Urteil des VG Gießen vom 10.03.2011

VG Gießen: bundesamt für migration, genfer flüchtlingskonvention, aufschiebende wirkung, verordnung, asylverfahren, libyen, körperliche unversehrtheit, persönliche anhörung, abschiebung, presseartikel

1
2
Gericht:
VG Gießen 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 L 468/11.GI.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 26a AsylVfG 1992, § 27a
AsylVfG 1992, § 34a Abs 2
AsylVfG 1992, § 60 AufenthG
2004, Art 1 EGRL 9/2003
Abschiebungsanordnung nach Italien
Leitsatz
1. Die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Italien aufgrund der Dublin-II-Verordnung
kann im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG
untersagt werden, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60
Aufenthaltsgesetz in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.
2. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob eine den Kernanforderungen des EU-
Flüchtlingsrechts entsprechende Durchführung von Asylverfahren in Italien
gewährleistet ist.
3. Insbesondere wird den Anforderungen der Richtlinie 2003/9/EG vom 27.01.2003 zum
Flüchtlingsschutz, wonach materielle Aufnahmebedingungen zu schaffen sind, welche
den Lebensunterhalt einschließlich Unterbringung und Zugang zum Gesundheitssystem
für die Asylbewerber gewährleisten, in weiten Teilen nicht genügt.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.12.2010 – Az.: 1 K
120/11.GI.A – wird angeordnet. Die Abschiebung des Antragstellers nach Italien ist
unzulässig.
2. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug ohne
Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., Frankfurt/Main, bewilligt.
3. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu
tragen.
Gründe
I.
Der 1984 geborene Antragsteller ist somalischer Staatsangehöriger. Er kam
zusammen mit seiner Ehefrau Anfang Oktober 2008 mit dem Boot von Libyen aus
nach Sizilien. Ob dort ein förmlicher Asylantrag gestellt wurde, ist unklar. Der
Antragsteller erhielt in Italien jedenfalls eigenen Angaben zufolge eine Art
Aufenthaltstitel, jedoch weder Unterkunft noch sonstige Leistungen. Aufgrund der
schwierigen Verhältnisse gingen der Antragsteller und seine Frau von Sizilien
zunächst nach Rom, dann nach Mailand. In Mailand verschwand die Ehefrau des
Antragstellers eines Tages.
Im Februar 2009 gelangte der Antragsteller mit dem Bus nach Holland, wo er
zunächst unter anderen Personalien einen Asylantrag stellte. Aufgrund
erkennungsdienstlicher Behandlung wurde sein vorheriger Aufenthalt in Italien
festgestellt und im Dezember 2009 ein Rückübernahmeersuchen an Italien
gerichtet, worauf dieses nicht reagierte. Im März 2010 wurde das Asylgesuch des
Antragstellers in den Niederlanden aufgrund der vorrangigen Zuständigkeit Italiens
abgelehnt; der hiergegen eingelegte Rechtsbehelf wurde im Mai 2010
zurückgewiesen.
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Am 13. oder 14.06.2010 reiste der Antragsteller in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Zunächst äußerte er bei seiner polizeilichen Vernehmung ein
Asylgesuch, das am 15.06.2010 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
registriert wurde. Auf einem mit „Bescheinigung über die Weiterleitung eines
Asylsuchenden“ überschriebenen Blatt vom 15.06.2010 befindet sich der Stempel
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die Unterschrift des Antragstellers
sowie die Unterschrift des Sachbearbeiters.
Am 19.07.2010 wurde ein Übernahmeersuchen an die Niederlande gerichtet,
welches diese unter dem 21.07.2010 mit Blick auf die Zuständigkeit Italiens
zurückwies.
Als Datum des Asylantrags des Antragstellers wurde vom Bundesamt der
21.07.2010 eingetragen.
Am 25.08.2010 wurde der Kläger persönlich „gem. § 25 AsylVfG“ angehört und
dabei ausführlich zu seinem Reiseweg befragt. Auf die Schilderungen des
Antragstellers wird, soweit erforderlich, unten in den Gründen Teil II. eingegangen.
Im Übrigen wird auf das Anhörungsprotokoll vom 25.08.2010 verwiesen.
Am 19.10.2010 richtete das Bundesamt ein Aufnahmeersuchen „aufgrund Art. 16
Abs. 1 c Dublin-II-Verordnung“ an Italien, welches Italien unter dem 17.11.2010
„aufgrund Artikel 10 Abs. 1 Dublin-II-Verordnung“ akzeptierte.
Mit Bescheid vom 14.12.2010 wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig zurück und ordnete die
Abschiebung nach Italien an. Zur Begründung heißt es in dem Bescheid, der
Asylantrag sei gem. § 27a AsylVfG unzulässig, weil Italien gem. Art. 10 Abs. 1
Dublin-II-Verordnung für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei.
Dieser Bescheid wurde dem Antragsteller am 22.01.2011 zugestellt. Am
26.01.2011 hat er dagegen Anfechtungsklage erhoben (Az.: 1 K 120/11.GI.A) und
am 01.03.2011 den vorliegenden Eilantrag eingereicht.
