Urteil des VG Göttingen vom 19.12.2013

VG Göttingen: russland, begriff, rechtfertigung, anwendungsbereich, erstausbildung, medizin, wahlfreiheit, einfluss, lfg, berufsausübung

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Zur Förderung eines ausländischen Ehegatten nach
dem BAföG nach Studienabbruch
1. Einen unabweisbaren Grund für den Abbruch eines Hochschulstudiums
im Herkunftsstaat durch den ausländischen Ehegatten eines
Spätaussiedlers stellt die anschließende Aufnahme der Eheleute in der
Bundesrepublik Deutschland dar.
2. Die Wahlfreiheit des betroffenen Ausländers in Bezug auf die Aufnahme
einer anderen Ausbildung i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG kann nicht
dergestalt eingeschränkt werden, dass die andere Ausbildung zumindest in
Teilen mit der Erstausbildung vergleichbar sein muss (vgl. dazu Tz. 7.3.19
BAföGÄndVwV 2013).
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 19.12.2013, 2 B 920/13
§ 15 Abs 1 BAföG, § 17 Abs 3 S 1 Nr 2 BAföG, § 7 Abs 3 S 1 Nr 2 BAföG, § 7 Abs 3 S
2 BAföG, § 8 Abs 2 Nr 1 BAföG, Art 6 GG
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der
Antragstellerin ab dem 1. November 2013 vorläufig Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis u.a. dann treffen, wenn diese Regelung, vor allem
bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden
nötig erscheint. Dazu ist gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294
Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller zur Abwendung
dieser Nachteile auf sofortige gerichtliche Hilfe angewiesen ist (sog.
Anordnungsgrund) und dass ein Anspruch auf diese Regelung besteht (sog.
Anordnungsanspruch).
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, denn sie
erhält von der Stadt D. - Jobcenter - seit November 2013 keine Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mehr. Ihren
Lebensunterhalt sichert sie derzeit eigenen Angaben zufolge aus den
geringfügigen Einkünften (Minijob), einer Gehaltsüberzahlung und gewährten
Familiendarlehen ihres Ehemannes; hinzu kommt das Kindergeld für den
gemeinsamen Sohn E..
Sie hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn es spricht
ganz Überwiegendes dafür, dass der Antragsgegner ihr zu Unrecht den
Förderungsausschluss nach § 7 Abs. 3 BAföG entgegenhält.
Die Antragstellerin gehört als russische Staatsangehörige, die eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besitzt, zum
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leistungsberechtigten Personenkreis des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Dies hat der Antragsgegner
zutreffend in Anwendung von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BAföG geprüft und bejaht.
Ferner gehört die 3-jährige schulische Ausbildung der Antragstellerin zur
Medizinisch - Technischen Assistenz (MTA) an der MTA-Schule Labor der
Universitätsmedizin D. zu den förderungsfähigen Ausbildungen nach § 2 Abs.
1 Satz 1 Nr. 2 BAföG.
Entgegen der Annahme des Antragsgegners ist die Förderung dieses
Studiums nicht nach § 7 Abs. 3 BAföG ausgeschlossen, weil die
Antragstellerin von September 2002 bis Juni 2008 an der Staatlichen
Medizinischen Akademie F. (Russland) bereits Medizin studiert, allerdings das
Medizinstudium dort nicht abgeschlossen, sondern im Juni 2008 abgebrochen
hat, und die Bezirksregierung Düsseldorf dieses Studium mit Bescheid vom
10. September 2010 mit 3 Jahren (6 Semestern, davon 4 vorklinische und 2
klinische Semester) auf das Medizinstudium im Geltungsbereich der ÄAppO
2002 angerechnet hat. Die Antragstellerin hat zu den Gründen des Abbruchs
ausgeführt, aufgrund der am 28. März 2008 erfolgten Heirat mit ihrem
Ehemann, der damals schon als Spätaussiedler in der Bundesrepublik
aufnahmeberechtigt war, habe sie ab Mitte 2008 durch Absolvierung eines
Deutsch-Kurses am G. -Institut e.V. in H. die Voraussetzungen für ihre
Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des Ehemannes schaffen müssen;
im Anschluss daran sei im Juni 2009 ihre Aufnahme in der Bundesrepublik
Deutschland erfolgt.
