Urteil des VG Göttingen vom 07.11.2013

VG Göttingen: bundesamt, abschiebung, aufschiebende wirkung, überstellung, erlass, klagefrist, drittstaat, prozessrecht, psychose, verordnung

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VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 07.11.2013, 2 B 783/13
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 782/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 27. August 2013 anhängigen Klage der
Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 21. Juni 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Die Kammer entscheidet über den am 27. August 2013 anhängig gemachten
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am selben Tage
erhobenen Klage - 2 A 782/13 - der Antragstellerin gegen die
Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in
dem Bescheid vom 21. Juni 2013, der ihr erst am 20. August durch die
zuständige Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - persönlich
ausgehändigt wurde, nach dem zum Zeitpunkt der Beschlussfassung
geltenden Prozessrecht.
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Hinsichtlich der am 6. September 2013 - mithin während der Anhängigkeit des
vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens - in Kraft getretenen
Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG fehlt es im Gesetz zur Umsetzung der
Richtlinie 2011/95/EU (a.a.O.) an einer Übergangsvorschrift für die zu diesem
Zeitpunkt bei den Verwaltungsgerichten bereits anhängigen einstweiligen
Rechtsschutzverfahren. Dies hat nach dem allgemein anerkannten Grundsatz
des intertemporalen Prozessrechts, wonach eine Änderung des gerichtlichen
Verfahrensrechts auch alle zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anhängigen
Verfahren erfasst und der Bürger nicht darauf vertrauen kann, dass das
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Prozessrecht unverändert bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2
BvR 1631/90 und 1728/90 -, BVerfGE 87, S. 48 ff., zit. nach juris Rn. 39 f., 43
und 46; BVerwG, Beschluss vom 24. September 1997 - 3 B 136/97 -, Buchholz
310 § 124 VwGO Nr. 28, zit. nach juris Rn. 7, jew.m.w.N.), hier die Anwendung
der Neufassung des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zur Folge, womit die
Antragstellerin gegenüber der alten Rechtslage deutlich besser gestellt wird
(vgl. die Stellungnahme des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren vom 3.
Mai 2013, BR-Drs. 218/13, zu Nr. 1); ihr Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ist somit statthaft geworden.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 21. Juni 2013 entschieden,
dass der von der Antragstellerin in Deutschland am 2. April 2013 gestellte
(weitere) Asylantrag unzulässig ist (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die
Abschiebung der Antragstellerin nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen
wendet sich die Antragstellerin mit ihrer in der Hauptsache - 2 A 782/13 -
anhängigen Klage, die am 27. August 2013 beim erkennenden Gericht
eingegangen ist. Zeitgleich hat sie um Anordnung der
aufschiebendenWirkungihrerKlagenachgesucht.DieKlageistsomitinnerhalbder2-
wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben worden. Ob eine
Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG
seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung vom 6.
September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im vorliegenden
Verfahren offen lassen; die durch Zustellung am 20. August 2013 in Gang
gesetzte Klagefrist ist vor diesem Zeitpunkt, nämlich am 3. September 2013,
abgelaufen. Dementsprechend ist die Einhaltung der Klagefrist und die
Richtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung, die das Bundesamt dem
angefochtenen Bescheid beigefügt hatte, allein nach der Rechtslage vor
Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG zu beurteilen (vgl. OVG
NRW, Beschluss vom 8. Oktober 2004 - 19 A 3946/04 -, DÖV 2005, S. 484, zit.
nach juris Rn. 2).
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragstellerin aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil bei dieser Entscheidung der problematische
Gesundheitszustand der 25-jährigen Antragstellerin nicht in den Blick
genommen wurde.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Asylbewerbers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
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Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a
AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen
Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor
Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob
Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen.
Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2,
3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer
Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997
- 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -
BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten
"zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG
bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet
„sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die
Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann
ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach §
26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass
das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls
sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der
Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem
Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in
den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht
erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich
unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-,
Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011,
310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG
MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-
AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15
f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung schließt sich die erkennende Kammer an (so bereits
Beschluss der Kammer vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris).