Der Antragsteller trägt vor, in Italien würden die Mindeststandards für
Asylverfahren nicht eingehalten, weshalb die Bundesrepublik Deutschland von
ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müsse. In seinem Fall kämen
erhebliche psychische Beeinträchtigungen hinzu, die sich im Falle seiner
Rückschiebung nach Italien noch verschlimmern würden. Hierzu legt der
Antragsteller entsprechende Bescheinigungen vor.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 26.01.2011 – 1 K 120/11.GI.A –
anzuordnen.
Die Antragsgegnerin stellt keinen Antrag und äußert sich nicht zum Verfahren.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Gerichtsakte des Klageverfahrens (Az.: 1 K 120/11.GI.A) und der
dortigen Behördenakten des Bundesamtes (2 Hefter) Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere gem. § 80 Abs. 5
Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO - statthaft, weil die Anfechtungsklage des
Antragstellers bereits kraft Gesetzes gem. § 75 Satz 1 Asylverfahrensgesetz –
AsylVfG – keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Der Eilantrag ist auch nicht
verfristet, denn eine entsprechende Anwendung der Einwochen-Frist, die § 36 Abs.
3 Satz 1 AsylVfG für Eilanträge gegen die Abschiebungsandrohung vorschreibt,
kommt nicht in Betracht. Die Regelung des § 36 AsylVfG bezieht sich schon nach
der amtlichen Überschrift der Norm ausdrücklich auf das „Verfahren bei
Unbeachtlichkeit und offensichtlicher Unbegründetheit“ von Asylanträgen. Die Frist
des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ist bei Eilanträgen „gegen die
Abschiebungsandrohung“ vorgeschrieben. Hingegen handelt es sich vorliegend
nicht um einen offensichtlich unbegründeten oder unbeachtlichen Asylantrag im
Sinne von § 30 oder § 29 AsylVfG, sondern um einen als unzulässig gem. § 27a
AsylVfG eingestuften Asylantrag wegen der Zuständigkeit eines anderen Staates.
Außerdem hat die Antragsgegnerin keine Abschiebungsandrohung, sondern eine
16
17
18
19
Außerdem hat die Antragsgegnerin keine Abschiebungsandrohung, sondern eine
Abschiebungsanordnung erlassen. Damit liegt schon im Ansatz ein anders
gelagerter Fall vor, als solche, auf die die Frist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG
abzielt. Im Übrigen müsste bei einer analogen Anwendung der Einwochen-Frist
auch die Klage innerhalb einer Woche eingereicht werden (§ 74 Abs. 1 1. HS
AsylVfG); dass dies der Fall ist, davon geht ersichtlich auch das Bundesamt nicht
aus, da es in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheids auf die
zweiwöchige Klagefrist hinweist. Da das AsylVfG sonstige Regelungen zu einer
etwaigen Antragsfrist bei unzulässigen Asylanträgen nicht enthält, sind die
allgemeinen Regelungen der VwGO anzuwenden, welche eine Fristgebundenheit
zwar für die Anfechtungsklage (§ 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO), nicht aber für den
Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorsieht (vgl. Kopp / Schenke, VwGO,
Kommentar, 15. Auflage, § 80 Rdnr. 141). Da die Anfechtungsklage des
Antragstellers am 26.01.2011 und damit innerhalb der Klagefrist erhoben wurde,
ist damit der Eilantrag statthaft.
Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen.
Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt
worden ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden; in
verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung kommt die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO oder nach § 123 VwGO jedoch
dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60
Aufenthaltsgesetz – AufenthG - in Zweifel ziehende Sachlage im für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.
Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2
Grundgesetz - GG - einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert,
dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskommission, - GFK - vom 28. Juli
1951 (BGBl 1953 II S. 560) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten - EMRK - vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 953)
sichergestellt ist. Diese Voraussetzung ist für Drittstaaten außerhalb der
Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich normiert, gilt aber
aufgrund der gebotenen Wertungsgleichheit entsprechend auch für die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für Letztere sind die aus den genannten
Regelungen folgenden Verpflichtungen zudem unter anderem in der Richtlinie
2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den
Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und
in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von
Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten
konkretisiert worden.
Die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des vorgenannten
europäischen Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen insbesondere in
seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG einhergeht, ist ein Sonderfall im Sinne der
bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Eilrechtsschutz bleibt in diesen
Ausnahmefällen möglich und zulässig (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 22.04.2009
– 1 L 775/09.GI.A -, AuAS 2009, 129; VG Gießen, Beschluss vom 25.04.2008 – 2 L
201/08.GI.A -, InfAuslR 2008, 327; auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 06.11.2008
– 13 L 1645/08.A -; VG Weimar, Beschluss vom 24.07.2008 – 5 E 20094/08.We -;
VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.06.2008 – A 3 K 1412/08 -; VG Schleswig,
Beschluss vom 16.06.2008 – 6 B 18/08 -; VG Frankfurt/Main, Beschluss vom
11.01.2008 – 7 G 3911/97.A -).
