Urteil des VG Göttingen vom 11.12.2013

VG Göttingen: öffentliche sicherheit, auflösung, körperliche unversehrtheit, stand der technik, unmittelbare gefahr, örtliche polizei, beschränkung, videoüberwachung, wiederholungsgefahr, treppe

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Anfertigung von Übersichtsaufzeichnungen bei einer
Versammlung
1. Die Anfertigung von Übersichtsaufzeichnungen gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2
NVersG setzt voraus, dass es sich um eine unübersichtliche Versammlung
handelt.
2. Eine Versammlung ist unübersichtlich, wenn sie von einem zentral
postierten Polizeibeamten aufgrund ihrer Größe oder der Beschaffenheit des
Versammlungsorts nicht überblickt werden kann.
VG Göttingen 1. Kammer, Urteil vom 11.12.2013, 1 A 283/12
Art 8 GG, § 12 Abs 2 S 2 VersammlG ND
Tatbestand
Mit der Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die polizeiliche
Videoüberwachung und die Auflösung einer Versammlung rechtswidrig
gewesen sind.
Am 13.07.2012 wurde im N. O. in E. der sog. Zukunftsvertrag zwischen dem
Land Niedersachsen und der Stadt E. unterzeichnet. Zu diesem Zweck war
der Besuch des damaligen niedersächsischen Innenministers Schünemann
angekündigt, der das O. über den nördlichen Treppenaufgang betreten sollte.
Ab etwa 13.00 Uhr fanden sich sowohl Gegner der Unterzeichnung des
Zukunftsvertrags (insgesamt 50 bis 60 Personen, unter ihnen der Kläger) als
auch Polizeikräfte auf dem Marktplatz vor dem N. O. im Bereich des nördlichen
Treppenaufgangs ein, wobei die örtliche Polizei (17 Personen) durch
Angehörige der Bereitschaftspolizei (94 Personen) unterstützt wurde. Ab etwa
14.40 Uhr versperrten sechs Personen mit einem Transparent den
Treppenaufgang und gaben ihn auch nach Aufforderung durch die Polizei
nicht frei. Ein Versammlungsleiter wurde auf Anfrage der Polizei nicht benannt.
Der verantwortliche Einheitsführer erteilte sodann eine ausdrückliche Weisung,
den Treppenaufgang freizumachen, und legte den Ort für die Weiterführung
der Versammlung in etwa zehn Meter Entfernung vom derzeitigen Standort
fest. Als die Versammlungsteilnehmer hierauf nicht reagierten, erklärte er die
Versammlung für aufgelöst, teilte dies den Teilnehmern mit und forderte sie
auf, mindestens zehn Meter in Richtung der Fußgängerzone zu gehen. Als
dies nicht befolgt wurde, erteilte er eine Platzverweisung und drohte den
Demonstranten die Anwendung unmittelbaren Zwangs an. Nachdem die
Androhung nach dreimaliger Wiederholung keinen Erfolg gezeigt hatte, wurde
die Treppe gegen 14.45 Uhr geräumt und die Versammlungsteilnehmer
wurden durch eine Polizeikette ca. drei Meter zur Seite geschoben. Kurz
darauf traf der Innenminister ein und betrat über die geräumte Treppe das O..
Gegen 15.24 Uhr verließ der Minister das O. wieder und reiste ab. Danach
löste sich die Protestaktion auf. Zur Videodokumentation verwendete die
Polizei eine Handkamera, mit der zwischen 14.42 Uhr und 15.25 Uhr etwa
zehn Minuten lang aufgezeichnet wurde. Daneben wurde eine auf einem
Kraftfahrzeug installierte sog. Turmkamera eingesetzt, die zwischen 14.44 Uhr
und 15.25 Uhr etwa 12,5 Minuten aufzeichnete.
