Urteil des VG Hannover vom 03.07.2014

VG Hannover: anbieter, verfügung, berufsfreiheit, wahlrecht, therapie, legasthenie, ermessen, streichung, niedersachsen, rechtswidrigkeit

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Information der Leistungsberechtigten über Anbieter
ambulanter Therapieangebote im Rahmen des § 35a
SGB VIII mittels gefilterter Anbieterliste
1. Die Verpflichtung zur Übernahme von Kosten einer ambulanten
Legasthenie- oder Dyskalkulietherapie unter Berücksichtigung des Wunsch-
und Wahlrechtes aus § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist nicht davon abhängig,
dass die jeweiligen Anbieter mit dem Jugendhilfeträger eine (Kosten-
)Vereinbarung nach § 77 SGB VIII getroffen haben.
2. Die Nutzung einer Liste zur Information der Leistungsberechtigten über
Anbieter bewilligter bzw. zu bewilligender Therapien seitens des
Jugendhilfeträgers, in der nur solche Anbieter aufgeführt sind, mit denen
der Jugendhilfeträger eine Vereinbarung nach § 77 SGB VIII getroffen hat -
gefilterte Anbieterliste - , stellt einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die von
Art. 12 GG geschützten Marktteilnahmechancen der nicht
vereinbarungsgebundenen Anbieter derartiger Therapien dar.
3. Die Verwendung einer gefilterten Anbieterliste verstößt gegen die Pflicht
des Jugendhilfeträgers zur Information der Leistungsberechtigten über ihr
Wunsch- und Wahlrecht.
VG Hannover 3. Kammer, Beschluss vom 03.07.2014, 3 B 9975/14
§ 5 Abs 1 S 2 SGB 8, § 5 Abs 1 S 1 SGB 8, § 77 SGB 8, § 35a SGB 8, Art 12 GG
Tenor
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Nachdem die Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache
für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des
§ 92 Abs. 3 VwGO einzustellen; zugleich entscheidet das Gericht gemäß §
161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und
Streitstandes nach billigem Ermessen über die Kosten.
Billigem Ermessen entspricht es, der Antragsgegnerin die Kosten
aufzuerlegen, denn sie wäre bei einer streitigen Entscheidung des Verfahrens
voraussichtlich unterlegen gewesen.
Streitgegenstand des Verfahrens war das Begehren der Antragsteller, der
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, im
Rahmen der Bewilligung von ambulanten Dyskalkulie- oder
Legasthenietherapien auf Basis des § 35a SGB VIII den Leistungsberechtigten
eine Anbieterliste zur Verfügung zu stellen, in denen sie - die Antragsteller -
nicht (mehr) aufgeführt sind („gefilterte“ Liste). Hintergrund dafür war die
Ankündigung der Antragsgegnerin, ab dem 01.07.2014 aus der von ihr bereits
seit mehreren Jahren geführten und den Leistungsberechtigten im Rahmen
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des Bewilligungsverfahrens zur Verfügung gestellten Liste von Anbietern
ambulanter Legasthenie- und Dyskalkulietherapien diejenigen Anbieter zu
streichen, die das von ihr - der Antragsgegnerin - unterbreitete Angebot einer
Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarung auf der Basis von § 77 SGB VIII
bis dahin nicht angenommen hatten.
Für ihr Begehren, das sich mit der Erklärung der Antragsgegnerin, in Zukunft
überhaupt keine Anbieterliste den Leistungsberechtigten gegenüber mehr
verwenden zu wollen, in der Sache erledigt hat, hatten die Antragsteller bei
summarischer Prüfung sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen
Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.
Der Anordnungsanspruch ergab sich danach daraus, dass die Verwendung
der „gefilterten“ Liste einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die grundrechtlich
gemäß Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit der Antragsteller bedeutet hätte.
Ein hoheitliches Handeln greift bereits dann in den Schutzbereich der
Berufsfreiheit ein, wenn es auf Grund seiner tatsächlichen Auswirkungen die
Berufsfreiheit zumindest mittelbar beeinträchtigt und es erkennbar eine
berufsregelnde Tendenz oder eine voraussehbare oder in Kauf genommene
schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen Betätigungsfreiheit aufweist.
Davon ist unter anderem dann auszugehen, wenn durch hoheitliches Handeln
der Wettbewerb beeinflusst wird und Konkurrenten deutlich benachteiligt
werden (BVerfG, Beschl. vom 25.03.1992 - 1 BvR 298/68 - BVerfGE 86, 28,
37).