Diese Rechtssauffassung wird durch entsprechende Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts bestätigt: Bereits in seinem Urteil vom 14.05.1996 hat
das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die Ausschlussregelung des § 34a
Abs. 2 AsylVfG nur bei sinnentsprechender restriktiver Auslegung mit Art. 16a Abs.
2 Satz 3 Grundgesetz – GG – in Einklang steht. Aufgrund des mit Art. 16a Abs. 2
GG verfolgten Konzepts normativer Vergewisserung könne sich der Ausländer
daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass in seinem Einzelfall die Verpflichtungen
aus der Genfer Flüchtlingskonvention – GFK – und der Europäischen
Menschenrechtskonvention – EMRK - nicht erfüllt würden. Eine Prüfung, ob der
Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise
Hinderungsgründe entgegenstünden, könne der Ausländer nur erreichen, wenn es
sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdränge, dass er von einem der im
normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen
20
21
22
23
24
25
26
27
normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen
sei (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49).
Mit seinen auf Griechenland bezogenen Entscheidungen hat das
Bundesverfassungsgericht diese Auffassung bestätigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom
08.09.2009 – 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, 1281; BVerfG, Beschluss vom 22.12.2009
– 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318) und dazu ausgeführt:
„Bliebe dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung
versagt, obsiegte er aber in der Hauptsache, könnten möglicherweise bereits
eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig
gemacht werden. So wäre bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in
Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt,
sollte, wie von ihm, gestützt auf ernst zu nehmende Quellen, befürchtet, ihm in
Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die
Obdachlosigkeit drohen. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige
Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt
bliebe, wiegen dagegen hier weniger schwer. Insbesondere widerspricht die
Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht
gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Eine
gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes
bei Überstellungen nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 besteht nicht.
Vielmehr sieht das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen
fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen
Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e
Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 selbst vor.“
Hinsichtlich Griechenlands wurde das Problem vorerst durch eine befristete
Anweisung des Bundesministeriums des Innern vom 13. Januar 2011 an das
Bundesamt gelöst, Asylsuchende nicht mehr nach Griechenland zu überstellen,
sondern die Asylverfahren in der Bundesrepublik durchzuführen (vgl. insoweit
BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 – 2 BvR 2015/09 -).
Der Antragsteller hat durch seinen umfangreichen Vortrag einen Sonderfall in
oben genanntem Sinne glaubhaft gemacht, sodass der Eilantrag entgegen § 34a
Abs. 2 AsylVfG zulässig ist. Für den Eilantrag besteht auch ein
Rechtsschutzbedürfnis, da ausweislich der vorgelegten Akten die Abschiebung des
Antragstellers in nächster Zukunft vorgesehen ist. Zuletzt sollte die Überstellung
am 01.03.2011 vorgenommen werden, was vermutlich aufgrund der derzeitigen
stationären Einweisung des Antragstellers nicht durchführbar war.
Der Antrag ist auch begründet, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig gem. § 27a AsylVfG
und der Anordnung der Abschiebung nach Italien aufgrund der Verordnung Nr.
343/2003 des Rates vom 18.02.2003 – Dublin-II-Verordnung – bestehen.
Dabei kann dahinstehen, ob die Abschiebungsanordnung in der vorliegenden
Fallkonstellation möglicherweise bereits aufgrund der Nichteinhaltung von in der
Dublin-II-Verordnung vorgeschriebenen Fristen rechtswidrig ist und ob dies im
Rahmen des gem. § 34a Abs. 2 AsylVfG eingeschränkten Prüfungsrahmens im
Eilverfahren überhaupt zum Tragen kommen kann. Zweifelhaft ist zum einen, ob
Italien nicht bereits aufgrund der in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin-II-Verordnung
enthaltenen Regelung unzuständig ist, wonach die Zuständigkeit aufgrund illegaler
Einreise nur zwölf Monate dauert. Auch ist die Einhaltung der Frist des Art. 17 Abs.
1 Dublin-II-Verordnung zweifelhaft, wonach das Übernahmeersuchen binnen drei
Monaten seit der Asylantragstellung gestellt werden muss. Zwar meint das
Bundesamt, der Asylantrag sei formell am 21.07.2010 gestellt worden, aus den
Akten lässt sich derartiges aber nicht entnehmen und das Bundesamt hat auf die
entsprechenden gerichtlichen Nachfragen hierzu auch nichts Erhellendes
vorgetragen. Entscheidend dürfte vielmehr der Eingang des Gesuchs beim
Bundesamt als der zuständigen Behörde sein, was hier am 15.06.2010 geschah.
Damit dürfte die Dreimonatsfrist bereits abgelaufen gewesen sein, als im Oktober
2010 der Übernahmeantrag gestellt wurde.
Letztlich bedarf es hierzu im Rahmen des Eilverfahrens jedoch keiner
abschließenden Entscheidung, denn erhebliche ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung nach Italien ergeben sich aus
anderen Gründen.