Am 26.11.2012 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er zunächst die
Feststellung begehrt hat, dass die polizeiliche Videoüberwachung der
Versammlung vom 13.07.2012 rechtswidrig gewesen sei. Mit Schreiben vom
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06.05.2013 hat er die Klage um den Antrag auf Feststellung erweitert, dass die
Auflösung der Versammlung rechtswidrig gewesen sei. Zur Begründung führt
der Kläger aus, die Polizei habe am fraglichen Tag ohne erkennbaren Anlass
und ohne das Vorliegen der Voraussetzungen des Niedersächsischen
Versammlungsgesetzes eine Videoüberwachung der Versammlung
durchgeführt. Diese habe ein Gefühl des Überwachtwerdens und damit der
Einschüchterung verursacht und ihn in seinem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung verletzt. Eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit
habe nicht vorgelegen. Die Versammlung sei auch nicht unübersichtlich
gewesen. Er beabsichtige, weiterhin an Versammlungen teilzunehmen, und
berufe sich auf eine Wiederholungsgefahr. Die Polizei habe die Versammlung
aufgelöst, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorgelegen hätten. Die
Auflösung sei unverhältnismäßig gewesen, weil eine Beschränkung
ausgereicht hätte.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass die polizeiliche Videoüberwachung der Versammlung
vom 13.07.2012 am N. O. in E. sowie die Auflösung dieser Versammlung
rechtswidrig gewesen sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie führt aus, die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen habe der
Gefahrenabwehr gedient. Person und Amt des niedersächsischen
Innenministers seien in der Vergangenheit durch linksmotivierte Gruppen in E.
immer wieder heftig kritisiert worden. Insbesondere habe man bei einer
Veranstaltung in der Universität E. am 10.01.2012 Erfahrungen gesammelt, als
das Dienstkraftfahrzeug des Innenministers umlagert worden sei und er mit
Einsatzfahrzeugen der Polizei habe abreisen müssen. Dabei sei ein
Begleitfahrzeug durch einen Steinwurf erheblich beschädigt worden. Bereits
am 26.04.2012 habe es eine Protestveranstaltung wegen des
Zukunftsvertrags gegeben. Aufgrund der Veröffentlichung des Termins vom
13.07.2012 habe die Polizei mit einer Protestaktion von 50 bis 100 Personen
gerechnet. Die Auflösung der Versammlung sei notwendig gewesen, um den
Zugang des Ministers zum N. O. zu gewährleisten. Die Meinungskundgabe der
Teilnehmer sei durch das Zurückdrängen weder verhindert noch erschwert
worden, sondern habe am neuen Ort in unmittelbarer Nähe fortgesetzt werden
können. Die vorübergehende Auflösung sei in ihrer Wirkung einer
Beschränkung gleichgekommen und verhältnismäßig gewesen. Nachdem die
Träger des Transparents von der Treppe abgedrängt worden seien, hätten
sich hinter ihnen weitere Versammlungsteilnehmer konzentriert und
körperlichen Gegendruck ausgeübt, den sie verbal aggressiv begleitet hätten.
Auch der Kläger sei hieran beteiligt gewesen. Weil Widerstandshandlungen
und Körperverletzungsdelikte zu befürchten gewesen seien, habe man eine
Videoaufzeichnung erstellt, um später bei Bedarf einen Beweis im
Strafverfahren führen zu können. Man habe befürchtet, dass die polizeiliche
Absperrung überwunden werden könnte und der störungsfreie Verlauf der
Unterzeichnung des Zukunftsvertrags bzw. die körperliche Unversehrtheit von
Polizeibeamten oder des Innenministers und seiner Begleitung beeinträchtigt
würden. Die Demonstranten hätten die Polizisten provoziert und versucht, das
Wenden der Dienstkraftfahrzeuge des Ministers zu behindern.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Akte
eines gegen den Kläger durch die Staatsanwaltschaft E. geführten
strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (XX Js XXXXX/XX) Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
Die Klage hat zum Teil Erfolg und wird im Übrigen abgewiesen.
Soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Auflösung der am
13.07.2012 durchgeführten Versammlung rechtswidrig gewesen sei, ist die
Klage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als Fortsetzungsfeststellungsklage
statthaft. Ob der Kläger wegen der durch die Polizei ergriffenen Maßnahmen
einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff unterlag bzw. ob er sich wegen seiner
Absicht, auch künftig in E. an Versammlungen teilzunehmen, auf ein
Feststellungsinteresse wegen Vorliegens einer Wiederholungsgefahr berufen
kann, kann dahinstehen, denn die gegen eine Auflösung der Versammlung
gerichtete Klage ist jedenfalls nicht begründet.
Gemäß § 8 Abs. 1 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes (NVersG)
kann die zuständige Behörde eine Versammlung unter freiem Himmel
beschränken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung abzuwenden. Sie kann nach § 8 Abs. 2 Satz 1 NVersG eine
Versammlung auflösen, wenn ihre Durchführung die öffentliche Sicherheit
unmittelbar gefährdet und die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann.