Ausweislich der von der Antragstellerin vorgelegten ärztlichen Stellungnahme
des Asklepios Fachklinikums Göttingen - Akutpsychiatrie -, die mit Telefax vom
18. September 2013 ihrem Prozessbevollmächtigten übermittelt wurde,
befindet diese sich seit dem 23. August 2013 wegen einer schizoaffektiven
Psychose in stationärer Behandlung. Weiter wird darin ausgeführt, die
Antragstellerin benötige aus ärztlicher Sicht für das Erreichen und Erhalten
einer Remission ihr familiäres Umfeld. Es sei bei einer „Ausweisung“ - gemeint
wohl: Aufenthaltsbeendigung - mit einer erneuten psychotischen
Dekompensation zu rechnen. Dieser medizinische Befund korrespondiert mit
den in der beigezogenen Ausländerakte des Landkreises Osterode am Harz
aktenkundigen Diagnosen der die Antragstellerin ambulant behandelnden
Neurologin Dr. F. Diese hat bei der Antragstellerin im Juni 2013 zusätzlich eine
paranoid- schizophrene Psychose und eine PTBS diagnostiziert (vgl. Bl. 58
Beiakte B). Der zuständige Sachbearbeiter der Ausländerbehörde hat deshalb
unter dem 27. Juni 2013 in der Ausländerakte vermerkt, im Anschluss an die
Durchführung eines MRT-Termins erfolge eine Terminierung zur
amtsärztlichen Feststellung der Reisefähigkeit der Antragstellerin durch das
Gesundheitsamt des Landkreises. Insbesondere müsse die Notwendigkeit
einer medizinisch begleiteten Rückführung nach Polen abgeklärt werden. Der
Kammer ist derzeit nicht bekannt, ob die anvisierte amtsärztliche
Untersuchung der Antragstellerin zwischenzeitlich erfolgt ist und zu welchem
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Ergebnis diese im Hinblick auf deren Reisefähigkeit und deren weiteren
Behandlungsbedarf geführt hat. Der Kammer liegen weiterhin keine
Informationen vor, ob der stationäre Aufenthalt der Antragstellerin in der
psychiatrischen Abteilung des Asklepios Fachklinikums Göttingen fortdauert.
Bei dieser Sachlage ist die Auffassung der Antragstellerin, sie sei derzeit nicht
reisefähig, gegenwärtig nicht von der Hand zu weisen, sondern bedarf weiterer
Sachverhaltsaufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten
bleiben. Die Kammer geht diesbezüglich davon aus, dass die zuständige
Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - zeitnah eine amtsärztliche
Untersuchung der Antragstellerin zur Aufklärung der Frage der Reisefähigkeit
und der weiteren Behandlungsbedürftigkeit ihrer psychischen Erkrankung bei
deren Rückkehr nach Polen herbeiführt. Sollten sich hierbei Einschränkungen
der Reisefähigkeit (z.B. medizinisch begleitete Rückführung) oder eine
fortdauernde Behandlungsbedürftigkeit der Antragstellerin ergeben, hat das
Bundesamt hieran anknüpfend darzulegen, dass die zuständigen polnischen
Stellen ggf. eine medizinisch begleitete Überstellung gewährleisten und/oder
eine ggf. notwendige medizinische Weiterbehandlung der Antragstellerin bei
ihrer Rückkehr zukommen lassen werden. Dies gilt insbesondere in Ansehung
des Umstandes, dass das Office for Foreigners of the Republic Poland,
Department for Refugee Procedures, gegenüber dem Bundesamt mit
Schreiben vom 16. Mai 2013 seine Zuständigkeit für die Antragstellerin gem.
Art. 16 Abs. 1 d) der Verordnung (EG) 343/2003 des Rates vom 18. Februar
2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des
Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in
einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom
25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG)
1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S.
80), erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht, dass die Antragstellerin ihren in
Polen gestellten (ersten) Asylantrag zurückgenommen hat bzw. insoweit eine
Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).