Es bestehen nämlich schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung
27
28
29
30
31
Es bestehen nämlich schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung
von Asylverfahren in Italien den oben zitierten Kernanforderungen des EU-Rechts
entspricht. Im Einzelnen:
Zwar hat Italien alle europarechtlich vereinbarten Standards zum Flüchtlingsschutz
in nationales Recht übernommen hat, gleichwohl mehren sich die Hinweise, dass
die tatsächlichen Umstände der Asylverfahren in Italien von diesen normativen
Vorgaben zum Teil erheblich abweichen.
Bereits im Jahr 2006 berichtete Pro-Asyl aufgrund einer Recherchereise in
Süditalien ausführlich über die tatsächliche Situation von Flüchtlingen in Italien (vgl.
Pro Asyl, Bericht vom August 2006: „Zonen der Rechtlosigkeit, Eine Reise auf den
Spuren von Flüchtlingen durch Süditalien“ – Pro Asyl, Bericht 2006 -). Ein
Asylantrag kann danach laut Gesetz in der Polizeidienststelle an der Grenze oder
in der Quästur gestellt werden (Pro Asyl, Bericht 2006 S. 6 und S. 17; ebenso
Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Bericht vom
November 2009 „Rückschaffung in den ´sicheren Drittstaat` Italien“ – Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009 -, dort S. 1 und 4). Die Quästur entspricht in etwa
einem Migrationsamt (vgl. Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, a.a.O.), mithin
dem hiesigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Eins der Probleme vieler
Quästuren ist die Unsicherheit über die Zuständigkeit, die dazu führt, dass
Asylanträge nicht angenommen werden (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S.
4), oder dass Flüchtlinge an den Ort ihres Grenzübertritts zurückschickt werden,
weil man wohl der Meinung ist, der Ausländer müsse seinen Asylantrag bei dem
Grenzposten stellen, bei dem man italienischen Boden betreten habe (Pro Asyl,
Bericht 2006, S. 18). Im Ergebnis führt dies dazu, dass viele Flüchtlinge solange
von Quästur zu Quästur wandern, bis sich eine für zuständig ansieht. Jene sind
wiederum völlig überlastet (Pro Asyl, Bericht 2006, S. 19; Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4). Die Ausländer erhalten keine Informationen
über das Asylverfahren, es fehlt an Anwälten und Richtern vor Ort und damit an
effektivem Rechtsbeistand für die Flüchtlinge (Schw. Beobachtungsstelle, Nov.
2009, S. 4; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 16 und S. 21).
Bedenklich erscheint auch die Qualität der Asylverfahren. Seit Anfang 2009
betreibt Italien die Asylverfahren in einem beschleunigten Verfahren (vgl. focus
Migration, Newsletter 5/2009, „Italien: Maßnahmen gegen irreguläre Migration“, -
im Folgenden: focus Migration 5/2009 -, S. 2). Die Dauer der Anhörungen liegt
zwischen fünf Minuten und maximal einer halben Stunde (vgl. Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4) bzw. im Durchschnitt bei fünf bis zehn
Minuten pro Person, wobei meist keine Rechtsanwälte (Pro Asyl, Bericht 2006, S.
20) und oftmals keine die Muttersprache des Flüchtlings beherrschenden
Dolmetscher anwesend sind, sondern allenfalls englisch- oder
französischsprachige Übersetzer (vgl. Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4;
Pro Asyl, Bericht 2006, S. 20). Häufig ist auch Botschaftspersonal des
Heimatlandes des Flüchtlings bei der Anhörung zum Zwecke der Identifizierung
anwesend, was zu der paradoxen Situation führt, dass ein potentieller
Asylantragsteller von einem Beamten seines eigenen Landes identifiziert wird (Pro
Asyl, Bericht 2006, S. 20). Besteht zwischen einem Herkunftsland und Italien ein
Rückübernahmeabkommen, wie z.B. mit Marokko und Tunesien, so wird gar nicht
lange nach Asylgründen gefragt, sondern umgehend zurückgeschoben; eine
Anerkennung findet dann nie statt (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2 und