Nach der Auflösung haben sich die teilnehmenden Personen unverzüglich zu
entfernen (§ 8 Abs. 2 Satz 3 NVersG). Obwohl der verantwortliche
Einheitsführer in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 26.05.2013
ausgeführt hat, er habe die Versammlung am 13.07.2012 aufgelöst, und das
Wort Auflösung auch auf der mittels Handkamera gefertigten
Videoaufzeichnung hörbar ist, war in der Maßnahme nach rechtlicher
Bewertung durch das Gericht keine Auflösung, sondern lediglich eine
räumliche Beschränkung der Versammlung gemäß § 8 Abs. 1 NVersG zu
sehen. Unter einer Auflösung ist die Beendigung einer bereits begonnenen
Versammlung mit dem Ziel zu verstehen, die Personenansammlung zu
zerstreuen. Wie auch das Verbot ist die Auflösung nur als „ultima ratio“
zulässig, wenn Beschränkungen der Versammlung keinen Erfolg versprechen
und elementare Rechtsgüter gefährdet sind. Eine solche Beendung mit dem
Ziel der Zerstreuung der Ansammlung verfolgte der verantwortliche
Polizeibeamte jedoch ersichtlich nicht. In seiner schriftlichen Stellungnahme
hat er ausgeführt:
„Ich habe dann die Versammlung gem. § 8 (2) NVersG aufgelöst und dieses
auch klar und verständlich den Versammlungsteilnehmern mitgeteilt. Um die
Personen aber nicht gänzlich von der Beobachtung der Ankunft des
Innenministers auszuschließen, eine unmittelbare Einwirkung auf ihn aber
zu verhindern, entschloss ich mich, den Bereich der Entfernung auf ein
Minimum zu reduzieren. Ich ergänzte die Auflösungsverfügung um den
rechtlichen Hinweis: „… bitte gehen Sie mindestens 10 m in Richtung
Fußgängerzone“.“
Auch der Videoaufzeichnung ist zu entnehmen, dass der
„Auflösungsanordnung“ die mehrfache Aufforderung an die
Versammlungsteilnehmer voranging, die P. freizumachen und sich etwa 10
Meter in Richtung Q. zu begeben. Mit der Maßnahme wollte der Polizeiführer
somit lediglich eine geringfügige räumliche Beschränkung der Versammlung
erreichen, ohne ihren Teilnehmern den Grundrechtsschutz zu nehmen. Auch
objektiv gesehen führte die Maßnahme nicht zu einem Verlust des
Grundrechtsschutzes. Vielmehr wurde es den Versammlungsteilnehmern
ermöglicht, ihre Kundgebung in etwa zehn Metern Entfernung zum
ursprünglichen Kundgebungsort ohne wesentliche Unterbrechung mit
demselben Inhalt, demselben Teilnehmerkreis und denselben Möglichkeiten,
öffentlich ihre Meinung zu äußern, fortzuführen. Die Versammlung war nach
Durchführung der Maßnahme somit noch dieselbe wie zuvor und ihre
Teilnehmer übten ihr Demonstrationsrecht bis zur Abreise des Innenministers
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ungehindert aus.
Da somit bei rechtlicher Bewertung keine Auflösung der Versammlung
angeordnet wurde, kann eine Klage gegen eine Auflösung in der Sache
keinen Erfolg haben. Die bloße Beschränkung der Versammlung ist vom
Kläger nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden; vielmehr hat
er hierzu lediglich vorgetragen, eine Beschränkung hätte als im Vergleich zu
einer Auslösung weniger belastende Maßnahme ausgereicht. Eine
Beschränkung ist gegenüber der Auflösung auch kein bloßes „Minus“, dessen
Rechtmäßigkeit das Gericht im Rahmen des gestellten Antrags hätte
überprüfen müssen. Vielmehr handelt es sich um eine Maßnahme, die
eigenen rechtlichen Anforderungen unterliegt und deren Überprüfung der
Kläger daher ausdrücklich hätte beantragen müssen.