Gemäß § 7 Abs. 3 BAföG wird dem Auszubildenden Ausbildungsförderung für
eine andere Ausbildung geleistet, wenn er aus wichtigem (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Nr.
1 BAföG) oder unabweisbarem (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG) Grund die
Ausbildung abgebrochen oder die Fachrichtung gewechselt hat; bei
Auszubildenden an Höheren Fachschulen, Akademien und Hochschulen gilt §
7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BAföG nur bis zum Beginn des vierten Fachsemesters.
Ein Auszubildender bricht nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BAföG die Ausbildung ab,
wenn er den Besuch von Ausbildungsstätten einer Ausbildungsstättenart
einschließlich der im Zusammenhang hiermit geforderten Praktika endgültig
aufgibt.
Dementsprechend ist vorliegend davon auszugehen, dass die Antragstellerin -
erstens - ihre Hochschulausbildung in Russland endgültig abgebrochen hat
und - zweitens - dieser Abbruch zur Rechtfertigung eines Anspruchs auf
Ausbildungsförderung für die am 14. Oktober 2013 begonnene Ausbildung zur
MTA eines unabweisbaren Grundes bedarf, denn die Antragstellerin hat in
Russland offenbar 12 Semester Medizin studiert, von denen ihr nach
deutschen Maßstäben 6 Semester angerechnet würden.
Ein unabweisbarer Grund liegt nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn ein Umstand gegeben ist, der eine Wahl
zwischen der Fortsetzung der bisherigen Ausbildung und ihrem Abbruch oder
dem Überwechseln in eine andere Fachrichtung nicht zulässt. (vgl. Urteil vom
19. Februar 2004 - 5 C 6/03 -, BVerwGE 120, 149, zit. nach juris Rn. 9).
Für den vorliegend zu beurteilenden Ausbildungsabbruch des ausländischen
Ehegatten eines deutschen Staatsangehörigen, der - insoweit anders, als die
Antragstellerin - vor der Eheschließung einen berufsqualifizierenden Abschluss
im Herkunftsstaat erworben hat, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem
Urteil vom 10. April 2008 (5 C 12/07 - , NVwZ 2008, S. 1.131 ff., zit. nach juris
Rn. 17) zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „unabweisbarer
Grund“ in § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG wörtlich ausgeführt:
„§ 7 Abs. 3 BAföG macht den Anspruch auf Förderung einer "anderen
Ausbildung" davon abhängig, dass der Auszubildende die (bisherige)
Ausbildung aus wichtigem oder unabweisbarem Grund abgebrochen hat, und
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beschränkt für Hochschulausbildungen die Förderungsvoraussetzung des
wichtigen Grundes auf die Zeit bis zum Beginn des vierten Fachsemesters.
Allerdings findet gemäß Absatz 4 für Auszubildende, die die abgebrochene
Ausbildung vor dem 1. August 1996 begonnen haben, Absatz 3 Satz 1 in der
am 31. Juli 1996 geltenden Fassung Anwendung, welche einen wichtigen
Grund für den Ausbildungsabbruch ohne zeitliche Beschränkung auf die
ersten drei Fachsemester zuließ. Die Frage, ob die Klägerin danach auf einen
"wichtigen" oder einen "unabweisbaren" Grund angewiesen ist, braucht hier
nicht vertieft zu werden, denn aus dem von Art. 6 Abs. 1 GG umschlossenen
Recht der Eheleute auf freie Wahl des Familienwohnsitzes im Bundesgebiet
ergibt sich, dass mit der Eheschließung der Klägerin und der Entscheidung für
die Führung der Ehe in Deutschland ein legitimierender unabweisbarer Grund
dafür vorlag, auf die durch die Philologieausbildung eröffneten beruflichen
Perspektiven in Russland zu verzichten. Insoweit kann auf die vom
Verwaltungsgericht genannte, zum Begriff des wichtigen Grundes in § 7 Abs. 3
BAföG F. 1993 ergangene Entscheidung des Senats vom 23. September 1999
- BVerwG 5 C 19.98 - (Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 119) Bezug genommen
werden, wonach die Bedeutung des von Art. 6 Abs. 1 GG normierten Schutzes
von Ehe und Familie, welche auch die freie Wahl des Familienwohnsitzes
umfasst, es ausschließt, daran förderungsrechtliche Sanktionen zu knüpfen.