S. 4; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 20).
Mehrere Menschenrechtsorganisationen und der Vatikan kritisieren überdies die
seit 2009 praktizierte sofortige Zurückschiebung von Bootsflüchtlingen, meist nach
Libyen – mit dem Italien seit 2009 ein entsprechendes Abkommen unterhält,
obwohl Libyen bekanntermaßen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht
unterzeichnet hat (vgl. etwa Süddeutsche Zeitung, Presseartikel vom 22.05.2009
„Kalkulierte Hetze gegen Einwanderer“; medico international, rundschreiben 03/10
vom 01.10.2010, „Liebesgrüße nach Tripolis“, - im Folgenden: medico international
03/10 -, S. 3) -, ohne zuvor ihren Bedarf nach asylrechtlichem Schutz zu
überprüfen (vgl. UNHCR, Presseerklärungen vom 07.05.2009 und vom 12.05.2009;
Pro Asyl, Presseerklärung vom 11.05.2009 „Bootsflüchtlinge: Abgefangen,
abgedrängt und inhaftiert in Libyen“; Pro Asyl, Artikel vom 03.07.2009 „Das Netz
zieht sich zu: Italien und Griechenland bauen illegale Grenzabschottung aus“;
amnesty international, Jahresbericht 2010; focus Migration 5/2009 S. 2; vgl. auch
Frankfurter Rundschau, Presseartikel vom 11.05.2009 „Rom schickt 240
Flüchtlinge zurück“; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Presseartikel vom
17.05.2009 „Die Vereinten Nationen haben Italien den Verstoß gegen
32
33
34
17.05.2009 „Die Vereinten Nationen haben Italien den Verstoß gegen
internationale Abkommen vorgeworfen“; Pro Asyl, Artikel vom 03.07.2009 „Das
Netz zieht sich zu: Italien und Griechenland bauen illegale Grenzabschottung
aus“). Seit Italien so gegen die Bootsflüchtlinge vorgeht, ist ihre Zahl um 90 %
zurückgegangen (vgl. Kordula Doerfler, Presseartikel „Willkommen in Europa“ in:
Frankfurter Rundschau vom 01.02.2011). Die Flüchtlinge werden in Libyen in eines
der dortigen Auffanglager gebracht, in denen es regelmäßig zu schwersten
menschenrechtswidrigen Übergriffen wie Folter, Vergewaltigung und Mord kommt
(vgl. medico international 03/10, S. 2; Michael Braun, taz, Presseartikel vom
12.05.2009 „Reine Abwehr“).
Ausgesprochen bedenklich ist die Lage von Asylsuchenden in Italien auch während
des Verfahrens. So existiert zwar ein staatliches Aufnahmesystem zur
Unterbringung von Flüchtlingen „SPRAR“ (Sistema di prozezione per richiedenti
asilo e rifugiati), dieses ist jedoch völlig überlastet (vgl. B. an VG Darmstadt vom
26.10.2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 1). Landesweit gibt es
hier 3000 Plätze, die eine Aufnahme von jeweils 6 Monaten ermöglichen. 2009
haben 17.000, 2008 31.000 Personen und 2007 14.000 Personen Asylgesuche
gestellt (B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle,
Nov. 2009, S. 1/2). Die Wartelisten für SPRAR-Plätze sind so lang, dass eine
realistische Perspektive auf einen Platz für die meisten Menschen nicht besteht (B.
an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Bethke/B., Bericht über die
Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010 vom 29.11.2010, - im
Folgenden: Bethke/B., Reisebericht 2010 -, S. 3).
Ein staatliches Sozialsystem, das die Menschen auffangen könnte, existiert in
Italien nicht; die Flüchtlinge bleiben – auch falls sie eine der Plätze von SPRAR
erhalten haben, wenn die sechs Monate um sind – sich selbst überlassen
(Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 3; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2;
Pro Asyl, Bericht 2006, S. 7). Dies gilt sowohl für abgelehnte Asylbewerber als auch
für solche, die (subsidiären) Schutz erhalten haben (Bethke/ B., Reisebericht 2010,
S. 2 und S. 3; B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 7). Für
Asylsuchende gibt es Erstaufnahmeeinrichtungen, CARA (Centri di accoglienza per
richiedenti asilo) genannt; allerdings verlieren die Flüchtlinge nach Abschluss ihres
Asylverfahrens jeden Anspruch auf Unterbringung dort (Bethke/B., Reisebericht
2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S.1 und S. 3). Auch finden viele
Asylsuchende erst gar keinen Platz in diesen Erstaufnahmeeinrichtungen (Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 1). Die große Mehrheit der Asylsuchenden ist
damit ungeschützt, ohne Obdach, Integrationshilfe und gesicherten Zugang zu
Nahrung. Die Betroffenen übernachten in Parks, in leer stehenden Häusern und
überleben dank der Hilfe von karitativen Organisationen (Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 15; Kordula
Doerfler, Presseartikel „Willkommen in Europa“ in: Frankfurter Rundschau vom
01.02.2011).
Zwar vermögen diese, insbesondere die kirchlichen Versorgungsangebote, wohl
einen Teil des Nahrungsbedarfs abzudecken, dies gilt für weniger
durchsetzungsfähige Menschen, insbesondere Kinder, Jugendliche, Kranke, aber
allenfalls eingeschränkt (B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw.
Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 7; Pro Asyl,
Bericht 2006, S. 7). Das Platz- und Obdachlosigkeitsproblem betrifft auch die
Rückkehrer im Rahmen von Dublin-II-Verfahren. Zwar sollen diese am Flughafen in
Rom in Empfang genommen werden, jedoch besteht auch für sie ein Platzproblem
und aufgrund langer Wartelisten ist die Lage gleichwohl prekär; das gilt selbst für
unbegleitete Minderjährige (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 3). Einen
Anspruch auf Wohnraum haben auch diese Rückkehrer nicht, ebenso wenig wie auf
existenzsichernde Sozialleistungen (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 13). Laut
einem offiziellen SPRAR-Bericht wurden in den Jahren 2008 und 2009 lediglich 12 %
der Dublin-Rückkehrer in ein SPRAR-Projekt vermittelt; 88 % hingegen wurden der
Obdachlosigkeit überlassen (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 13 mit Nachweisen;
B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 5; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009,
S. 2). Die ehemalige somalische Botschaft in Rom wird bereits seit Jahren von
Flüchtlingen bewohnt, die dort unter unzumutbaren Bedingungen ihr Dasein fristen
(Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 8 f. mit Nachweisen zu Videos; B. an VG
Darmstadt vom 26.10.2010, S. 4; vgl. auch Michael Braun, taz, Presseartikel vom
,
Presseartikel „Willkommen in Europa“ in: Frankfurter Rundschau vom 01.02.2011).
Viele andere verlassene Gebäude werden von Flüchtlingen entsprechend genutzt,
35
36
37
Viele andere verlassene Gebäude werden von Flüchtlingen entsprechend genutzt,
aber es gibt auch Slum-artige Wellblech- und Lehmhüttenansammlungen auf
Brachflächen (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 9f.; B. an VG Darmstadt vom
26.10.2010, S. 4).
In all diesen Unterkünften befinden sich auch zahlreiche Rückkehrer aus Dublin-II-
Verfahren (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 13; B. an VG Darmstadt vom
26.10.2010, S.5). Die vielfach behauptete bevorzugte Behandlung von Dublin-II-
Rückkehrern gibt es in der Lebenswirklichkeit nicht (Bethke/B., Reisebericht 2010,
S. 13; B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 5; Schw. Beobachtungsstelle, Nov.
2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 21). Offenbar leben allein im Großraum Rom
mehrere tausend Schutzberechtigte oder abgelehnte Asylbewerber in solchen
behelfsmäßigen Unterkünften oder unbewohnten Häusern, ohne dass sie eine wie
auch immer geartete Alternative zu diesen Aufenthaltsorten hätten. Viele
Flüchtlinge, die in keinem der „besetzten“ Häuser oder Hütten eine Unterkunft
finden, übernachten in Parks, U-Bahnhöfen, unter Brücken oder in Tunneln und
sind dort massiven Gefährdungen, insbesondere durch Überfälle, Diebstähle und
sexuelle Übergriffe ausgesetzt (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 11f.).
Aus der Obdachlosigkeit der vielen tausend Flüchtlinge resultieren für diese
massive Folgeprobleme: So ist zunächst die Anmeldung eines festen Wohnsitzes
unter einer dieser Anschriften nicht möglich (B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010,
S. 5). Ein solcher ist aber sowohl für den Zugang zum staatlichen
Gesundheitssystem als auch für die Zuteilung einer Steuernummer erforderlich;
letztere wiederum wird für einen legalen Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten benötigt
(Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 13; B. an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 5;
Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2). Für Dublin-II-Rückkehrer bedeutet
eine solche Situation zugleich, dass auch die Angabe einer offiziellen,
ladungsfähigen Anschrift – für ein etwa in Deutschland noch laufendes
Gerichtsverfahren – unmöglich ist (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 7).
Postzustellungen sind an solche Orte ohnehin nicht möglich (Bethke/B.,
Reisebericht 2010, S. 7), was eine weitere massive Erschwernis für die Flüchtlinge
bedeutet. Ganz schwierig gestaltet sich die Lage auch für psychisch besonders
schutzbedürftige Personen: Dem statistischen Jahresbericht des SPRAR für 2009
listete italienweit drei Projekte für solche Personen auf mit insgesamt 16
Unterkunftsplätzen, wovon allerdings erst fünf tatsächlich zur Verfügung standen,
während die anderen noch in Planung waren (Bethke/B., Reisebericht 2010, S. 13;
vgl. auch Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 3).
Aus der Gesamtschau dieser Umstände ergibt sich, dass die Mindestnormen,
welche die Europäische Union – EU – an die Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge
stellt, in Italien in großen Teilen nicht erfüllt werden. Nach Artikel 36 Abs. 3 Bchst. a
der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen
für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der
Flüchtlingseigenschaft – Richtlinie 2005/85/EG – darf ein Land nur dann als sicherer
Drittstaat betrachtet werden, wenn es die Genfer Flüchtlingskonvention ohne
geografischen Vorbehalt ratifiziert hat und deren Bestimmungen einhält. Dies ist
bei Libyen nicht der Fall (vgl. Anlage zur Genfer Flüchtlingskonvention „Liste der
Vertragsstaaten“, vom 01.02.2004). Gleichwohl schickt Italien eine Vielzahl von
Flüchtlingen in dieses Land zurück, ohne eine Prüfung in der Sache vorzunehmen,
geschweige denn Asylanträge entgegenzunehmen. Damit verstößt Italien gegen
die in der Richtlinie 2005/85/EG festgelegten Vorschriften über das Konzept des
sicheren Drittstaats. Zudem dürfen die Mitgliedstaaten das Konzept des sicheren
Drittstaats nur dann anwenden, wenn die zuständigen Behörden sich davon
überzeugt haben, dass ein Asylsuchender in dem betreffenden Drittstaat keiner
Gefährdung von Leben und Freiheit aufgrund unverfügbarer Merkmale ausgesetzt
ist, dass das Verbot der Rückführung eingehalten wird, und wenn die Möglichkeit
besteht, dort einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen
und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gem. der Genfer
Flüchtlingseigenschaft zu erhalten (vgl. Artikel 27 der Richtlinie 2005/85/EG).
