Urteil des VG Göttingen vom 30.01.2014

VG Göttingen: treu und glauben, verkehr, grundstück, pachtvertrag, satzung, miteigentum, vollstreckung, öffentlich, zugänglichkeit, nutzungsrecht

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Anfechtung einer Baugenehmigung
Ein Realverband ist klagebefugt, wenn die Bauaufsichtsbehörde einem
Dritten, der nicht Mitglied des Realverbandes ist, durch die Erteilung einer
Baugenehmigung die Eröffnung eines Verkehrs mit Kraftfahrzeugen auf
Verbandswegen ermöglicht.
VG Göttingen 2. Kammer, Urteil vom 30.01.2014, 2 A 425/12
§ 917 BGB, § 5 BauO ND, § 2 Abs 1 Nr 1 RealVerbG ND, § 3 RealVerbG ND, § 42
Abs 2 VwGO
Tenor
Die Baugenehmigung des Beklagten an Frau K. L. vom 03.02.2011 und der
Widerspruchsbescheid vom 02.03.2012 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten der
Beigeladenen werden nicht erstattet.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe der vollstreckbaren Kostenforderung der Klägerin
abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin, ein Realverband im Sinne des Nds. Realverbandsgesetzes vom
04.11.1969 (Nds. GVBl. S. 187), zuletzt geändert durch Gesetz vom
27.09.2012 (Nds. GVBl. S. 395) – RealVbG -, wendet sich gegen eine
Baugenehmigung, die der Beklagte der Schwester und Rechtsvorgängerin der
Beigeladenen erteilt hat.
Die Beigeladene ist als Rechtsnachfolgerin ihrer Schwester Eigentümerin des
im Außenbereich gelegenen und bisher landwirtschaftlich genutzten
Grundstücks Flur x, Flurstück M. der Gemarkung D.. Dieses Grundstück liegt
nicht unmittelbar an einer öffentlichen Straße; die Zuwegung zu ihm erfolgt
über Interessentenwege, die im Eigentum der Klägerin stehen. Die
Beigeladene ist, ihre Schwester war Mitglied der Klägerin.
Die Schwester der Beigeladene verpachtete das streitbefangene Grundstück
für die Zeit vom 15.04.2010 bis zum 15.10.2025 (mit der Option der
Verlängerung) an den Modellflugverein „N. O. am P. e.V.“ und erteilte in dem
Pachtvertrag die Erlaubnis, dass Gelände als Modellfluggelände herzurichten
und Modellflug auf diesem Gelände zu betreiben. Am 03.08.2010 erhielt der
Modellflugverein von der Nds. Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr
eine Aufstiegserlaubnis für Flugmodelle.
Auf den Antrag vom 17.11.2010 erteilte der Beklagte der Schwester der
Beigeladenen unter dem 03.02.2011 eine Baugenehmigung für die Errichtung
eines Modellfluggeländes als Nutzungsänderung auf dem oben bezeichneten
Grundstück, wobei er sich den Erlass weiterer Nebenbestimmungen im
Zusammenhang mit der Zugänglichkeit des Grundstücks (§ 5 NBauO)
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ausdrücklich vorbehielt. Die Klägerin legte gegen diese Baugenehmigung, die
ihr nicht bekanntgegeben worden war, am 29.03.2011 Widerspruch ein, den
der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2012 als unzulässig
zurückwies, weil zwar die Widerspruchsfrist eingehalten worden sei, der
Klägerin jedoch die Widerspruchsbefugnis fehle, weil § 5 NBauO nicht
nachbarschützend sei.
Die Klägerin hat am 30.03.2012 Klage erhoben. Sie macht geltend: Die
Interessentenwege seien nicht öffentlich gewidmet; der durch das
Modellfluggelände veranlasste Verkehr übersteige den Gemeingebrauch an
diesen Wegen, die bisher ausschließlich zu landwirtschaftlichen Zwecken
genutzt worden seien; nötig sei hier die Eintragung einer Baulast, die mit einer
vertraglichen Vereinbarung zwischen der Klägerin und dem Nutzer der Wege
einhergehen solle.
Die Klägerin beantragt,
die Baugenehmigung des Beklagten an Frau K. L. vom 03.02.2011 und
den Widerspruchsbescheid vom 02.03.2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er bezieht sich auf die Begründung des Widerspruchsbescheides und hält die
Klage nach wie vor für unzulässig.
Die Beigeladene, die ihre am 04.12.2011 verstorbene Schwester beerbt hat,
äußert sich nicht zur Sache und stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst
Anlagen, auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und auf den Inhalt der
Gerichtsakte 2 B 324/10 Bezug genommen. Die Unterlagen sind Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht hat das Aktivrubrum von Amts wegen berichtigt, nachdem der
Prozessbevollmächtigte der Klägerin ihm am 29.01.2014 die Satzung der
Klägerin übermittelt hat, aus der sich ergibt, dass sie nicht – wie bisher
angegeben – „A. D.“ heißt, sondern so wie jetzt im Rubrum angegeben.