Mit ihrer grundrechtlich geschützten und förderungsrechtlich hinzunehmenden
Entscheidung, die Ehe im Bundesgebiet zu führen, bestand für die Klägerin
eine Situation, die die Wahl zwischen der Fortsetzung der bisherigen
Ausbildung (bzw. ihrer Ausnutzung durch eine Berufstätigkeit in Russland) und
ihrem Abbruch oder dem Überwechseln in eine andere Ausbildung nicht zuließ
(zum Begriff des unabweisbaren Grundes i.S.d. § 7 Abs. 3 BAföG s.a. Urteil
vom 19. Februar 2004 - BVerwG 5 C 6.03 - BVerwGE 120, 149).“
Dieser Rechtsprechung schließt sich die beschließende Kammer an. Vom
Vorliegen eines unabweisbaren Grundes ist nach diesen Maßstäben auch im
Falle der Antragstellerin auszugehen, denn ihre Entscheidung, das in
Russland begonnene Medizinstudium im Juni 2008 abzubrechen und sich auf
die Übersiedlung nach Deutschland (sprachlich) vorzubereiten, hat der
Antragsgegner förderungsunschädlich hinzunehmen. Selbst ein weiteres
Verbleiben der Antragstellerin im Herkunftsstaat zum Zwecke der Beendigung
ihres Medizinstudiums hätte nach der vorstehend zitierten Rechtsprechung
des BVerwG hier zu keinem anderen Ergebnis geführt; § 7 Abs. 1 Satz 2
BAföG wäre dann auf sie nicht anwendbar gewesen (BVerwG, a.a.O.,
Leitsätze 1 und 2; vgl. zu ähnlich gelagerten Fällen auch VG Augsburg, Urteil
vom 27. November 2012 - Au 3 K 11.1865 -, zit. nach juris Rn. 24; VG
Schwerin, Urteil vom 31. August 2011 - 6 A 915/08 -, zit. nach juris Rn. 23).
Soweit der Antragsgegner zur Rechtfertigung seiner Versagung von
Ausbildungsförderung die Teilziffer 7.3.19 der Allgemeinen
Verwaltungsvorschrift vom 29. Oktober 2013 zur Änderung der Allgemeinen
Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz
(BAföGÄndVwV 2013), veröffentlicht in GMBl. 2013, S. 1093, anführt, wonach
ein unabweisbarer Grund nur dann anzunehmen ist, wenn die Ausbildung des
Ausländers in Deutschland nicht in einer der bisherigen Ausbildung ggf. auch
nur in Teilen vergleichbaren Ausbildung fortgesetzt werden kann, verkennt er
wohl schon den Anwendungsbereich dieser Teilziffer. Sie gilt nach der dortigen
Einleitung nur „für die Förderung der in Tz. 7.1.15 genannten Personen“. In
Teilziffer 7.1.15 geht es um „Personen, deren ausländischer
berufsqualifizierender Abschluss im Inland nicht anerkannt oder vom Amt für
Ausbildungsförderung nicht für materiell gleichwertig erklärt werden kann und
für die ein Verweis auf eine Berufsausübung im Ausland unzumutbar ist“, vgl.
Abs. 1 Satz 1 der Teilziffer. Weiter heißt es in Absatz 2 Satz 1 dieser Teilziffer:
„Eine Förderung im Rahmen des Absatzes 1 i.V.m. Absatz 3 (vgl. Tz 7.3.19) ist
für diese Personen grundsätzlich möglich, wenn …“ Die Antragstellerin
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unterfällt damit nicht dem in den Teilziffern 7.1.15 und 7.3.19 genannten
Personenkreis; sie verfügt nämlich zum einen über keinen ausländischen
berufsqualifizierenden Abschluss und zum anderen wurde ihr Medizinstudium
in Deutschland zumindest teilweise anerkannt.
