Urteil des VG Göttingen vom 28.11.2013

VG Göttingen: aufschiebende wirkung, annahme des antrags, überstellung, verordnung, wiederaufnahme, eugh, belgien, begriff, aussetzung, bundesamt

1
2
3
Dublin-II-Verfahren - Abänderung nach § 80 Abs. 7
VwGO wegen Fristablaufs
Nach Inkrafttreten des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG durch das Gesetz vom
28. August 2013 bewirkt das dort normierte gesetzliche
Vollstreckungshindernis, dass die 6-monatige Überstellungsfrist des Art. 20
Abs. 1 d) Satz 2 EGV 343/2003 neu zu laufen beginnt.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 28.11.2013, 2 B 887/13
§ 34a Abs 2 S 2 AsylVfG, § 27a AsylVfG, § 36 Abs 3 S 8 AsylVfG, Art 20 Abs 1d S 2
EGV 343/2003, § 80 Abs 7 VwGO, § 80 Abs 1 VwGO
Tenor
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.
Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.
Gründe
Nach den übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ist das
Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen
und nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO über die Verfahrenskosten unter
Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem
Ermessen zu entscheiden.
Im vorliegenden Fall entspricht es billigem Ermessen, der Antragsgegnerin die
Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, denn das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge hat seinen in der Hauptsache 2 A 805/13 angefochtenen Bescheid
vom 20. Juni 2013, mit dem es festgestellt hat, dass die von den Antragstellern
in Deutschland am 24. Januar 2013 gestellten (weiteren) Asylanträge gem. §
27a AsylVfG unzulässig sind (Ziffer 1.), und es die Abschiebung der
Antragsteller nach Belgien gem. § 34a Abs. 1 AsylVfG angeordnet hat (Ziffer
2.), nach Ablauf der von ihm im Verwaltungsverfahren ermittelten
Überstellungsfrist (2. November 2013) aufgehoben. Damit hat es dem
Begehren der Antragsteller vollumfänglich entsprochen und sich demzufolge
freiwillig in die Rolle der Unterlegenen begeben. Dem Rechtsgedanken des §
154 Abs. 1 VwGO entspricht es daher, der Antragsgegnerin die Kosten des
Verfahrens aufzuerlegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Dezember 1981 - 1
WB 166/80 -, zit. nach juris Rn. 18).
Der gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellte Antrag der Antragsteller, den
Beschluss der Kammer vom 11. Oktober 2013 - 2 B 806/13 -, veröffentlicht in
juris, wegen des Ablaufs der 6-Monats-Frist gem. Art. 20 Abs. 1 d) Satz 2 1. Alt.
der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur
Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des
Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in
einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom
25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG)
1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S.
80), abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage - 2 A 805/13 -
4
5
6
nunmehr anzuordnen, hätte keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Eine
Abänderung des Beschlusses der Kammer vom 11. Oktober 2013 (a.a.O.)
gem. § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO wegen veränderter Umstände, die die
Antragsteller in dem Überschreiten des vom Bundesamt aufgrund der
Übernahmeerklärung des belgischen Federal Public Service Home Affairs
Immigration Office vom 2. Mai 2013 auf den 2. November 2013 bestimmten
Endes der Überstellungsfrist erblicken, wäre nicht erfolgt. Eine Überstellung
der Antragsteller nach Belgien hätte auch über den 2. November 2013 hinaus
erfolgen können.
Nach Art. 20 Abs. 1 d) Satz 2 EGV 343/2003 erfolgt die Überstellung gemäß
den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach
Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies materiell
möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der
Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat
oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende
Wirkung hat. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist in
Anknüpfung an das Urteil des EuGH in der Rs. Petrosian (Urteil vom 29.
Januar 2009 - C-18/08 -, zit. nach juris, Rn. 37 ff.) bereits entschieden, dass
diese Vorschrift zwei Anknüpfungspunkte für den Lauf der 6-Monats-Frist zur
Überstellung des betroffenen Asylbewerbers an den zuständigen
Mitgliedsstaat bietet. Die Überstellungsfrist kann einmal an die
Wiederaufnahmezusage des zuständigen Mitgliedsstaates anknüpfen (1. Alt.)