Die Klage ist zulässig.
Die Zulässigkeit scheitert nicht daran, dass § 5 der Nds. Bauordnung in der
Fassung vom 10.02.2003 (Nds. GVBl. S. 89), zuletzt geändert durch Gesetz
vom 10.11.2011 (Nds. GVBl. S. 415) – NBauO - nicht nachbarschützend ist.
Die NBauO ist für das vorliegende Verfahren noch in der genannten Fassung
anwendbar, was sich aus § 86 der NBauO in der Fassung vom 03.04.2012
(Nds. GVBl. S. 46) ergibt. § 5 NBauO verlangt, dass Baugrundstücke (als
solches gilt das von dem Modellflugverein genutzte Grundstück der
Beigeladenen, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 13 i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 1 NBauO) so an einer
mit Kraftfahrzeugen befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche liegen oder einen
solchen Zugang zu ihr haben, dass der von der baulichen Anlage ausgehende
Zu- und Abgangsverkehr und der für den Brandschutz erforderliche Einsatz
von Feuerlösch- und Rettungsgeräten jederzeit ordnungsgemäß und
ungehindert möglich ist. Ist das Baugrundstück nur über Flächen zugänglich,
die nicht dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind, so muss ihre Benutzung für
diesen Zweck gem. § 5 Abs. 2 S. 1 NBauO durch Baulast oder Miteigentum
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gesichert sein... Zweifellos ist diese Vorschrift nicht in der Weise
nachbarschützend, dass Eigentümer von Nachbargrundstücken die
mangelnde Zugänglichkeit eines Baugrundstückes rügen könnten (OVG
Lüneburg, Urteil vom 12.03.1997 - 1 M 1023/97 - BRS 59, Nr. 108). Die
Klägerin ist auch nicht Eigentümerin eines Nachbargrundstücks in diesem
Sinne, sondern Eigentümerin der Wegeflächen, welche Nutzer und Besucher
des Modellfluggeländes zwangsläufig befahren müssen, um mit
Kraftfahrzeugen zu dem Gelände zu gelangen. Das ergibt sich aus § 2 Abs. 1
Nr. 1 RealVbG, wonach u.a. die zu den gemeinschaftlichen Angelegenheiten
gehörenden Wege Verbandsvermögen sind (vgl. dazu Thomas/Tesmer, Nds.
Realverbandsgesetz, 9. Aufl., § 2 Anm. 4.1). Als Eigentümerin dieser Wege ist
die Klägerin klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO), denn sie kann geltend machen,
in ihrem Eigentumsrecht an den Wegen dadurch verletzt zu sein, dass der
Beklagte durch die Erteilung der Baugenehmigung an die Rechtsvorgängerin
der Beigeladenen gegen ihren Willen auf den ihnen gehörenden Wegen einen
Verkehr zugelassen hat.
Die Zulässigkeit der Klage scheitert auch nicht daran, dass die Klägerin – wie
der Beklagte – Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Zwar können
juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht Träger von Grundrechten
sein, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen, weil die Erfüllung
öffentlicher Aufgaben nicht Ausprägung von Rechten, sondern von
Kompetenzen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.07.1982 – 1 BvR 1187/80 –
BVerfGE 61, S. 82,101). Eine Ausnahme gilt jedoch für solche juristische
Personen des öffentlichen Rechts, die den Menschen auch zur Verwirklichung
ihrer individuellen Grundrechte dienen (BVerfG, a.a.O., S. 103). Dazu gehören
nach Auffassung des Gerichts auch Realverbände, soweit sie die Aufgabe
haben, zum Nutzen ihrer Mitglieder zu handeln. Das ist in Bezug auf die dem
Realverband gehörenden Wege der Fall, die zum Zweckvermögen gehören (§
2 Abs. 1 Nr. 1 RealVbG), welches der Realverband im Einklang mit den
Interessen der Allgemeinheit zum Nutzen der Mitglieder zu verwalten hat (§ 3
RealVbG).
Die Klage ist auch begründet, denn die angefochtene Baugenehmigung und
der sie bestätigende Widerspruchsbescheid sind rechtswidrig und verletzen
die Klägerin in ihren Rechten.