Den Anwendungsbereich der Teilziffer 7.3.19 im Falle der Antragstellerin
unterstellt, wäre zudem die vom Antragsgegner vertretene Reichweite dieser
Regelung der BAföGÄndVwV 2013 mit dem Gesetzeswortlaut des § 7 Abs. 3
Satz 1 BAföG nicht mehr zu vereinbaren. Das Gesetz verlangt dort für das
Bestehen eines Anspruchs auf Ausbildungsförderung nur das Vorliegen eines
wichtigen bzw. unabweisbaren Grundes für den Ausbildungsabbruch bzw.
Fachrichtungswechsel. Liegt ein solcher Grund vor, wird Ausbildungsförderung
für eine andere Ausbildung bindend geleistet. Zwar ist unter einer „anderen“
Ausbildung i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG grundsätzlich eine andersartige als
die erste Ausbildung bzw. Erstausbildung i.S.d. § 7 Abs. 1 BAföG zu
verstehen. Das schließt nach der Rechtsprechung indes nicht aus, dass eine
Ausbildung auch dann eine „andere“ sein kann, wenn sie im gleichen
Studiengang betrieben wird wie die erste förderungsfähige Ausbildung (VG
Freiburg, Urteil vom 26. April 2001 - 7 K 1032/00 -, NVwZ-RR 2002, S. 122
(122 f.) m.w.N.; ebenso für die Rückkehr zur selben Ausbildung nach Abbruch:
Rothe/Blanke, Kommentar zum BAföG, Loseblatt, Stand: 5. Aufl., 25. Lfg. Mai
2005, § 7 Rn. 38.1). Demzufolge ist die Wahlfreiheit des Auszubildenden in
Bezug auf die neue bzw. „andere“ Ausbildung im Rahmen der
„Weiterförderung“ gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG grundsätzlich nicht
eingeschränkt; Anforderungen an diese „andere“ bzw. andersartige
Ausbildung, etwa Einschränkungen dergestalt, dass diese „in Teilen
vergleichbar“ sein muss, wie Tz. 7.3.19 BAföGÄndVwV 2013 nahe legen mag,
lassen sich jedenfalls mit dem Gesetzeswortlaut und dem Sinn und Zweck
dieser Regelung nicht vereinbaren. Dem Umstand, dass die Antragstellerin in
der Russischen Föderation bereits ein Hochschulstudium begonnen und ihr
hiervon in Deutschland 6 Semester anerkannt wurden, kann nur im Rahmen
der Anrechnung dieser Semester auf die Förderungshöchstdauer gem. § 17
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, Urteil
vom 10. April 2008, a.a.O., Rn. 18); auf das Vorliegen eines unabweisbaren
Grundes i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG hat dieser Umstand indes keinen
Einfluss. An diesem Befund ändert auch der Umstand nichts, dass die
Antragstellerin im Rahmen ihrer förderungsfähigen Ausbildung zur MTA eine
Berufsfachschule besucht, mit der Folge, dass deshalb die
Anrechnungsvorschrift des § 17 Abs. 3 Satz 1 BAföG von vorn herein nicht
zum Tragen kommt.
Da bisher eine konkrete Berechnung der der Antragstellerin zustehenden
Förderleistungen nicht vorgenommen wurde, ist der Antragsgegner - wie
tenoriert - zur Leistung in gesetzlicher Höhe zu verpflichten. Weil das Verfahren
auf Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes im Recht der
Ausbildungsförderung wie im Recht der Sozialhilfe der Beseitigung einer
gegenwärtigen wirtschaftlichen Notlage dient, kann die Antragsgegnerin zur
vorläufigen Leistungserbringung in diesem Verfahren nur ab dem ersten des
Monats verpflichtet werden (vgl. § 15 Abs. 1 BAföG), in dem der gerichtliche
Antrag gestellt worden ist. Eine rückwirkende Leistungserbringung ist
ausgeschlossen, weil sich die Antragstellerin in dieser Zeit finanziell selbst
geholfen hat (vgl. Beschluss der Kammer vom 21. Februar 2007 - 2 B 15/07 -,
zit. nach juris Rn. 28).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.