Derartige Gewährleistungen gibt es indes in Libyen nicht. Immer wieder gelangen
Berichte über Folterungen und Misshandlungen von inhaftierten Migranten,
Flüchtlingen und Asylsuchenden an die Öffentlichkeit. Ihnen wird kein Schutz
gemäß dem internationalen Flüchtlingsrecht gewährt. Am 15.01.2008 gaben die
libyschen Behörden ihre Absicht bekannt, alle "illegalen Migranten" abzuschieben.
Im Anschluss daran erfolgte eine Massenausweisung von Staatsangehörigen aus
Ghana, Mali, Nigeria und anderen Ländern. Mindestens 700 Eritreer - Männer,
Frauen und Kinder - wurden festgenommen. Ihnen drohte die Abschiebung in ihr
Heimatland, obwohl zu befürchten war, dass sie dort schweren
38
39
40
41
Heimatland, obwohl zu befürchten war, dass sie dort schweren
Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein könnten (vgl. Arne Lichtenberg,
Deutsche Welle, Rundfunkmeldung/-manuskript/E-Dokument: „Situation der
Menschenrechte in Libyen“ vom 14.05.2010; vgl. auch Gabriele DelGrande, Bericht
vom 01.02.2010 „Europa lässt einsperren“ in: amnesty journal 2-3/2010, 56-58;
Daniela Weingärtner, Pressebericht „Libysche Lager unmenschlich“ in: taz vom
04.06.2009). Weiterhin liegt in dieser Vorgehensweise Italiens auch ein Verstoß
gegen Artikel 35 der Richtlinie 2005/85/EG, wonach die Mitgliedstaaten Verfahren
festlegen können, um an der Grenze oder in Transitzonen über an diesen Orten
gestellte Asylanträge zu entscheiden; dabei muss indes sichergestellt sein, dass
die betreffenden Personen an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats
verbleiben dürfen (Art. 35 Abs. 3 Bchstb. a der Richtlinie 2005/85/EG). Dies
verhindert Italien seit 2009 mit seiner menschenrechtswidrigen
Zurückschiebungspraxis (vgl. Pro Asyl, Presseerklärung vom 11.05.2009
„Bootsflüchtlinge: Abgefangen, abgedrängt und inhaftiert in Libyen“).
Auch die Anwesenheit von Botschaftspersonals des Heimatlandes des
Asylsuchenden bei dessen persönlicher Anhörung stellt, ebenso wie das häufige
Fehlen eines die Muttersprache des Ausländers sprechenden Dolmetschers einen
Verstoß gegen der Richtlinie 2005/85/EG dar. So hat gem. Artikel 13 Abs. 2 der
Richtlinie 2005/85/EG die persönliche Anhörung unter Bedingungen zu erfolgen, die
eine angemessene Vertraulichkeit gewährleistet. Nach Artikel 13 Abs. 3 der
Richtlinie 2005/85/EG ist zu gewährleisten, dass der Antragsteller seine Gründe
zusammenhängend darlegen kann, wobei ein Dolmetscher für eine Sprache, in der
der Antragsteller sich verständigen kann, zugegen sein muss.
Schließlich stellen die Aufnahme- und Lebensbedingungen, auf die ausweislich
obiger Darlegungen die überwiegende Anzahl der Asylantragsteller in Italien
treffen, einen Verstoß gegen die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar
2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in
den Mitgliedstaaten – Richtlinie 2003/9/EG – dar. Gemäß Artikel 13 der Richtlinie
2003/9/EG tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass Asylbewerbern ab
Antragstellung materielle Aufnahmebedingungen gewährt werden (Abs. 1). Diese
müssen einem Lebensstandard entsprechen, der die Gesundheit und
Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet (Abs. 2). Die materiellen
Aufnahmebedingungen können in Form von Sachleistungen, Geldleistungen oder
Gutscheinen oder einer Kombination dieser Leistungen gewährt werden (Abs. 5). In
jedem Fall müssen die Grundbedürfnisse gedeckt sein (Art. 14 Abs. 8 der Richtlinie
2003/9/EG). Weiterhin haben die Mitgliedstaaten nach Artikel 15 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/9/EG dafür Sorge zu trage, dass Asylbewerber die erforderliche
medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die
unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten umfasst. Zudem ist
Asylbewerbern mit besonderen Bedürfnissen die erforderliche medizinische und
sonstige Hilfe zu gewähren (Artikel 15 Abs. 2 der Richtlinie 2003/9/EG). Auch sind
die speziellen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen besonders
zu berücksichtigen (Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9/EG), Personen mit
traumatischen Vorerfahrungen ist im Bedarfsfall die erforderliche Behandlung zu
gewähren (Artikel 20 der Richtlinie 2003/9/EG).
