Für die Annahme eines - auch konkludenten -
Selbsteintritts sind für den Antragsteller erkennbare Umstände unverzichtbar,
weil die Verfahrenshandlung aus der Sicht des Asylbewerbers ausgelegt
werden muss. Es gelten insoweit die allgemeinen Auslegungsregeln für
Willenserklärungen, vgl. §§ 133,157 BGB.
Im vorliegenden Einzelfall ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass
das Bundesamt das Verfahren so betrieben hat, dass die Kläger davon
ausgehen dürften, es werde ihre Anträge in der Sache prüfen. Maßgeblich für
diese Einschätzung sind zwei Aspekte, die zusammengenommen ein
Vertrauen der Kläger in eine sachliche Bescheidung begründen,
Am Ende der Anhörung vom 17.11.2011 ist an beide Kläger unabhängig
voneinander der Hinweis ergangen, dass „aufgrund ihrer gemachten Angaben
das Bundesamt nunmehr zunächst die Frage überprüfen wird, ob Deutschland
für eine inhaltliche Prüfung des Asylantrages zuständig ist“. Diese Anhörung
hatte, weil die Kläger geschildert hatten, ihnen seien in Italien Fingerabdrücke
abgenommen worden, eindeutige Hinweise auch auf eine Asylantragstellung
ergeben. Am 29.11.2011 sind dann die Kläger ohne weitere Erklärung
inhaltlich zu ihren Asylgründen gemäß § 25 AsylVfG befragt worden. Sie
wurden aufgefordert, alle Fakten und Ereignisse zu schildern, die die
Verfolgungsfurcht begründen sowie einer Abschiebung in ihren Heimatstaat
entgegenstehen. Erst nachdem der damalige Prozessbevollmächtigte unter
dem11.07.2012 nachfragte, wann mit einer Sachentscheidung gerechnet
werden könne, hat das Bundesamt am 27.08.2012 ein Übernahmeersuchen
an Italien gerichtet. Am gleichen Tage wurde dem früheren
Prozessbevollmächtigten erstmals mitgeteilt, der Asylantrag werde nunmehr in
Dublin-Referat des Bundesamtes bearbeitet und ein Übernahmeersuchen an
Italien gestellt werden. Die durch den Hinweis an die Kläger geweckte
Erwartung der zunächst erfolgenden Zuständigkeitsprüfung, die ohne weitere
Erklärung folgende inhaltliche Befragung in Zusammenhang mit einer
anschließenden Untätigkeit von neun Monaten bilden in ihrer Gesamtheit für
die Kläger einen Vertrauenstatbestand, weil sie im Zeitpunkt der
Sachstandsanfrage ihres Bevollmächtigten davon ausgehen durften, ihre
Antrage in der Sache geprüft und entschieden zu bekommen. Folglich hat sich
das Selbsteintrittsrecht der Beklagten zu einer Pflicht zum Selbsteintritt
verdichtet.
Das Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 20 Dublin II VO kennt zwar eine
Ausschlussfrist für die Stellung des Wiederaufnahmegesuchs nicht. Die
Dreimonatsfrist des Art. 17 Abs. 2 der VO gilt hier wie ausgeführt nicht.
Dennoch ergeben sich aus der Dublin II VO Anhaltspunkte dafür, dass die
Stellung des Gesuchs nicht beliebig hinausgezögert werden darf. Der vierte
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Erwägungsgrund der Verordnung verweist darauf, dass insbesondere eine
rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates ermöglicht werden soll,
um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der
Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen
Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Der 15. Erwägungsgrund
stellt klar, dass die Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und
Grundzügen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union anerkannt werden im Einklang steht, und dass sie
insbesondere darauf abzieht, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18
verankerten Rechts auf Asyl zu gewähren. Der EuGH (4. Kammer) hat schon
in seinem Urteil vom 29.01.2009, (NJW 2009, 639) auf die Bedeutung und die
Notwendigkeit einer zügigen Bearbeitung von Asylverfahren nach der Dublin II
VO hingewiesen. In seinem Urteil vom 21.12.2011 - C 411/10 - NVwZ 2012,
413) hat der EuGH den Mitgliedsstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet,
verpflichtet, darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte
verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur
Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates verschlimmert wird.
Erforderlichenfalls müsse er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2
der Dublin II VO selbst prüfen (Randziffer 98). Aus diesen Bestimmungen kann
ein Vertrauensschutz für Asylsuchende im Hinblick auf die Dauer des
Verfahrens zur Prüfung der Zuständigkeit abgeleitet werden. Auf der anderen
Seite ist das Bundesamt in der Pflicht, die Ungewissheit der Kläger im Bezug
darauf, ob sie ein Verbleiben im Bundesgebiet erwarten können, alsbald zu
beenden. Jedenfalls Ende August 2012, als das Bundesamt ihrem
Prozessbevollmächtigten von dem Übernahmeersuchen an Italien
unterrichtete, also neun Monate, nachdem die Kläger zu ihrem Asylbegehren
nach dem Hinweis auf eine anstehende Zuständigkeitsprüfung inhaltlich
befragt worden sind, geht die Kammer von einem im Wege der Auslegung
nach außen verlautbarten Willen aus, die Begehren inhaltlich zu bescheiden.
Die hier nicht anwendbaren, aber dem Beschleunigungsgrundsatz Rechnung
tragenden Fristen der Dublin II VO sind zu diesem Zeitpunkt bei Weitem
überschritten. Als Maßstab dessen, was ein „unangemessen langes
Verfahren“ im Sinne der genannten EuGH-Entscheidung ist, kann auch die
Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
26.06.2013 (Dublin III VO) Amtsblatt L 180 S. 31 f. gelten. Unmittelbar gilt diese
Verordnung gemäß ihrem Art. 49 Abs. 2 allerdings erst für Anträge auf
internationalen Schutz und für alle Gesuche um Aufnahme oder
Wiederaufnahme von Antragstellern, die ab dem 1. Tag des sechsten Monats
nach ihrem Inkrafttreten gestellt werden. In Zukunft sieht Art. 23 Abs. 2 Dublin
III VO vor, dass ein Wiederaufnahmegesuch sobald wie möglich zu stellen ist,
auf jedem Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der EURO-DAC
Treffermeldung. Weil die Neufassung der Dublin VO in ihrem Art. 21 Abs. 1 die
Dauer der Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuchs unverändert bei drei
Monaten belässt, kann hieraus der Schluss gezogen werden, dass schon
nach der Intention der alten Rechts eine zügige Entscheidung über die Frage
herbeizuführen ist, in welchem Mitgliedsland der Europäischen Union ein
Asylverfahren letztlich zu betreiben ist.
Als Unterlegene hat die Beklagte die Verfahrenskosten gemäß § 154 Abs. 1
VwGO zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.