Urteil des VG Göttingen vom 09.12.2013

VG Göttingen: bundesamt, aufschiebende wirkung, zustellung, abschiebung, verordnung, fair trial, überstellung, bekanntgabe, erlass, asylbewerber

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Dublin-II-Verfahren - Abschiebungsanordnung Polen
1. Ein Bescheid über die Ablehnung eines Asylantrags nach § 27a AsylVfG
ist auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
2011/95/EU an den betroffenen Asylbewerber gem. § 31 Abs. 1 Satz 4
AsylVfG selbst zuzustellen.
2. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers
rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage
gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes.
3. Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage
auch zugunsten des Ehepartners und der minderjährigen Kinder des
betroffenen Asylbewerbers anzuordnen.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 09.12.2013, 2 B 869/13
§ 231 Abs 1 S 4 AsylVfG, § 34a AsylVfG, § 27a AsylVfG, § 27a AsylVfG, § 60a Abs 2
S 1 AufenthG, Art 16 Abs 1d EGV 343/2003, § 8 VwZG
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 882/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 17. Oktober 2013 anhängigen Klage der
Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 2. Oktober 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 2. Oktober 2013
entschieden, dass die von den Antragstellern in Deutschland am 14. Mai 2013
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gestellten (weiteren) Asylanträge unzulässig sind (Ziffer 1.); zugleich hat es die
Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Diesen
Bescheid hat das Bundesamt unter Verletzung der zwingenden
Zustellungsvorschrift des § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG nicht den Antragstellern
persönlich, sondern ihrem Prozessbevollmächtigten mittels eingeschriebenen
Briefes am 9. Oktober 2013 zugestellt. Zur Begründung seiner von § 31 Abs. 1
Satz 4 und 6 AsylVfG abweichenden Herangehensweise hat das Bundesamt im
Schriftsatz vom 18. Oktober 2013 Folgendes ausgeführt:
„Wird der Antragsteller/Flüchtling durch einen Verfahrensbevollmächtigten
vertreten, so ist der Bescheid dem Verfahrensbevollmächtigten per Einwurf-
Einschreiben zuzustellen.
Trotz § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG, wonach Ablehnungen nach § 26a oder §
27a AsylVfG dem Ausländer selbst zuzustellen sind, ist auch eine Zustellung
an den Bevollmächtigten zulässig. Die Regelung wurde 1993 zur
Verfahrensbeschleunigung in das AsylVfG aufgenommen (vgl. BT-
Drs.12/4450, S. 23). Mit der Abweichung von der allgemeinen
Zustellungsregelung sollte eine kurzfristige Rückführung in den Drittstaat
ermöglicht werden. Sie stellt daher keine Schutznorm für den Antragsteller dar.
Durch die Zustellung an den Bevollmächtigten ist der Antragsteller nicht in
seinen Rechten verletzt, vielmehr wird dadurch die fristgerechte Wahrnehmung
des Rechtsschutzes durch den Bevollmächtigten verbessert. Mit der Änderung
des § 34a, der jetzt ausdrücklich die Möglichkeit des Eilrechtschutzes vorsieht,
kann eine Zustellung an den Ausländer den Regelungszweck einer
Verfahrensbeschleunigung nicht mehr bewirken. Gegen die Zustellung an den
Antragsteller werden in der Kommentierung verfassungsrechtliche Bedenken
geäußert, da dadurch die Einlegung von Rechtsmitteln - die nach dem
bisherigen § 34a Abs. 2 nicht vorgesehen war - unzumutbar erschwert werde
(s. Marx, AsylVfG, § 31 Rdnr. 10). Eine Zustellung an den Bevollmächtigten
trägt diesen Bedenken Rechnung und verbessert die Möglichkeit der
effektiven Wahrnehmung des Rechtsschutzes, weshalb sich der Antragsteller
nicht mit Erfolg auf eine unwirksame Zustellung berufen kann.“
Danach missachtet das Bundesamt seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a
Abs. 2 AsylVfG n.F. aufgrund der vorstehend wiedergegebenen
behördeninternen Handlungsanweisung bewusst und systematisch die
zwingenden gesetzlichen Vorgaben über die Zustellung gem. § 31 Abs. 1
Sätze 4 und 6 AsylVfG; die Gefahr fehlender Wirksamkeit seiner Bescheide
mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe gegenüber dem Betroffenen nimmt
es damit billigend in Kauf.