Die Baugenehmigung für die Nutzung eines bisher landwirtschaftlichen
Zwecken dienenden Grundstücks als Modellfluggelände ist rechtswidrig, weil
der von diesem Gelände ausgehende Zu- und Abgangsverkehr nur über
Flächen erfolgen kann, die weder dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind
noch deren Benutzung für diesen Zweck durch Baulast oder Miteigentum
gesichert ist. Die Prozessbeteiligten haben übereinstimmend vorgetragen,
dass die Interessentenwege nicht dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind;
das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass dieser Vortrag zutrifft. Eine Baulast
(§ 92 NBauO) zugunsten der Beigeladenen bzw. ihrer Rechtsvorgängerin oder
zugunsten des Modellflugvereins besteht nicht. Weder der Nutzer des
Grundstücks noch die Eigentümerin (die Beigeladene) sind Miteigentümer der
Wegeflächen. Bereits oben ist erwähnt worden, dass Eigentümer der
Interessentenwege der Realverband selbst ist und nicht dessen Mitglieder (in
Gesamthandsgemeinschaft), welche gem. § 7 Abs. 1 RealVbG lediglich zur
anteiligen Nutzung des Verbandsvermögens berechtigt sind. Ein derartiges
Nutzungsrecht genügt nicht den strengen Anforderungen von § 5 Abs. 2
NBauO. Der Beklagte war und ist der Auffassung, dass dem Eigentümer eines
Grundstücks im Verbandsgebiet ein eigentumsähnliches Recht an den
Verbandswegen zusteht. Dieser Überlegung könnte man näher treten, wenn
es um die Nutzung der Interessentenwege durch Mitglieder des
Realverbandes selbst ginge, weil diese - da die Wegenutzung durch die
Satzung der Klägerin nicht eingeschränkt ist - sich nach Treu und Glauben und
den bisher üblichen Gepflogenheiten richtet (vgl. Thomas/Tesmer, a.a.O., § 7
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Anm. 3), während der Realverband Nichtmitgliedern die Nutzung ohne
Weiteres untersagen oder von einem Entgelt abhängig machen kann (vgl.
Thomas/Tesmer, a.a.O., § 29 Anm. 3). Zwar wurde die streitbefangene
Baugenehmigung der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen erteilt, diese hatte
jedoch nicht vor, sie persönlich auszunutzen, sondern die Nutzung (sowohl der
Baugenehmigung wie auch der Zuwegung zu dem Baugrundstück) aufgrund
eines Pachtvertrages dem Modellflugverein „N. O.“ überlassen.
Die angefochtene Baugenehmigung verletzt das Eigentums(grund)recht der
Klägerin auch tatsächlich. Sie gestattet den Zu- und Abgangsverkehr zu dem
Baugrundstück über Wege der Klägerin, den diese - wie oben ausgeführt -
nicht dulden muss. Zwar hat die Klägerin - wie ebenfalls bereits oben
ausgeführt – grundsätzlich auch die Möglichkeit, eine Nutzung ihrer
Interessentenwege durch Fremde zu untersagen und - sogar mit öffentlich-
rechtlichen Mitteln - zu unterbinden, allerdings besteht diese Möglichkeit hier
nur theoretisch, denn einer entsprechenden Verfügung der Klägerin könnte die
Beigeladene (die gegenüber dem Modellflugverein „N. O.“ aus dem
Pachtvertrag heraus dazu verpflichtet sein dürfte) entgegensetzen, dass die
Klägerin ihr in Anwendung von § 917 BGB ein Notwegerecht einräumen
müsste. Nach Absatz 1 dieser Bestimmung kann der Eigentümer von den
Nachbarn verlangen, dass bis zur Hebung des Mangels die Benutzung ihrer
Grundstücke zur Herstellung der erforderlichen Verbindung geduldet werden
muss, wenn einem Grundstück die zur ordnungsgemäßen Benutzung
notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Weg fehlt. Die Klägerin – die im
Sinne des § 917 BGB Nachbarin der Beigeladenen ist - hätte dann nicht die
Möglichkeit einzuwenden, die Benutzung ihrer Wege durch Fahrzeuge, die
das Modellfluggelände erreichen oder von ihm abfahren wollen, sei nicht
ordnungsgemäß, weil sich die Beigeladene insoweit auf die hier angefochtene
Baugenehmigung berufen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.03.1976 - IV C
7.74 -, BVerwGE 50, 282 und Beschluss vom 11.05.1998 - 4 B 45.98- BRS 60,
S. 631 sowie Palandt-Bassenge, BGB, 72. Auflage, § 917, Rn. 4 m.w.N.).
Der Konflikt zwischen den Beteiligten ließe sich - das sei ergänzend
angemerkt - dadurch lösen, dass der Beklagte (wie in der Baugenehmigung
vorbehalten) mit Zustimmung der Klägerin auf deren Wegegrundstücken eine
Baulast einträgt, nachdem die Klägerin zuvor mit dem Modellflugverein die
Bedingungen der Wegenutzung vertraglich festgelegt hat. Das setzt allerdings
voraus, dass die Klägerin diese Nutzung überhaupt dulden will.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, weil
sie keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO
i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.