Selbst wenn man mit dem Kläger zu der Auffassung gelangen würde, dass
eine von der Polizei als Auflösung bezeichnete Maßnahme rechtlich stets als
Auflösung zu bewerten wäre, hätte die Klage keinen Erfolg. Wäre die
Versammlung tatsächlich aufgelöst worden, so wäre nämlich in unmittelbarem
zeitlichem und räumlichem Zusammenhang zu der aufgelösten erneut eine
Versammlung mit demselben Teilnehmerkreis und zu demselben Thema
durchgeführt worden. Die Maßnahme hätte deshalb keine rechtserheblichen
Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts durch die
Versammlungsteilnehmer und insbesondere den Kläger gehabt. Dieser konnte
seinen Protest in unmittelbarer Nähe zum ursprünglichen Versammlungsort in
unveränderter Weise zu Ausdruck bringen und wurde dabei sowohl vom
Minister als auch von der Öffentlichkeit in derselben Weise wahrgenommen,
wie dies von ihm beabsichtigt und am ursprünglichen Versammlungsort
möglich gewesen war.
Soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Fertigung von
Videoaufzeichnungen der Versammlung vom 13.07.2012 rechtswidrig
gewesen sei, ist die Klage als allgemeine Feststellungsklage gemäß § 43 Abs.
1 VwGO statthaft. Danach kann durch Klage die Feststellung des Bestehens
oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der
Kläger an der baldigen Feststellung ein berechtigtes Interesse hat.
Demgegenüber handelt es sich nicht um eine Fortsetzungsfeststellungsklage,
da die Fertigung von Videoaufzeichnungen kein Verwaltungsakt, sondern ein
Realakt der Polizei war.
Die Klage ist zulässig. Insbesondere kann der Kläger sich auf ein
Feststellungsinteresse berufen, indem er geltend macht, durch die Fertigung
von Videoaufzeichnungen in seinem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie in seinem
Versammlungsgrundrecht (Art. 8 GG) verletzt worden zu sein.
Rechtsgrundlage für die Fertigung von Bild- und Tonübertragungen und -
aufzeichnungen ist § 12 NVersG. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 NVersG kann die
Polizei unter im Einzelnen festgelegten Voraussetzungen Bild- und
Tonaufzeichnungen von einer bestimmten Person offen anfertigen; Derartiges
bezweckte die Polizei vorliegend nicht, da die Videoaufzeichnungen nicht
gezielt auf eine bestimmte Person ausgerichtet waren, sondern die
Versammlung als Ganze erfassen sollten. Nach § 12 Abs. 2 Satz 1 NVersG
kann die Polizei eine unübersichtliche Versammlung und ihr Umfeld mittels
Bild- und Tonübertragungen offen beobachten, wenn dies zur Abwehr einer
von der Versammlung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung erforderlich ist. Sie kann nach § 12 Abs. 2 Satz 2 NVersG zur Abwehr
erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit offen Bild- und
Tonaufzeichnungen von nicht bestimmten teilnehmenden Personen
(Übersichtsaufzeichnungen) anfertigen. Um eine derartige
Übersichtsaufzeichnung handelt es sich vorliegend. Dem steht nicht entgegen,
dass bei der Auswertung Einzelpersonen identifizierbar sind (vgl. hierzu
BVerfG, Entscheidung vom 17.02.2009 - 1 BvR 2492/08 -, BVerfGE 122, 342
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zu Art. 9 Abs. 2 Satz 2 BayVersG). Dies lässt sich aus § 12 Abs. 2 Satz 3
NVersG schließen, wonach die Auswertung von Übersichtsaufzeichnungen
mit dem Ziel der Identifizierung einer Person nur unter bestimmten
Bedingungen zulässig ist. Diese Regelung lässt erkennen, dass die
Möglichkeit der Identifizierung auch bei der Übersichtsaufzeichnung vom
Gesetzgeber gesehen und gebilligt worden ist.
Mit der Anfertigung von Übersichtsaufzeichnungen waren wegen der damit
verbundenen potenziellen Einschüchterungseffekte gewichtige Nachteile für
die Versammlungsteilnehmer verbunden. Übersichtsaufzeichnungen sind für
die Aufgezeichneten immer ein Grundrechtseingriff, da sie gleichzeitig dazu
führen, dass Einzelpersonen individualisierbar werden. Ein prinzipieller
Unterschied zwischen Übersichtsaufzeichnungen und personenbezogenen
Aufzeichnungen besteht nach dem Stand der Technik nicht.
Übersichtsaufzeichnungen begründen daher für Teilnehmer an einer
Versammlung das Bewusstsein, dass ihre Teilnahme und die Form ihrer
Beiträge unabhängig von einem zu verantwortenden Anlass festgehalten
werden können und die so gewonnenen Daten über die konkrete
Versammlung hinaus verfügbar bleiben. Das Bewusstsein, dass die Teilnahme
an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann
Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der
demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Denn wer damit rechnet,
dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass
ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf
die Ausübung seines Grundrechts verzichten (BVerfG, Entscheidung vom
17.02.2009, a.a.O.). Die Fertigung von Übersichtsaufzeichnungen war daher
geeignet, den Kläger in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu
beeinträchtigen. Daneben berührte sie sein Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung.
