Urteil des VG Göttingen vom 12.12.2013

VG Göttingen: aufschiebende wirkung, bundesamt, abschiebung, überstellung, erlass, klagefrist, asylbewerber, verordnung, hauptsache, drittstaat

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Dublin-II-Verfahren - Abschiebungsanordnung Polen
1. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers
rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage
gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes. Solche Zweifel
können sich aus einer amtsärztlich festgestellten bedingten Reisefähigkeit
minderjähriger Asylbewerber ergeben.
2. Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage
auch zugunsten der Eltern der eingeschränkt reisefähigen minderjährigen
Asylbewerber anzuordnen.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 12.12.2013, 2 B 856/13
§ 31 Abs 1 S 4 AsylVfG, § 34a AsylVfG, § 27a AsylVfG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG,
Art 16 Abs 1d EGV 343/2003, § 80 Abs 5 VwGO
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 855/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 8. Oktober 2013 anhängigen Klage der
Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 26. September 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 26. September 2013, der
dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller eigenen Angaben zufolge am
2. Oktober 2013 zugestellt wurde, entschieden, dass die von den
Antragstellern in Deutschland am 8. April 2013 gestellten (weiteren)
Asylanträge unzulässig sind (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die
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Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen
wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der Hauptsache - 2 A 855/13 -
anhängigen Klage, die am 8. Oktober 2013 beim erkennenden Gericht
eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - haben sie um Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage ist somit
innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben
worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1
Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit
Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im
vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen
Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige
Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien
der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der
Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im
Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des
angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen
eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des §
74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist,
wäre diese vorliegend auch gewahrt worden.
Der Bescheid gilt trotz Zustellung an den Prozessbevollmächtigten der
Antragsteller unter Verletzung der zwingenden Vorgaben in § 31 Abs. 1 Sätze
4 und 6 AsylVfG hier gegenüber den Antragstellern als am 2. Oktober 2013
bekanntgegeben und wirksam; er ist damit tauglicher Gegenstand eines
Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Zur weiteren Begründung dieser
Feststellung verweist die Kammer auf ihren dem Prozessbevollmächtigten der
Antragsteller und der Antragsgegnerin bekannten Beschluss vom 9. Dezember
2013 - 2 B 869/13 - (veröffentlicht in juris). Wie in dem dort von der Kammer
entschiedenen Fall ist auch vorliegend davon auszugehen, dass der
Prozessbevollmächtigte den Antragstellern im Rahmen des
Mandantengesprächs vom 2. Oktober 2013, das u.a. in die vorgelegte
Prozessvollmacht vom selben Tage mündete, den Originalbescheid vorgelegt
und erläutert hat, sodass die Antragsteller die Möglichkeit hatten, von seinem
Inhalt Kenntnis zu nehmen. Der Zustellungsmangel gilt somit gem. § 8 VwZG
als geheilt.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil bei dieser Entscheidung die nur eingeschränkte Reisefähigkeit
der minderjährigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) nicht zureichend in den Blick
genommen wurde.
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Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§
26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das
Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG
auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder
Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im
Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu
BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383,
und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf
die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen
Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt
ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet „sobald
feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die Abschiebungsanordnung
darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle
Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a
AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt
vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl
"zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung
entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu
berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem
verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus
subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System
der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur
vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW,
Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai
2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3.
Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November
2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15;
Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August
2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl.
Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und
vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8).
Der von der zuständigen Ausländerbehörde - Landkreis J. - mit einer
Untersuchung der Antragsteller zu 3.) bis 5.) beauftragte Amtsarzt hat nach
den vorgelegten Bescheinigungen vom 2. Und 6. Dezember 2013 festgestellt,
dass der 5-jährige Antragsteller zu 5.) nur unter der Bedingung reisefähig ist,
dass die erforderliche Hilfsmittelversorgung (Reha-Karre, dynamische
Fußorthesen) zuvor umgesetzt wurde und die eingeleitete medikamentöse
Behandlung einschließlich der kinderärztlichen Betreuung im zuständigen
Mitgliedsstaat (Polen) fortgesetzt wird. Mit der Anfertigung der erforderlichen
Hilfsmittel soll nach einem Vermerk der Ausländerbehörde bis spätestens 20.
Januar 2014 zu rechnen sein. Die 9- bzw. 14-jährigen Antragsteller zu 3.) und
4.) sind nur mit der amtsärztlichen Maßgabe reisefähig, dass die dringend
erforderliche Psychotherapie im zuständigen Mitgliedsstaat fortgesetzt wird.
Die Ausländerbehörde hat mit Schreiben vom 9. Dezember 2013 das
Bundesamt um Abklärung gebeten, ob diesen amtsärztlichen Maßgaben von
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den übernehmenden polnischen Stellen entsprochen wird; die Antwort des
Bundesamtes steht bislang aus. Diese ist vorliegend einzelfallbezogen
insbesondere deshalb notwendig, weil das das Office for Foreigners of the
Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem
Bundesamt mit Schreiben vom 25. September 2013 seine Zuständigkeit für die
Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung erklärt hat, es
demzufolge davon ausgeht, dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten
(ersten) Asylantrag zurückgenommen haben bzw. insoweit eine
Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift. Das Bundesamt kann sich
diesbezüglich nicht auf allgemeine Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in
Warschau zur medizinischen Versorgung von Asylbewerbern beschränken
und darauf verweisen, die polnischen Stellen würden ggf. eigene
medizinischen Feststellungen zum weiteren Behandlungsbedarf der
Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende Zusage nicht erlangt werden
könne.
Da derzeit nicht sicher abschätzbar ist, innerhalb welchen Zeitraumes die
vorstehend beschriebenen Schritte vom Bundesamt bzw. dem mit der
Hilfsmittelversorgung beauftragten Sanitätshaus umgesetzt sein werden, sieht
die Kammer von einer befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der
Klage ab.
Da die Antragsteller zu 1.) und 2.) die Eltern der minderjährigen Antragsteller
zu 3.) bis 5.) sind, nehmen auch diese Antragsteller unter Berücksichtigung
des Schutzes der Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der
Grundsatz der Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der
Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II- Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14
und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der
Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012
- 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - an der
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil. Die Trennung der
offensichtlich nur bedingt reisefähigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) von ihrer
Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller nach Polen
somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG
München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn.
17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris
Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).