Mit der Streichung der Antragsteller aus der Anbieterliste hätten diese
gegenüber den auf der Liste verbleibenden Anbietern ambulanter
Legasthenie- oder Dyskalkulietherapien einen deutlichen Wettbewerbsnachteil
hinnehmen müssen. Denn es entspricht allgemeiner Lebenserfahrung und ist
nahe liegend, dass die Leistungsberechtigten, schon um die
Leistungsbewilligung in der Sache nicht zu gefährden oder in der Abwicklung
zu verkomplizieren, zur Auswahl eines konkreten Therapieangebotes
vorrangig auf eine vom Jugendhilfeträger zur Verfügung gestellte Anbieterliste
zurückgreifen, zumal wenn damit der Hinweis verbunden ist, dass damit die
kostenmäßige Abwicklung gesichert sei. Anbieter, die nicht auf dieser Liste
aufgeführt sind, obwohl sie fachlich zur Durchführung derartiger Therapien
geeignet sind, müssen deshalb damit rechnen, für vom Jugendhilfeträger
bewilligte und somit auch finanzierte Therapien von den Leistungsberechtigten
nicht (mehr) nachgefragt zu werden. Darin liegt eine erhebliche Schwächung
ihrer aus Art. 12 GG geschützten Marktteilnahmechancen.
Eine sachliche Rechtfertigung für den deshalb in der Streichung aus der
Anbieterliste liegenden Grundrechtseingriff besteht nicht. Sie ergibt sich
insbesondere nicht aus dem Umstand, dass die Antragsteller das ihnen von
der Antragsgegnerin unterbreitete Angebot zum Abschluss einer Leistungs-,
Entgelt- und Qualitätsvereinbarung auf der Basis von § 77 SGB VIII bisher
nicht angenommen haben. Das Vorhandensein einer derartigen Vereinbarung
ist nämlich, anders als im Grundsatz nach § 78b Abs. 1 SGB VIII im Bereich
der (teil-) stationären Jugendhilfeleistungen, gerade nicht Voraussetzung für
die Übernahme der für die ambulante Therapie anfallenden Kosten. Das in § 5
Abs. 1 Satz 1 SGB VIII verankerte Wunsch- und Wahlrecht der
Leistungsberechtigten hinsichtlich des Leistungserbringers wird allein vom
Mehrkostenvorbehalt in § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII begrenzt. Das bedeutet,
dass der Jugendhilfeträger bei seiner Entscheidung über das Hilfebegehren
und die damit verbundene Übernahme der für die bewilligte Therapie
anfallenden Kosten gerade nicht im Grundsatz danach differenzieren darf, ob
mit einem vom Leistungsberechtigten gewünschten Therapieanbieter eine
Vereinbarung nach § 77 SGB VIII geschlossen worden ist oder nicht. Vielmehr
hat der Jugendhilfeträger in jedem Einzelfall allein nach Maßgabe des § 5 Abs.
2 Satz 1 SGB VIII darüber zu befinden, ob die von einem nicht
vereinbarungsgebundenen Anbieter für die Therapie in Rechnung gestellten
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Kosten sich noch in der Bandbreite angemessener Kosten bewegen oder im
Sinne dieser Vorschrift „unangemessen“ sind. Dabei ist es rechtlich durchaus
denkbar, dass von einem nicht vereinbarungsgebundenen Anbieter in
Rechnung gestellte Kosten, die - namentlich hinsichtlich des Entgeltsatzes für
die einzelne Therapieeinheit - höher sind als die von der Antragsgegnerin in
ihrem Vereinbarungsangebot festgelegten Kosten, sich gleichwohl noch in der
Bandbreite angemessener Mehrkosten im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB
VIII bewegen und deshalb von der Antragsgegnerin zu übernehmen sind.
Angesichts dessen läge in der Verwendung einer „gefilterten“ Anbieterliste
seitens der Antragsgegnerin sogar ein Verstoß gegen die Pflicht des
Jugendhilfeträgers aus § 5 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, die Leistungsberechtigten
über ihr Wunsch- und Wahlrecht sachlich und rechtlich zutreffend zu
informieren.
Bei summarischer Prüfung hatten die Antragsteller auch einen
Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Dafür ist nicht
entscheidend, in welchem Umfang die einzelnen Antragsteller in der
Vergangenheit bereits von der Antragsgegnerin bewilligte Therapien
durchgeführt hatten oder solche gegenwärtig durchführen. Maßgebend ist
vielmehr, dass allen Antragstellern bei einem Verweis auf ein
Hauptsacheverfahren im Hinblick auf ihre weiteren Marktteilnahmechancen
bereits konkrete Beeinträchtigungen drohten. Angesichts der offenkundigen
Rechtswidrigkeit des beabsichtigten Vorgehens der Antragsgegnerin
einerseits und der Grundrechtsbetroffenheit auf Seiten der Antragsteller
andererseits sind unter Berücksichtigung des Verfassungsgebotes zur
Gewährung effektiven Rechtsschutzes an die Darlegung erheblicher Nachteile
bei einem Zuwarten auf den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens keine
weitergehenden Anforderungen zu stellen.
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 VwGO.