Darüber hinaus kann sich der Kläger auch unter dem Aspekt der
Wiederholungsgefahr auf ein Feststellungsinteresse berufen. In
versammlungsrechtlichen Verfahren sind bei der Beurteilung des
Feststellungsinteresses die Besonderheiten der Versammlungsfreiheit zu
berücksichtigen. Das Erfordernis der Wiederholungsgefahr setzt zum einen die
Möglichkeit einer erneuten Durchführung einer vergleichbaren Versammlung
durch den Kläger und zum anderen voraus, dass die Behörde voraussichtlich
auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird (BVerfG, Beschluss
vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77). Auf Seiten des Klägers
reicht es aus, wenn sein Wille erkennbar ist, in Zukunft an Versammlungen
teilzunehmen, die ihrer Art nach zu den gleichen Rechtsproblemen und damit
der gleichen Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit führen können. Dagegen darf für
die Bejahung des Feststellungsinteresses nicht verlangt werden, dass die
möglichen weiteren Versammlungen unter gleichen Umständen, mit einem
identischen Motto und am selben Ort durchgeführt werden (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 03.03.2004, a.a.O.). Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, er
beabsichtige, auch in Zukunft an vergleichbaren Veranstaltungen
teilzunehmen, und es ist nicht auszuschließen, dass hierbei wiederum
Übersichtsaufzeichnungen angefertigt werden. Indem die Beklagte ihr
Verhalten verteidigt, zeigt sie des Weiteren, dass sie an ihrer
Rechtsauffassung zu den Anforderungen an die Anfertigung von
Videoaufzeichnungen festhält.
Die Klage ist insoweit auch begründet. Aus der Systematik des § 12 Abs. 2
NVersG geht hervor, dass die Fertigung offener Bild- und Tonaufzeichnungen
in Form von Übersichtsaufzeichnungen gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 NVersG
ebenso wie das bloße Beobachten der Versammlung (ohne dass dabei
Aufzeichnungen gefertigt werden) gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 NVersG
voraussetzt, dass es sich um eine unübersichtliche Versammlung handelt.
Dies ergibt sich bereits daraus, dass § 12 Abs. 2 in Satz 1 NVersG einleitend
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die Voraussetzung einer unübersichtlichen Versammlung nennt und in Satz 2
sodann von „Bild- und Tonaufzeichnungen von nicht bestimmten
teilnehmenden Personen“ spricht. Bei den „nicht bestimmten teilnehmenden
Personen“ kann es sich nur um Personen handeln, die an einer Versammlung
gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 und damit an einer unübersichtlichen Versammlung
teilnehmen. Für eine solche Auslegung spricht auch die ursprüngliche
Fassung des Gesetzesentwurfs (Lt-Drs. 16/2075, S. 6 f.), die wie folgt
formuliert war:
„Die Polizei darf von einer Versammlung und ihrem Umfeld
Übersichtsaufnahmen zur Leitung des Polizeieinsatzes anfertigen, wenn
dies wegen der Größe oder der Unübersichtlichkeit der Versammlung im
Einzelfall erforderlich ist. Sie darf auch (Hervorhebung durch das Gericht)
Übersichtsaufzeichnungen anfertigen, wenn …“
Die Verwendung des Wortes „auch“ zeigt den Bezug zum vorangehenden
Satz und damit auch zur Unübersichtlichkeit der Versammlung (das
Tatbestandsmerkmal der Größe wurde später fallen gelassen). Auch die hierzu
formulierte Begründung (Lt-Drs. 16/2075, S. 35) spricht für eine solche
Sichtweise. Dort heißt es:
„Im bisherigen Recht fehlt eine Befugnis zur Anfertigung der für eine
polizeiliche Lagebeurteilung unabdingbaren Übersichtsaufnahmen von
Versammlungen und deren Umfeld. Absatz 2 Satz 1 enthält daher eine
solche Befugnis der Polizei zur Leitung des Polizeieinsatzes, wenn dies
wegen der Größe oder der Unübersichtlichkeit der Versammlung im
Einzelfall erforderlich ist. Eine Speicherung der erhobenen Daten erlaubt
Absatz 2 Satz 1 nicht, weil für den Zweck der Einsatzleitung eine
Echtzeitübertragung ausreicht. Übersichtsaufzeichnungen sind nach
Absatz 2 Satz 2 darüber hinaus nur zulässig, wenn tatsächliche
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass von der Versammlung
(Hervorhebungen durch das Gericht) erhebliche Gefahren für die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen.“
Die Formulierungen „darüber hinaus“ und „von der Versammlung“ stellen den
Bezug zum ersten Satz des zweiten Absatzes her und zeigen, dass auch
Übersichtsaufzeichnungen nur bei unübersichtlichen Versammlungen zulässig
sind. Für diese Auslegung der Kammer spricht schließlich auch, dass
Übersichtsaufzeichnungen einen wesentlich stärkeren Eingriff in die Rechte
der Versammlungsteilnehmer darstellen als bloße Bild- und Tonübertragungen
und nicht anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber für die bloßen
Übertragungen engere Voraussetzungen schaffen wollte als für die
Aufzeichnungen.