und zum anderen an die (gerichtliche) Entscheidung über einen
aufschiebende Wirkung entfaltenden Rechtsbehelf des betroffenen
Asylbewerbers gegen die Mitteilung des ersuchenden Mitgliedsstaates über
seine Wiederaufnahme durch den zuständigen Mitgliedsstaat i.S.d. Art. 20
Abs. 1 e) EGV 343/2003 (2. Alt., vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 6. Februar
2013 - 13 LA 270/11 -, zit. nach juris Rn. 6 ff.; vgl. zur gleichen
Regelungssystematik in Art. 19 Abs. 3 Satz 1 EGV 343/2003 Nds. OVG,
Beschluss vom 2. August 2012 - 4 MC 133/12 -, EzAR-NF 65 Nr. 9, zit. nach
juris Rn. 14). Anknüpfungspunkt für die nicht ab Wiederaufnahmezusage,
sondern erst ab der "Entscheidung über den Rechtsbehelf" laufende Frist von
(längstens) sechs Monaten sind nach den in der Dublin-II-Verordnung
vorgesehen Abläufen zum einen eine bereits vorliegende behördliche
Entscheidung des erfolgreich um Wiederaufnahme ersuchenden Staates
(Abschiebungsanordnung) und zum anderen ein dagegen eingelegter
Rechtsbehelf (Nds. OVG, a.a.O., Rn. 8); dabei muss der die
Abschiebungsanordnung enthaltene Bescheid des Bundesamtes dem
betroffenen Asylbewerber noch während des Laufs der an die
Wiederaufnahmezusage anknüpfenden regulären Überstellungsfrist
bekanntgegeben worden sein (Nds. OVG, a.a.O., Leitsatz). Diese
Voraussetzungen waren im Falle der Antragsteller gegeben.
Der in Art. 20 Abs. 1 d) Satz 2 und Art. 20 Abs. 1 e) Sätze 4 und 5 EGV
343/2003 verwendete Begriff des Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung
ist inhaltlich mit dem in Art. 19 Abs. 2 Sätze 3 und 4 Abs. 3 Satz 1 EGV
343/2003 identisch (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, Kommentar,
3. Aufl., K 7 und K 10 zu Art. 20). Zu diesen Vorschriften hat das Nds. OVG in
seinem Beschluss vom 2. August 2012 (a.a.O., zit. nach juris Rn. 15)
Folgendes ausgeführt:
„Der vom Antragsteller eingelegte Rechtsbehelf hat auch aufschiebende
Wirkung im Sinne des Art 19 Abs. 3 Satz 1 letzter Hs. der Verordnung (EG) Nr.
343/2003. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v.
29.1.2009 - C 19/08 -, Rn 45) zu Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) der Verordnung (EG)
Nr. 343/2003, der ähnlich wie Art. 19 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr.
343/2003 vorschreibt, dass die Überstellung eines Asylbewerbers im Rahmen
eines Wiederaufnahmegesuchs spätestens innerhalb einer Frist von sechs
Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch einen
7
anderen Mitgliedstaat oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn
dieser aufschiebende Wirkung hat, erfolgt, beginnt die Frist für die
Durchführung der Überstellung erst zu laufen, wenn grundsätzlich vereinbart
und sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und wenn
lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben; dass diese Überstellung erfolgen
wird, kann aber nicht als sichergestellt angesehen werden, wenn ein Gericht
des ersuchenden Mitgliedstaats, bei dem ein Rechtsbehelf anhängig ist, über
die Frage in der Sache nicht entschieden hat, sondern sich darauf beschränkt
hat, zu einem Antrag auf Aussetzung des Vollzugs (Hervorhebung durch den
Senat) der angefochtenen Entscheidung Stellung zu nehmen. Daraus ergibt
sich, dass zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 Abs. 1
Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 die Frist zur Durchführung der
Überstellung nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung läuft,
mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird,
sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die
Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung
nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urt. v. 29.1.2009, a.a.O., Rn 46).
Dieser Rechtsprechung, die ohne Weiteres auf die insoweit inhaltsgleiche
Vorschrift des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003
übertragen werden kann, ist zu entnehmen, dass ein Rechtsbehelf dann
aufschiebende Wirkung im Sinne der vorgenannten Vorschriften hat, wenn
dieser zu einer Aussetzung des Vollzugs führt und insoweit ein
Vollstreckungshindernis darstellt (ebenso Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a Rn 193).
Ob die Aussetzung der Vollziehung im Rahmen einer Entscheidung nach §
123 VwGO oder nach § 80 VwGO getroffen wird, ist dabei ohne Belang
(ebenso VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.6.2012 - A 2 S 1355/11 -; vgl.
ferner Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a Rn 193).“
Diese Rechtsprechung ist auf § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG in der hier
anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der
Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013
(BGBl. I Nr. 54 vom 5. September 2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses
Gesetzes am Tag nach der Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in
Kraft getreten ist, zu übertragen. Die erkennende Kammer hat zwar mit
Beschluss vom 11. Oktober 2013 (a.a.O.) den am 6. September 2013 nach §
80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrag der Antragsteller auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihrer Klage - 2 A 805/13 - abgelehnt, sodass dem in
der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelf der Antragsteller (Klage) gegen den
Bescheid des Bundesamtes vom 20. Juni 2013 unter Zugrundelegung eines
nationalen Begriffsverständnisses keine aufschiebende Wirkung zukam. Indes
ist der unionsrechtliche Begriff der aufschiebenden Wirkung, der auch den Art.
