Urteil des VG Göttingen vom 02.01.2014

VG Göttingen: bundesamt, überstellung, aufschiebende wirkung, abschiebung, verordnung, klagefrist, erlass, drittstaat, familie, hauptsache

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Dublin-II-Verfahren - Abschiebungsanordnung Polen
Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage
des Vaters eines im Bundesgebiet Neugeborenen bis zur Gewährleistung
einer gemeinsamen Überstellung der Familie in den zuständigen
Mitgliedsstaat anzuordnen.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 02.01.2014, 2 B 889/13
§ 27a AsylVfG, § 34a AsylVfG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG, Art 16 Abs 1d EGV
343/2003, Art 4 Abs 3 S 2 EGV 343/2003, § 80 Abs 5 VwGO
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 16. Oktober 2013, der dem
Antragsteller ausweislich der zur Akte des Bundesamtes befindlichen
Postzustellungsurkunde am 18. Oktober 2013 zugestellt wurde, entschieden,
dass der von dem Antragsteller in Deutschland am 28. Januar 2013 gestellte
(weitere) Asylantrag unzulässig ist (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die
Abschiebung des Antragstellers nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen
wendet sich der Antragsteller mit seiner in der Hauptsache - 2 A 888/13 -
anhängigen Klage, die am 24. Oktober 2013 beim erkennenden Gericht
eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - hat er um Anordnung der
aufschiebenden Wirkung seiner Klage nachgesucht. Die Klage ist somit
innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben
worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1
Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit
Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im
vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen
Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige
Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien
der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der
Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im
Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des
angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen
eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des §
74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist,
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wäre diese vorliegend auch gewahrt worden.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten des Antragstellers aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil bei dieser Entscheidung die Niederkunft der noch
minderjährigen Ehefrau des Antragstellers, Frau D. E., nicht zureichend in den
Blick genommen wurde.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a
AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen
Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor
Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob
Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen.
Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2,
3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer
Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997
- 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -
BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten
"zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG
bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet
„sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die
Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann
ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach §
26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass
das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls
sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der
Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem
Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in
den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht
erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich
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unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-,
Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011,
310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG
MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-
AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15
f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl.
Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und
vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8). Das Nds. OVG hat
in dem vorstehend zitierten Beschluss ausgehend von einer Empfehlung des
von der zuständigen Ausländerbehörde eingeschalteten Gesundheitsamtes,
wonach die Geburt des Kindes abgewartet und anschließend ein erneuter
Überstellungsversuch unternommen werden solle (a.a.O., Rn. 28), ein
inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis für die anstehende Überstellung
einer Asylbewerberin angenommen, die von einer Risikoschwangerschaft
betroffen war.
Im Ansatz vergleichbar gelagert ist der vorliegend zu entscheidende
Sachverhalt. In der Antragsschrift vom 24. Oktober 2013 hat der Antragsteller
das Bundesamt darauf hingewiesen, dass seine noch minderjährige Ehefrau,
die bisher im Familienverband ihrer Eltern gelebt hat und offenbar über diesen
asylverfahrensrechtlich behandelt wurde, wieder schwanger sei und
deswegen ein Abschiebungshindernis bestehe. Ergänzend hat er mit
Schriftsatz vom 7. November 2013 die Unzumutbarkeit seiner Überstellung
nach Polen wegen der damit verbundenen Verletzung des Grundsatzes der
Familieneinheit eingewandt. Hierauf ist das Bundesamt im bisherigen
Verfahren nicht eingegangen. Mittlerweile hat die Ehefrau des Antragstellers
nach den Ermittlungen der Kammer am 26. November 2013 in Bad Herzberg
einen Jungen - F. B. - entbunden. Der ausländer- und asylverfahrensrechtliche
Status des Neugeborenen ist bislang nicht geklärt. Die zuständige
Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - hat dem Bundesamt
bislang keine Geburtsanzeige gem. § 14a Abs. 2 AsylVfG übermittelt. Ebenso
ist der Kammer bisher nicht bekannt, ob auch die Ehefrau des Antragstellers
Asylbewerberin ist und für sie Polen als zuständiger Mitgliedsstaat nach der
sog. Dublin-II-Verordnung bestimmt wurde.
Deshalb werden das Bundesamt und die zuständige Ausländerbehörde
zunächst den ausländerrechtlichen bzw. asylverfahrensrechtlichen Status des
Neugeborenen und seiner Mutter zu klären haben, ehe eine Überstellung
dieser Mitglieder der Kernfamilie zusammen mit dem Antragsteller nach Polen
erfolgen kann. Gegebenenfalls wird das Bundesamt eine Überstellung des
Antragstellers und des Neugeborenen zusammen mit dem Familienverband
der noch minderjährigen Mutter organisieren müssen. Das Bundesamt wird
hierzu unter anderem die wohl beabsichtigte Anzeige der Ausländerbehörde
gem. § 14a Abs. 2 AsylVfG zu bearbeiten und daran anschließend den
polnischen Stellen aufgrund Art. 4 Abs. 3 Satz 2 der vorliegend noch
anzuwendenden Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar
2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des
Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in
einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom
25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG)
1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S.
80), die Geburt des Neugeborenen zu melden haben (vgl. dazu
Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., K 9 zu Art. 4), um eine
gemeinsame Überstellung des Antragstellers nach Polen zusammen mit dem
Neugeborenen und seiner Mutter (ggf. zusammen mit deren Familie) zur
Wahrung der Familieneinheit zu ermöglichen. Der Grundsatz der
Familieneinheit ist ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach
der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV
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343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge
haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR
2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42). Die Trennung des Neugeborenen von
seinem Vater ist unzumutbar; die Überstellung des Antragstellers nach Polen
somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG
München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn.
17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris
Rn. 17).
Da derzeit nicht absehbar ist, innerhalb welchen Zeitraumes die vorstehend
beschriebenen Schritte umgesetzt werden, sieht die Kammer von einer
befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.