Urteil des VG Göttingen vom 08.11.2013

VG Göttingen: aufschiebende wirkung, bundesamt, klagefrist, abschiebung, verordnung, überstellung, behandlung, hauptsache, datenschutz, geschwister

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VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 08.11.2013, 2 B 853/13
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 852/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 8. Oktober 2013 anhängigen Klage der
Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 26. September 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 26. September 2013, der der
Antragstellerin über ihren Prozessbevollmächtigten offensichtlich am 2.
Oktober 2013 per Einschreiben zugestellt wurde, entschieden, dass der von
der Antragstellerin in Deutschland am 2. April 2013 gestellte (weitere)
Asylantrag unzulässig ist (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die
Abschiebung der Antragstellerin nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen
wendet sich die Antragstellerin mit ihrer in der Hauptsache - 2 A 852/13 -
anhängigen Klage, die am 8. Oktober 2013 beim erkennenden Gericht
eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - hat sie um Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage ist somit
innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben
worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1
Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit
Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im
vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen
Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige
Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien
der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der
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Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im
Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des
angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen
eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des §
74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist,
wäre diese vorliegend auch gewahrt.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragstellerin aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil bei dieser Entscheidung der Grundsatz der Wahrung der
Familieneinheit nicht in den Blick genommen wurde.
Wie die Kammer in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren der 25-jährigen
Tochter der Antragstellerin (Beschluss vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -,
zit. nach juris) ausgeführt hat, bestehen derzeit erhebliche Bedenken an deren
Reisefähigkeit, denen das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung
hätte nachgehen müssen. Die Kammer hat deshalb die aufschiebende
Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 782/13 bei der erkennenden
Kammer seit dem 27. August 2013 anhängigen Klage der psychisch
erkrankten und seit August 2013 in stationärer Behandlung befindlichen
Tochter der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 21. Juni
2013 angeordnet (a.a.O.).
Da die Antragstellerin die Mutter der psychisch erkrankten Antragstellerin im
Verfahren 2 B 783/13 ist und im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung durch
das Bundesamt am 26. April 2013 nachvollziehbar dargelegt hat, dass ihre
Tochter bereits in der Russischen Föderation seit 2007 wegen Schizophrenie
in ärztlicher Behandlung und wegen dieser Erkrankung auf ihre ständige
Betreuung angewiesen sei, ist unter Berücksichtigung des Schutzes der
Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK die aufschiebende Wirkung
auch ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes
anzuordnen (vgl. Beschluss der Kammer vom 6. November 2013 - 2 B 848/13
-, zit. nach juris). Der Grundsatz der Familieneinheit ist zudem ein tragendes
Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art.
6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine
Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds.
OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach
juris Rn. 42). Dabei erstreckt sich der Schutz der Familieneinheit im Rahmen
der humanitären Klausel des Art. 15 EGV 343/2003 nicht nur auf die sog.
Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder), die die Legaldefinition des
Begriffes „Familienangehörige“ in Art. 2 i) EGV 343/2003 zum Gegenstand hat.
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Wie sich aus der Aufzählung von Familienmitgliedern und anderen
abhängigen Familienangehörigen in Art. 15 Abs. 1 EGV 343/2003 ergibt, ist
der humanitären Klausel ein weiter Familienbegriff zugrunde gelegt, unter den
jedenfalls auch volljährige Geschwister und sämtliche Verwandte in gerader
Linie fallen. Maßgeblich kommt es hierbei auf das Vorliegen eines intensiven
Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den Familienangehörigen an (vgl.
Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, Kommentar, 3. Auflage 2010, K 8 zu
Art. 15 EGV 343/2003). Für ein solches intensives Abhängigkeitsverhältnis
zwischen der Antragstellerin und ihrer Tochter sprechen nicht nur die Angaben
der Antragstellerin gegenüber dem Bundesamt. Auch den beigezogenen
Ausländerakten der zuständigen Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am
Harz - lässt sich entnehmen, dass für die Ausländerbehörde nur eine
gemeinsame Überstellung der Antragstellerin und ihrer hilfsbedürftigen Tochter
nach Polen in Betracht kommt (vgl. Vermerke vom 27. Juni und 31. Juli 2013,
Bl. 52 f. der Beiakte C). Die Trennung der derzeit wohl nicht reisefähigen
Tochter von der Antragstellerin ist somit unzumutbar; ihre Überstellung nach
Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG
München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn.
17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris
Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).