20 Abs. 1 d) Satz 2 und Art. 20 Abs. 1 e) Sätze 4 und 5 EGV 343/2003 inne
wohnt, wegen der völlig unterschiedlichen Ausgestaltung des nationalen
Verfahrensrechts, in das diese Vorschriften hineinweisen, nicht
deckungsgleich mit dem Begriff der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1
VwGO (Funke-Kaiser in: Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Loseblatt,
Stand: 97. Erg.lfg. Februar 2013, § 27a Rn. 193). Ob die Dublin-II-Verordnung
diesbezüglich eine umfassende oder nur eingeschränkte Öffnungsklausel für
das nationale Verfahrensrecht enthält (vgl. dazu Filzwieser/Sprung, a.a.O., K
16 ff. zu Art. 19), kann hier dahinstehen. Jedenfalls hat der deutsche
Gesetzgeber mit der Einfügung des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG durch das
Gesetz vom 28. August 2013 (a.a.O.) entschieden, dass die Abschiebung
eines von einer Überstellungsentscheidung betroffenen Asylbewerbers bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung über den
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht zulässig ist. Die
Antragsteller konnten somit in der Zeit vom 6. September bis 15. Oktober 2013,
dem Tag der Zustellung des Beschlusses der Kammer vom 11. Oktober 2013
(a.a.O.), aufgrund dieses gesetzlichen Vollstreckungshindernisses nicht nach
Belgien überstellt werden. Dem Bundesamt standen damit von vorn herein gut
5 Wochen der am 2. Mai 2011 in Gang gesetzten Überstellungsfrist für die
8
9
Organisation und Durchführung der Überstellung der Antragsteller nach
Belgien nicht zur Verfügung.
Nach der vom Nds. OVG in seinem Beschluss vom 2. August 2012 (a.a.O.)
zitierten Entscheidung des EuGH in der Rs. Petrosian (a.a.O.) läuft die an die
Einlegung eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung anknüpfende
Überstellungsfrist von (weiteren) 6 Monaten erst ab der gerichtlichen
Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des (Überstellungs-)Verfahrens
entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen
kann (a.a.O., Rn. 46 und 53). Der EuGH führt zur Begründung aus, die
Überstellungsfrist von 6 Monaten verfolge in Anbetracht der praktischen
Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der
Durchführung der Überstellung einhergehen, das Ziel, es auch dem
Mitgliedsstaat, der einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt, zu
ermöglichen, sich im Hinblick auf die Durchführung abzustimmen und es
insbesondere dem ersuchenden Mitgliedsstaat zu erlauben, die Modalitäten
für die Durchführung der Überstellung zu regeln; deshalb solle jedem
Mitgliedsstaat die gleiche Frist von 6 Monaten zur Verfügung stehen, um die
Überstellung zu bewerkstelligen (a.a.O., Rn. 40 und 43). Sinn und Zweck der
Überstellungsfrist lassen daher nur den Schluss zu, von einem erneuten Lauf
der 6-Monats-Frist in allen Fällen auszugehen, in denen entweder aufgrund
gerichtlicher Anordnung im Einzelfall (gem. § 80 Abs. 5 VwGO) oder aber von
Gesetzes wegen (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG n.F.) ein
Vollstreckungshindernis bestand, dass den ersuchenden Mitgliedsstaat
vorübergehend daran gehindert hat, die Überstellung des betroffenen
Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedsstaat zu organisieren und
durchzuführen.
Hinzu kommt, dass die in § 34a AsylVfG neu eingefügte Regelung des Abs. 2
Satz 2 wörtlich dem Vollstreckungshindernis des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG
entspricht. Die Aussetzungswirkung nach dieser Vorschrift wird in der
bisherigen Rechtsprechung und Kommentierung unter Zugrundelegung eines
unionsrechtlichen - weiteren - Begriffsverständnisses der aufschiebenden
Wirkung als eine Fallgruppe derselben verstanden, mit der Folge, dass diese
Auswirkungen auf den Lauf der Überstellungsfrist etwa nach Art. 19 Abs. 3
Satz 1 2. Alt. EGV 343/2003 entfaltet (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a Rn. 193;
zu Art. 11 Abs. 5 DublÜbk vgl. VG Bremen, Beschluss vom 13. Juli 2000 - 4 V
1393/00.A -, zit. nach juris Orientierungssatz 2; VG Sigmaringen, Beschluss
vom 5. März 2001 - A 4 K 12393/00 -, zit. nach juris Orientierungssatz 7; VG
Freiburg, Beschluss vom 17. Februar 2003 - A 2 K 10045/03 -, zit. nach juris
Rn. 8). Es sind keine sachlichen Gründe ersichtlich, die gegen eine
Übertragung dieser Rechtsfolge auf die neue Vorschrift des § 34a Abs. 2 Satz
2 AsylVfG sprechen.