Urteil des VG Göttingen vom 06.11.2013

VG Göttingen: bundesamt, aufschiebende wirkung, abschiebung, überstellung, erlass, verordnung, klagefrist, drittstaat, hauptsache, eltern

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VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 06.11.2013, 2 B 848/13
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 847/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 7. Oktober 2013 anhängigen Klage der
Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 26. September 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 26. September 2013, der
den Antragstellern ausweislich der zu den Akten befindlichen
Postzustellungsurkunde am 28. September 2013 zugestellt wurde,
entschieden, dass die von den Antragstellern in Deutschland am 23. April
2013 gestellten (weiteren) Asylanträge unzulässig sind (Ziffer 1.); zugleich hat
das Bundesamt die Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet
(Ziffer 2.). Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der Hauptsache
- 2 A 847/13 - anhängigen Klage, die am 7. Oktober 2013 beim erkennenden
Gericht eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - haben sie um
Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage
ist somit innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG
erhoben worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74
Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2
AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende
Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen
Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige
Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien
der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der
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Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im
Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des
angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen
eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des §
74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist,
käme den Antragstellern jedenfalls die Unrichtigkeit der vom Bundesamt
erteilten Rechtsbehelfsbelehrung gem. § 58 Abs. 2 VwGO hier zugute.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Beklagten mit dem privaten
Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich maßgeblich -
aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache
orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen. Diese
Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus, denn die
Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen Bedenken,
weil bei dieser Entscheidung der problematische Gesundheitszustand des am
27. Juli 2012 geborenen Antragstellers zu 5.) nicht in den Blick genommen
wurde.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a
AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen
Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor
Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob
Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen.
Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2,
3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer
Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997
- 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -
BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten
"zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG
bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet
„sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die
Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann
ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach §
26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass
das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls
sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der
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Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem
Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in
den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht
erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich
unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-,
Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011,
310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG
MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-
AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15
f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung schließt sich die erkennende Kammer an.
Ausweislich des von den Antragstellern vorgelegten Arztbriefes der
Universitätsmedizin Göttingen (UMG), Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
vom 23. August 2013 sind bei dem 1-jährigen Antragsteller zu 5.) schwere
Fehlbildungen im bzw. am Kopf (sog. Wasserkopf und Chiari Malformation Typ
II) und im Bereich des Rückenmarks bzw. der Wirbelsäule diagnostiziert
worden. Während eines ca. 3-monatigen Krankenhausaufenthaltes musste der
Antragsteller mehrere Operationen u.a. am Kopf über sich ergehen lassen.
Zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus dem Krankenhaus am 23. August
wurden verschiedene Nachsorgebehandlungen und Medikationen ärztlich
verordnet. Der zuständige Sachbearbeiter des Bundesamtes - Außenstelle
Friedland - hat in den Akten vermerkt, der Antragsteller zu 5.) sei
schwerbehindert (vgl. Bl. 69 Beiakte A). Bei dieser Sachlage ist die Auffassung
der Antragsteller, der Antragsteller zu 5.) sei derzeit nicht reisefähig,
gegenwärtig nicht von der Hand zu weisen, sondern bedarf weiterer
Sachverhaltsaufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten
bleiben. Zwar hat sich die zuständige Ausländerbehörde - Landkreis J. -
gegenüber dem Berichterstatter telefonisch bereiterklärt, zeitnah eine
amtsärztliche Untersuchung des Antragstellers zu 5.) und seines Vaters, des
Antragstellers zu 1.), der nach eigenen Angaben unter einer PTBS und einer
depressiven Episode leidet, zur Aufklärung der Frage der Reisefähigkeit und
der weiteren Behandlungsbedürftigkeit der geltend gemachten Erkrankungen
bei deren Rückkehr nach Polen herbeizuführen. Sollten sich hierbei
Einschränkungen der Reisefähigkeit (z.B. medizinisch begleitete Rückführung)
oder eine fortdauernde Behandlungsbedürftigkeit der Antragsteller zu 1.) und
5.) ergeben, hat das Bundesamt hieran anknüpfend darzulegen, dass die
zuständigen polnischen Stellen ggf. eine medizinisch begleitete Überstellung
gewährleisten und/oder eine ggf. notwendige medizinische Weiterbehandlung
den Antragstellern bei ihrer Rückkehr zukommen lassen werden. Dies gilt
insbesondere in Ansehung des Umstandes, dass das Office for Foreigners of
the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem
Bundesamt mit Schreiben vom 26. September 2013 seine
Zuständigkeit für die Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Verordnung (EG)
343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und
des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines
von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist
(ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -,
geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304
vom 14. November 2008, S. 80), erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht,
dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten (ersten) Asylantrag
zurückgenommen haben bzw. insoweit eine Rücknahmefiktion zu deren
Lasten greift. Das Bundesamt kann sich diesbezüglich nicht auf allgemeine
Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in Warschau zur medizinischen Versorgung
von Asylbewerbern beschränken und darauf verweisen, die polnischen Stellen
würden ggf. eigene medizinischen Feststellungen zum weiteren
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Behandlungsbedarf der Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende
Zusage nicht erlangt werden könne.
Da die Antragsteller zu 1.) und 2.) die Eltern und die Antragsteller zu 3.) und 4.)
die minderjährigen Geschwister des erkrankten Antragstellers zu 5.) sind,
nehmen auch diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der
Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der
Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung
nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV
343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge
haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR
2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der Klage teil. Die Trennung des ggf. nicht reisefähigen Antragstellers
zu 5.) von seiner Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen
Antragsteller nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1
AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -
, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L
145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).