Die Rechtsauffassung des Bundesamtes, von der Anwendung des § 31 Abs. 1
Sätze 4 und 6 AsylVfG könne seit dem 6. September 2013 abgewichen
werden, vermag die erkennende Kammer nicht zu überzeugen. Die These des
Bundesamtes, § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG stelle keine Schutznorm für den
betroffenen Asylbewerber dar, impliziert die Annahme, es handele sich hierbei
um eine bloße Ordnungsvorschrift. Diese Auffassung lässt sich auf die vom
Bundesamt zitierten Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 12/4450, S. 23) nicht
stützen und ist, soweit Entscheidungen des Bundesamtes nach § 27a AsylVfG
zugestellt werden sollen, mit unionsrechtlichen Vorgaben kaum zu
vereinbaren. Bereits aus Art. 3 Abs. 4, 19 Abs. 1 und 20 Abs. 1 e) der
vorliegend noch anzuwendenden Verordnung (EG) 343/2003 des Rates vom
18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur
Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags
zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin- II-
Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl.
EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), ergibt sich ein strikter
Informationsanspruch des betroffenen Drittstaatsangehörigen über
Maßnahmen, die in Anwendung der Dublin-II- Verordnung getroffen werden.
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Diesem Informationsanspruch, der in dem unionsrechtlich anerkannten
Gedanken des fair trial wurzelt (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin II- Verordnung,
3. Aufl., § K 24 zu Art. 3), kann nach Auffassung der Kammer nur dadurch
hinreichend Rechnung getragen werden, indem der Betroffene
schnellstmöglich und direkt, d.h. ohne Umwege über dritte Personen, über
anstehende Maßnahmen des ersuchenden Mitgliedsstaates informiert wird,
was eine persönliche Bekanntgabe der getroffenen Entscheidung zur
Überstellung an den zuständigen Mitgliedsstaat regelmäßig voraussetzt. Nur
dann ist der Betroffene überhaupt in der Lage, sich in noch ausreichend
bemessener Zeit (vgl. die Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG n.F.)
zu entscheiden, ob er um wirksamen Rechtsschutz gegen die
Überstellungsentscheidung - ggf. durch Mandatierung seines bisherigen
Verfahrensbevollmächtigten - nachsucht oder er diese akzeptiert und die
verbleibende Zeit nutzt, sich auf die regelmäßig unmittelbar bevorstehende
Überstellung vorzubereiten, ggf. sogar die Möglichkeit einer freiwilligen
Rückkehr in den zuständigen Mitgliedsstaat oder aber in seinen Herkunftsstaat
ergreift (vgl. zu einem solchen Fall Beschluss der Kammer vom 21. Oktober
2013 - 2 B 828/13 -, zit. nach juris Rn. 8). Mit der Annahme, die Möglichkeit der
fristgerechten Wahrnehmung des Rechtsschutzes gegen die
Abschiebungsanordnung durch einen Verfahrensbevollmächtigten des
betroffenen Antragsstellers werde durch die vom Gesetz abweichende
Verfahrenspraxis verbessert, wird das Bundesamt jedenfalls dem
unionsrechtlich verbürgten Informationsanspruch des Betroffenen nicht
umfassend gerecht.
