Urteil des VG Göttingen vom 17.12.2013

VG Göttingen: bundesamt, abschiebung, aufschiebende wirkung, überstellung, verordnung, asylbewerber, erlass, familie, klagefrist, drittstaat

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Dublin-II-Verfahren - Polen
Der Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 1 d) Satz 2
Alt. 1 EGV 343/2003 für einen Angehörigen der Kernfamilie bewirkt wegen
des in der Dublin II - Verordnung verankerten Grundsatzes der Wahrung der
Familieneinheit ein Vollstreckungshindernis für die übrigen
Familienangehörigen.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 17.12.2013, 2 B 912/13
Art 6 GG, § 34a AsylVfG, § 27a AsylVfG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG, Art 20 Abs 1d S
2 EGV 343/2003, Art 16 Abs 1d EGV 343/2003
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 911/13 bei der
erkennenden Kammer seit dem 5. November 2013 anhängigen Klage der
Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 29. Oktober 2013 wird
angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden
nicht erhoben.
Gründe
Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1
Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog.
Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September
2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der
Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das
Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG)
oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der
Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der
Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen
Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten
Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb
einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei
rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.
Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 29. Oktober 2013, der dem
Prozessbevollmächtigten der Antragsteller offenbar am 4. November 2013
zugestellt wurde, entschieden, dass die von den Antragstellern in Deutschland
am 14. Januar 2013 gestellten (weiteren) Asylanträge unzulässig sind (Ziffer
1.); zugleich hat das Bundesamt die Abschiebung der Antragsteller nach Polen
angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der
Hauptsache - 2 A 911/13 - anhängigen Klage, die am 5. November 2013 beim
erkennenden Gericht eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - haben
sie um Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die
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Klage ist somit innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1
AsylVfG erhoben worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche
gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a
Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die
erkennende Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt
gibt seinen Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine
zweiwöchige Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle
Innenministerien der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 -
zur Änderung der Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des
Dublinverfahrens im Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die
Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides verhält sich
dementsprechend. Wäre dagegen eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu
legen, was nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls
nicht von vorn herein auszuschließen ist, wäre diese vorliegend auch gewahrt
worden.
Der Bescheid gilt trotz Zustellung an den Prozessbevollmächtigten der
Antragsteller unter Verletzung der zwingenden Vorgaben in § 31 Abs. 1 Sätze
4 und 6 AsylVfG hier gegenüber den Antragstellern als am 5. November 2013
bekanntgegeben und wirksam; er ist damit tauglicher Gegenstand eines
Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Zur weiteren Begründung dieser
Feststellung verweist die Kammer auf ihren Beschluss vom 9. Dezember 2013
- 2 B 869/13 - (veröffentlicht in juris). Wie in dem dort von der Kammer
entschiedenen Fall ist auch vorliegend davon auszugehen, dass der
Prozessbevollmächtigte den Antragstellern im Rahmen des
Mandantengesprächs vom 5. November 2013, das u.a. in die vorgelegte
Prozessvollmacht vom selben Tage mündete, den Originalbescheid vorgelegt
und erläutert hat, sodass die Antragsteller die Möglichkeit hatten, von seinem
Inhalt Kenntnis zu nehmen. Der Zustellungsmangel gilt somit gem. § 8 VwZG
als geheilt.
Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F.
ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes
erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als
unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1
AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem
Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris,
eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen
Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade
nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative
zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine
Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine
Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem
privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich
maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen.
Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus,
denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen
Bedenken, weil sie dem Grundsatz der Wahrung der Familieneinheit nicht
(mehr) hinreichend gerecht wird.
Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den
zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers
liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine
Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die
Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das
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Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem
Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach
juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:
„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§
26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das
Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG
auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder
Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im
Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu
BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383,
und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf
die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen
Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt
ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet „sobald
feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die Abschiebungsanordnung
darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle
Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a
AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt
vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl
"zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung
entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu
berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem
verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus
subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System
der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur
vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW,
Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai
2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3.
Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November
2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15;
Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August
2006; jew. m.w.N.).“
Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl.
Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und
vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8).
Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis liegt hier seit Ablauf der den
Ehemann der Antragstellerin zu 1.) und Vater der minderjährigen Antragsteller
zu 2.) und 3.) betreffenden Überstellungsfrist von 6 Monaten gem. Art. 20 Abs.
1 d) Satz 2 1. Alt. der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.
Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur
Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags
zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-
Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl.
EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), für die Antragsteller vor.
Das Bundesamt hat in dem bei der Kammer anhängigen Klageverfahren des
Ehemannes bzw. Vaters der Antragsteller - 2 A 757/13 - mit Schriftsatz vom 23.
Oktober 2013 mitgeteilt, die Überstellungsfrist für diesen Asylbewerber laufe
am 17. November 2013 ab; eine gemeinsame Überstellung der gesamten
Familie sei bis dahin beabsichtigt und auch möglich. Die für den 14. November
2013 von der zuständigen Ausländerbehörde - Landkreis Northeim - in
Aussicht genommene Überstellung der gesamten Familie musste indes
storniert werden, nachdem das Dublin-Referat des Bundesamtes der
Ausländerbehörde mit Schreiben vom 4. November 2013 mitgeteilt hatte, dass
die polnischen Kontingente aufgrund der UNO-Konferenz in Warschau bis zum
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21. November 2013 halbiert worden und damit am 14. November 2013 bereits
ausgeschöpft seien. Eine Überstellung des Ehemannes bzw. Vaters der
Antragsteller ist somit seit dem 18. November 2013 nicht mehr möglich. Da
dieser Asylbewerber nicht um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
nachgesucht hat, kommt dem Bundesamt auch kein Neubeginn der
Überstellungsfrist gem. Art. 20 Abs. 1 d) Satz 2 Alt. 2 EGV 343/2003 zugute
(näher dazu Beschluss der Kammer vom 28. November 2013 - 2 B 887/13 -,
zit. nach juris). Im Verfahren des Ehemannes bzw. Vaters der Antragsteller hat
das Bundesamt mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2013 nunmehr mitgeteilt,
dass dessen Asylverfahren als nationales Verfahren weitergeführt und ein das
Klageverfahren 2 A 757/13 erledigender Aufhebungsbescheid ergehen werde.
Bei dieser Sachlage überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller,
denn die vom Bundesamt beabsichtigte gemeinsame Überstellung der Familie
nach Polen ist nicht mehr möglich.
Da die Antragstellerin zu 1.) die Ehefrau des Klägers im Verfahren 2 A 757/13
ist und die minderjährigen Antragsteller zu 2.) und 3.) die gemeinsamen Kinder
sind, rechtfertigt der angekündigte Selbsteintritt der Antragsgegnerin im
Verfahren 2 A 757/13 unter Berücksichtigung des Schutzes der
Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der
Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung
nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV
343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge
haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR
2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der Klage der Antragsteller. Die Trennung der Antragsteller von ihrem
Ehemann bzw. Vater ist unzumutbar; die isolierte Überstellung der
Antragsteller nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1
AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -
, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L
145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).