Das Merkmal der Unübersichtlichkeit steht in engem Zusammenhang mit dem
Gefahrenabwehrzweck der Maßnahme. Nur wenn die Unübersichtlichkeit die
Aufzeichnung erfordert, um von der Versammlung ausgehende erhebliche
Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren, ist sie gerechtfertigt. Dabei
wird Unübersichtlichkeit anzunehmen sein, wenn die Versammlung von einem
zentral postierten Polizeibeamten aufgrund ihrer Größe oder der
Beschaffenheit des Versammlungsorts nicht überblickt werden kann
(Wefelmeier/Miller, Niedersächsisches Versammlungsgesetz, 2012, § 12 Rn.
16; Ullrich, Niedersächsisches Versammlungsgesetz, 2011, § 12 Rn. 17). Das
Gericht teilt die Auffassung des Klägers, es habe sich bei der Versammlung
am 13.07.2012 nicht um eine unübersichtliche Versammlung im Sinne der
genannten Vorschrift gehandelt. Mit den Videoaufzeichnungen wurde am
fraglichen Tag um 14.42 Uhr begonnen. Zu dieser Zeit befand sich im Bereich
des nördlichen Treppenaufgangs des N. O. es eine etwa 50, allenfalls 60
Personen umfassende Gruppe von Versammlungsteilnehmern. Die Größe der
Gruppe bewegte sich somit im unteren Bereich dessen, was die Polizei
erwartet hatte. Den Videoaufzeichnungen ist zu entnehmen, dass die
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Personengruppe auf eingeschränktem Raum in der Nähe der Polizeibeamten
stand und deshalb gut zu übersehen war. Die Versammlungsteilnehmer
verließen den Versammlungsort während der gesamten Aufzeichnungen nicht,
sondern bewegten sich lediglich in überschaubarem Umfang hin und her.
Nach dem Verlaufsbericht der Polizei befanden sich insgesamt 111
Polizeibeamte am Versammlungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe. Es
erscheint der Kammer nicht nachvollziehbar, dass eine so große Gruppe von
Polizeibeamten nicht den Überblick über eine etwa halb so große Anzahl von
Versammlungsteilnehmern gehabt haben soll.
Darüber hinaus war die Fertigung von Übersichtsaufzeichnungen - obwohl sie
nur einen geringen zeitlichen Umfang hatte - unverhältnismäßig, weil sie in der
konkreten Situation nicht erforderlich war. Selbst wenn man davon ausgeht,
dass bei einem ungeschützten Eintreffen des Innenministers und seiner
Begleitpersonen deren Gesundheit und körperliche Unversehrtheit durch die
Versammlungsteilnehmer gefährdet gewesen wären und somit eine erhebliche
Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegeben war, so konnte diese Gefahr
angesichts der im Vergleich zur Anzahl der Versammlungsteilnehmer erheblich
größeren Anzahl von Polizeibeamten bereits dadurch abgewendet werden,
dass der Versammlungsort verlegt und der Aufgang zum O. durch eine
Polizeikette abgesperrt wurde. Eine Situation, die die Anfertigung von
Videoaufzeichnungen zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für die öffentliche
Sicherheit gerechtfertigt hätte, bestand um 14.42 Uhr nicht und ergab sich
auch nicht im Zeitraum bis zum Abschluss der Aufzeichnungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO
i.V.m. mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.