Die persönliche Zustellung der Überstellungsentscheidung an den betroffenen
Drittstaatsangehörigen ist zudem der Regelfall, den Art. 26 Abs. 1 der
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates
vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur
Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten
Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung; ABl. EU L 180
vom 29. Juni 2013, S. 31) - sog. Dublin-III-Verordnung -, ausdrücklich vorsieht;
nur abweichend hiervon können sich die Mitgliedsstaaten für eine Zustellung
an einen Rechtsbeistand oder anderen Berater des Antragstellers
entscheiden. Eine solche Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, die nur
im Wege der Änderung des § 31 Abs. 1 Sätze 4 und 6 AsylVfG getroffen
werden kann, steht derzeit aus. Wenngleich die Dublin-III-Verordnung gemäß
ihres Art. 49 Satz 2 auf den vorliegenden Asylantrag der Antragsteller nicht
anwendbar ist, so muss ihrem Inkrafttreten zum 19. Juli 2013 nach Satz 1
dieses Artikels im Wege einer unionsrechtsfreundlichen Auslegung des § 31
Abs. 1 Sätze 4 und 6 AsylVfG jedoch bereits jetzt Rechnung getragen werden.
Danach liegt der subjektiv-rechtliche Schutzcharakter der in § 31 Abs. 1
AsylVfG geregelten Modalitäten der Abfassung und Bekanntgabe von
Entscheidungen des Bundesamtes auf der Hand; die Schutznormfunktion ist
im Übrigen für die allgemeinen gesetzlichen Vorgaben der Zustellung von
Entscheidungen des Bundesamtes im Asylverfahren, wie sie in § 10 AsylVfG
geregelt sind, in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bereits
anerkannt (vgl. zu § 10 Abs. 7 AsylVfG: VG Wiesbaden, Beschluss vom 2.
Dezember 1994 - 8/3 G 30903/94 -, InfAuslR 1995, S. 87 (88) m.w.N.).
Nicht zuletzt darf außer Acht gelassen werden, dass die derzeitige
Verfahrensweise des Bundesamtes dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht.
Das Bundesamt hat bei Erlass der vorstehend wörtlich wiedergegebenen
Handlungsanweisung offenbar seine Bindung an Recht und Gesetz gem. Art.
20 Abs. 3 GG nicht zureichend in den Blick genommen. Die Vorgaben des
Gesetzgebers in § 31 Abs. 1 Sätze 4 und 6 AsylVfG sind nach dem Wortlaut
der Norm eindeutig; ein Auswahlermessen ist dem Bundesamt nicht
eingeräumt. In der Kommentierung wird deshalb zutreffend darauf
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hingewiesen, dass (derzeit) kein realistischer Fall vorstellbar sei, in dem
ausnahmsweise von der Regelverpflichtung des § 31 Abs. 1 Sätze 4 und 6
AsylVfG abgewichen werden dürfe (vgl. Funke-Kaiser in:
Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Stand: 97. Erg.lfg. Februar 2013, § 31
Rn. 10). Der Gesetzgeber hat sich im Zuge der Einfügung des § 27a AsylVfG
in die Vorschrift des § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG durch das 1.
Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I, S. 1970) bewusst
für das Verfahren der persönlichen Zustellung von Entscheidungen des
Bundesamtes gem. § 27a AsylVfG an den Betroffenen entschieden und hielt
dies - offenbar zur Beschleunigung der Überstellungen an den zuständigen
Mitgliedsstaat - explizit für erforderlich (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 424); diese im
Jahre 2007 getroffene Entscheidung hat er durch das 2.
Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2013 nicht revidiert. Deshalb hat
das Bundesamt in den Fällen des § 27a AsylVfG bis auf weiteres sein
Verfahren an § 31 Abs. 1 Sätze 4 und 6 in der derzeit geltenden Fassung
auszurichten, solange diese Vorschriften unverändert Fortgeltung
beanspruchen (so im Ergebnis auch VG Hamburg, Urteil vom 21. Juni 2013 -
10 A 430/12 -, zit. nach juris Rn. 16; VG Oldenburg, Beschlüsse vom 6.
November 2013 - 3 B 6437/13 -, zit. nach juris Rn. 3; und vom 14. November
2013 - 3 B 6286/13 -, zit. nach juris Rn. 4).
Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass der angefochtene Bescheid
des Bundesamtes vom 2. Oktober 2013 nicht durch Zugang beim
Prozessbevollmächtigten der Antragsteller am 9. Oktober 2013 wirksam
zugestellt und damit bekannt gegeben wurde. Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1
VwVfG wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist
oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm
bekannt gegeben wird; nach § 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist ein Verwaltungsakt
demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von
ihm betroffen wird, wobei Vorschriften über die Bekanntgabe eines
Verwaltungsaktes mittels Zustellung gemäß § 41 Abs. 5 VwVfG unberührt
bleiben. Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller ist wegen der Vorschrift
des § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG nicht Empfangsberechtigter (dazu vgl.
BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 - 8 C 43/95 -, BVerwGE 104, 301, zit. nach
juris Rn. 27 ff.) im Sinne von § 8 VwZG, sondern es sind die Antragsteller
höchstpersönlich (ebenso VG Oldenburg, Beschlüsse vom 6. und 14.
November, a.a.O., Rn. 4 bzw. 5).
Der Zustellungsmangel ist vorliegend indes geheilt worden. Gemäß § 8 VwZG
gilt ein Dokument, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt
oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist,
als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten - hier
den Antragstellern - tatsächlich zugegangen ist. Dabei bezweckt die durch das
Gesetz zur Novellierung des Verwaltungszustellungsrechts vom 12. August
2005 (BGBl I., S. 2358) mit Wirkung zum 1. Februar 2006 in § 8 VwZG
verwendete Formulierung „tatsächlich zugegangen“ im Unterschied zur
Wortgruppe „nachweislich erhalten“, die bis dato in der Vorgängervorschrift des
§ 9 Abs. 1 VwZG enthalten war, keine Änderung der bisherigen Rechtslage;
beide Begriffspaare sind identisch auszulegen und anzuwenden (vgl.
Engelhardt/App, Kommentar zum VwVG und VwZG, 9. Aufl., § 8 VwZG Rn. 4).
Dementsprechend kann auf die zu § 9 Abs. 1 VwZG ergangene
höchstrichterliche Rechtsprechung weiter zurückgegriffen werden. Das
Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil 18. April 1997 (a.a.O.) dazu
ausgeführt, ein Empfangsberechtigter habe ein Schriftstück im Sinne von § 9
Abs. 1 VwZG erhalten, "wenn es ihm vorgelegen hat und er die Möglichkeit
hatte, von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen; dass er es auch in Besitz
genommen hat, ist nicht zu fordern“ (Rn. 27 m.w.N.). Das
Bundesverwaltungsgericht hat ferner bereits entschieden, dass eine
Zustellung als bewirkt gilt, wenn der Empfangsberechtigte - hier die
Antragsteller - den zuzustellenden Originalbescheid etwa im Rahmen einer
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Besprechung mit ihrem Prozessbevollmächtigten zur Kenntnis genommen hat;
dass der Betroffene dieses Original in den Besitz genommen hat, ist nicht
erforderlich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Juli 1986 - 2 CB 5/85 -, Buchholz
340 § 9 VwZG Nr. 10, zit. nach juris Rn. 10).
So liegen die Dinge hier. Es ist offensichtlich, dass die Antragsteller anlässlich
der Erteilung der mit der Antragsschrift vorgelegten Prozessvollmacht vom 9.
