Urteil des VG Göttingen vom 10.12.2013

VG Göttingen: aufschiebende wirkung, bundesamt, abschiebung, überstellung, verordnung, klagefrist, erlass, hauptsache, geburt, drittstaat

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Dublin-II-Verfahren - Abschiebungsanordnung Polen
1. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers
rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage
gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes. Solche Zweifel
können sich aus einer unmittelbar bevorstehenden Entbindung ergeben.
2. Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage
auch zugunsten des Ehepartners und der minderjährigen Kinder des
betroffenen Asylbewerbers anzuordnen.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 10.12.2013, 2 B 881/13
§ 60a Abs 2 S 1 AsylVfG, § 34a AsylVfG, § 27a AsylVfG, Art 4 Abs 3 S 2 EGV
343/2003, Art 16 Abs 1d EGV 343/2003, § 80 Abs 5 VwGO
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 880/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 17. Oktober 2013 anhängigen Klage der
Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 4. Oktober 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 4. Oktober 2013, der den
Antragstellern ausweislich der zu den Akten befindlichen
Postzustellungsurkunde am 11. Oktober 2013 zugestellt wurde, entschieden,
dass die von den Antragstellern in Deutschland am 13. Mai 2013 gestellten
(weiteren) Asylanträge unzulässig sind (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt
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die Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet (Ziffer 2.).
Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der Hauptsache - 2 A
880/13 - anhängigen Klage, die am 17. Oktober 2013 beim erkennenden
Gericht eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - haben sie um
Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage
ist somit innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG
erhoben worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74
Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2
AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende
Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen
Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige
Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien
der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der
Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im
Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des
angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen
eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des §
74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist,
wäre diese vorliegend auch gewahrt worden.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil bei dieser Entscheidung die unmittelbar bevorstehende
Niederkunft der Antragstellerin zu 2.) nicht zureichend in den Blick genommen
wurde.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a
AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen
Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor
Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob
Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen.
Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2,
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3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer
Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997
- 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -
BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten
"zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG
bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet
„sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die
Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann
ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach §
26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass
das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls
sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der
Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem
Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in
den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht
erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich
unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-,
Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011,
310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG
MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-
AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15
f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl.
Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und
vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8). Das Nds. OVG hat
in dem vorstehend zitierten Beschluss ausgehend von einer Empfehlung des
von der zuständigen Ausländerbehörde eingeschalteten Gesundheitsamtes,
wonach die Geburt des Kindes abgewartet und anschließend ein erneuter
Überstellungsversuch unternommen werden solle (a.a.O., Rn. 28), ein
inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis für die anstehende Überstellung
einer Asylbewerberin angenommen, die von einer Risikoschwangerschaft
betroffen war.
Ähnlich ist der vorliegend zu entscheidende Sachverhalt gelagert. Zwar haben
die Antragsteller nicht geltend gemacht, dass die Antragstellerin zu 2.) von
einer Risikoschwangerschaft betroffen ist, gleichwohl steht ihre Niederkunft
unmittelbar bevor; der voraussichtliche Termin zur Entbindung ist nach dem
Arztbrief des Dr. M. vom 14. November 2013 der 20. Dezember 2013. Von
längeren Reisen - insbesondere einer mehrstündigen Busreise nach
Frankfurt/Oder und von dort aus in die zuständige polnische Aufnahmestelle -
wird ärztlicherseits abgeraten. Bundesamt und zuständige Ausländerbehörde
haben vor diesem Hintergrund gegenüber der erkennenden Kammer erklärt,
vor der Entbindung keine Überstellung der Antragsteller nach Polen mehr
unternehmen zu wollen.
Nach der Entbindung wird zunächst der ausländerrechtliche bzw.
asylverfahrensrechtliche Status des Neugeborenen zu klären sein, ehe eine
Überstellung desselben zusammen mit den Antragstellern erfolgen kann. Das
Bundesamt wird hierzu zunächst die Anzeige der Ausländerbehörde gem. §
14a Abs. 2 AsylVfG zu bearbeiten und daran anschließend den polnischen
Stellen aufgrund Art. 4 Abs. 3 Satz 2 der vorliegend noch anzuwendenden
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur
Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des
Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in
einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom
25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG)
1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S.
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80), die Geburt des Neugeborenen zu melden haben (vgl. dazu
Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., K 9 zu Art. 4), um eine
gemeinsame Überstellung der Antragsteller zusammen mit dem
Neugeborenen zur Wahrung der Familieneinheit ermöglichen.
Da derzeit nicht absehbar ist, innerhalb welchen Zeitraumes die vorstehend
beschriebenen Schritte umgesetzt werden, sieht die Kammer von einer
befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.
Da der Antragsteller zu 1.) der Ehemann und die Antragstellerin zu 3.) die
minderjährige Tochter der schwangeren Antragstellerin zu 2.) ist, nehmen auch
diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit
durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der Familieneinheit ist
zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-
II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf.
eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds.
OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach
juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil.
Die Trennung der offensichtlich nicht mehr reisefähigen Antragstellerin zu 2.)
von ihrer Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller
nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl.
VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris
Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach
juris Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).