Oktober 2013 den Bescheid des Bundesamtes vom 2. Oktober 2013 im
Rahmen eines Beratungsgesprächs mit ihrem Prozessbevollmächtigten
inhaltlich zur Kenntnis genommen haben müssen; ob ihr
Prozessbevollmächtigte ihnen dabei das Original oder eine Kopie des
angefochtenen Bescheides ausgehändigt hat, kann somit dahinstehen. Eine
Kenntnisnahme des angefochtenen Bescheides durch den Antragsteller zu 1.)
in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten am 9. Oktober 2013 und durch die
Antragstellerin zu 2.) im Rahmen eines weiteren Besprechungstermins am 10.
Oktober 2013 haben die Antragsteller in ihrem Schriftsatz vom 22. Oktober
2013 eingeräumt. Im Ergebnis ist die oben beschriebene Heilung des
Zustellungsmangels jedenfalls eingetreten; der Bescheid des Bundesamtes
vom 2. Oktober 2013 gilt den Antragstellern als am 9. Oktober 2013
bekanntgegeben (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall VG Oldenburg,
Beschluss vom 14. November 2013, a.a.O., Rn. 7; eine lediglich fernmündliche
Mitteilung des Inhalts des angefochtenen Bescheides durch den
Prozessbevollmächtigten bewirkt nach VG Oldenburg, Beschluss vom 6.
November 2013, a.a.O., Rn. 6, dagegen keine Heilung).
Hiergegen können die Antragsteller nicht mit Erfolg einwenden, der Verstoß
gegen § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG sei generell einer Heilung nicht zugänglich;
§ 8 VwZG finde keine Anwendung, weil die §§ 10, 31 AsylVfG
Spezialvorschriften darstellten, die die allgemeinen Vorschriften des VwZG
verdrängten bzw. modernisierten. Zutreffend ist, dass § 10 und § 31 Abs. 1
AsylVfG Spezialvorschriften sind, die die allgemeinen Bestimmungen über die
Zustellung nach den entsprechenden Verwaltungszustellungsgesetzen des
Bundes und der Länder sowie der ZPO punktuell verdrängen bzw.
modifizieren; daneben bleiben das VwZG - hier des Bundes - und die ZPO
jedoch weiter anwendbar (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 10 AsylVfG Rn. 11).
Insbesondere zu § 8 VwZG ist wiederholt entschieden worden, dass der
Anwendbarkeit des § 8 VwZG in Asylverfahren besondere asylrechtliche
Zustellungsvorschriften nicht entgegenstehen (OVG Mecklenburg-
Vorpommern, Beschluss vom 26. März 2013 - 2 M 104/13 -, AuAS 2013, S.
102, zit. nach juris Rn. 6). Auch das von den Antragstellern zitierte Urteil des
VG Hamburg vom 21. Juni 2013 (a.a.O., Rn. 18) sowie die erwähnten
Beschlüsse des VG Oldenburg vom 6. und 14. November 2013 (a.a.O., Rn. 4
bzw. 5) unterstellen die Anwendbarkeit des § 8 VwZG. Die von den
Antragstellern zitierte Kommentierung (Bergmann in:
Renner/Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 10. Auflage, § 31
AsylVfG Rn. 9) spricht ebenfalls nur von einer Modifizierung der allgemeinen
Zustellungsvorschriften, nicht aber von einer vollständigen Verdrängung
derselben.
Nach alledem wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der Hauptsache - 2 A
882/13 - seit dem 17. Oktober 2013 bei der erkennenden Kammer anhängigen
Anfechtungsklage in zulässiger Weise gegen den angefochtenen Bescheid
des Bundesamtes und begehren dessen Aufhebung. Die Klage ist jedenfalls
innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben
worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1
Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit
Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im
vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen
Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige
Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien
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der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der
Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im
Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des
angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen
eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des §
74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist,
käme den Antragstellern jedenfalls die Unrichtigkeit der vom Bundesamt
erteilten Rechtsbehelfsbelehrung gem. § 58 Abs. 2 VwGO hier zugute.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist bereits
am 15. Oktober 2013, und damit innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2
Satz 1 AsylVfG gestellt worden.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil bei dieser Entscheidung der problematische
Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 2.) nicht in den Blick genommen
wurde.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a
AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen
Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor
Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob
Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen.
Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2,
3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer
Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997
- 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -
BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten
"zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG
bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet
„sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die
Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann
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ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach §
26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass
das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls
sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der
Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem
Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in
den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht
erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich
unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-,
Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011,
310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG
MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-
AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15
f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl.
Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und
vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8).
Ausweislich der von den Antragstellern vorgelegten Arztbriefe der
Universitätsmedizin I. (J.), Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 22. Oktober, 25. November und 2. Dezember 2013 sind
bei der Antragstellerin zu 2.) eine schwere Depression mit psychotischem
Erleben (F 32.3), eine Anpassungsstörung (F 43.1), eine posttraumatische
Belastungsstörung (F 43.2) und eine virale Gastritis diagnostiziert worden. Sie
befand sich deswegen vom 21. Oktober bis 2. Dezember 2013 in stationärer
Behandlung und bedarf nach Entlassung einer weiteren ambulanten
Behandlung u.a. mit psychiatrischer Medikation. Nach dortiger fachärztlicher
Einschätzung ist die Antragstellerin zu 2.) auch nach ihrer Entlassung
gegenwärtig nicht reisefähig; ein Gutachten über deren Gefährdung im Falle
einer Abschiebung bzw. Überstellung müsse eingeholt werden.
Bei dieser Sachlage ist die Auffassung der Antragsteller, die Antragstellerin zu
2.) sei gegenwärtig nicht reisefähig, jedenfalls bedürfe es in dieser Hinsicht
weiterer Aufklärung des Sachverhalts in der anhängigen Hauptsache, nicht
von der Hand zu weisen. Hierzu wird das Bundesamt über die zuständige
Ausländerbehörde - Stadt I. - zeitnah eine amtsärztliche Untersuchung der
Antragstellerin zu 2.) zur Beantwortung der Fragen nach der Reisefähigkeit
und der weiteren Behandlungsbedürftigkeit der geltend gemachten
Erkrankungen bei deren Rückkehr nach Polen herbeizuführen haben. Sollten
sich hierbei Einschränkungen der Reisefähigkeit (z.B. medizinisch begleitete
Rückführung) oder eine fortdauernde Behandlungsbedürftigkeit der
Antragstellerin zu 2.) ergeben, hat das Bundesamt hieran anknüpfend
darzulegen, dass die zuständigen
polnischen Stellen ggf. eine medizinisch begleitete Überstellung gewährleisten
und/oder eine ggf. notwendige medizinische Weiterbehandlung der
Antragstellerin zu 2.) bei ihrer Rückkehr zukommen lassen werden. Dies gilt
insbesondere in Ansehung des Umstandes, dass das Office for Foreigners of
the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem
Bundesamt mit Schreiben vom 27. September 2013 seine Zuständigkeit für die
Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II- Verordnung erklärt hat, es
demzufolge davon ausgeht, dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten
(ersten) Asylantrag zurückgenommen haben bzw. insoweit eine
Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift. Das Bundesamt kann sich
diesbezüglich nicht auf allgemeine Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in
Warschau zur medizinischen Versorgung von Asylbewerbern beschränken
und darauf verweisen, die polnischen Stellen würden ggf. eigene
medizinischen Feststellungen zum weiteren Behandlungsbedarf der
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Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende Zusage nicht erlangt werden
könne.
Da der Antragsteller zu 1.) die Ehemann und die Antragsteller zu 3.) und 4.) die
minderjährigen Kinder der erkrankten Antragstellerin zu 2.) sind, nehmen auch
diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit
durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der Familieneinheit ist
zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-
II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf.
eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds.
OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach
juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil.
Die Trennung der ggf. nicht reisefähigen Antragstellerin zu 2.) von ihrer Familie
ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller nach Polen somit
rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG München,
Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn. 17; VG
Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.