Alle diesen Anforderungen wird das Asylverfahren in Italien ausweislich obiger
Darstellungen nicht gerecht. Aufgrund der weit verbreiteten, nicht von den
Flüchtlingen verschuldeten, sondern durch das mangelhafte Aufnahmesystem und
das fehlende materielle Sicherungsnetz verursachte Obdachlosigkeit wird zugleich
der Zugang zum Gesundheitssystem verhindert. Außerdem bedeutet die
Obdachlosigkeit Angewiesenheit auf karitative Organisationen, um überhaupt die
Nahrungsgrundbedürfnisse zu befriedigen, ganz abgesehen von den
beschriebenen Gefährdungen, die im Übrigen damit einhergehen.
Das Vorbringen des Antragstellers passt übrigens glatt und auf erschreckende
Weise in das beschriebene Bild. Seinen Angaben zufolge erhielt er nach der
Einreise zwar eine Art Aufenthaltstitel, musste aber gleichwohl gemeinsam mit
seiner Ehefrau auf der Straße leben. Allenfalls eine Mahlzeit am Tag war über eine
kirchliche Essensverteilung gesichert; das war aber auch nicht immer der Fall, es
kam sogar in den Warteschlangen zu Prügeleien. Sie lebten zum Teil in
Pappkartons, litten Hunger und Kälte. Ob in Sizilien, Rom oder Mailand, die
Verhältnisse waren extrem schwierig für den Antragsteller und seine Frau.
Versuche, in Tunnels zu übernachten, wurden vereitelt, indem die Polizei Hunde
auf die Ausländer hetzte. Die Ehefrau des Antragstellers war schließlich derart
krank und traumatisiert von diesen Zuständen, dass sie freiwillig in Mailand
42
43
44
45
46
47
krank und traumatisiert von diesen Zuständen, dass sie freiwillig in Mailand
„irgendwelchen Mafia-Leuten folgte“. Bei seiner Anhörung ging der Antragsteller
sogar so weit zu sagen, lieber gehe er nach Somalia zurück, als nach Italien; in
Somalia seien die Verhältnisse auf jeden Fall besser als in Italien.
Im Fall des Antragstellers kommt noch die durch die Therapeutische
Stellungnahme des Evangelischen Zentrums für Beratung und Therapie am
Weißen Stein vom 07.12.2010 und die fachärztliche Bescheinigung des
Universitätsklinikums Gießen und Marburg vom 15.02.2011 glaubhaft gemachte
psychische Erkrankung hinzu, die ihn zu einer besonders schutzbedürftigen Person
macht.
Alledem zufolge spricht Überwiegendes dafür, dass beim Antragsteller ein
Sonderfall vorliegt und er bei einer Überstellung nach Italien keinen Schutz
entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards erlangen würde
(ebenso für Rücküberstellungen nach Italien im Rahmen von Dublin II: vgl. VG
Freiburg, Beschluss vom 24.01.2011 – A 1 K 117/11 -; VG Darmstadt, Beschluss
vom 11.01.2011 – 4 L 1889/10.DA.A -, AuAS 2011, 34; VG Köln, Beschluss vom
10.01.2011 – 20 L 1920/10.A -; VG Minden, Beschluss vom 07.12.2010 – 3 L
625/10.A -).
Nach den genannten Berichten erscheint es derzeit auch wenig wahrscheinlich,
dass der Antragsteller von Italien aus sein Klageverfahren in Deutschland gegen
die Abschiebungsanordnung weiterbetreiben könnte. Post würde ihn als
Obdachlosen kaum erreichen; auch den Asylbewerbern, die nicht nur auf der
Straße leben, sondern eine Schlafmöglichkeit in einem der besetzten Häuser
finden, können nach dem Bericht von Bethke/B. keine Briefe zugestellt werden.
Auch dies ist mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes in der Abwägung
nach § 80 Abs. 5 VwGO zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen. Zwar
gibt es im Anwendungsbereich der Verordnung Dublin II grundsätzlich kein
subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens im richtigen Mitgliedstaat.
Wegen der Möglichkeit, dass das Schutzbegehren des Antragstellers hier in den
Schutzbereich von Art. 16a Abs. 1 GG fällt, muss jedoch auch eine
verwaltungsgerichtliche Kontrolle hinsichtlich der Frage der Zuständigkeit
Deutschlands erfolgen (vgl. VG Freiburg, Beschluss vom 24.01.2010, a.a.O.;
Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Okt. 2009, § 27a, Rdnr. 138)
Hinter dem Anspruch des Antragstellers auf Schutz entsprechend der europaweit
vereinbarten Mindeststandards hat das gemeinschaftsrechtliche Interesse an der
Umsetzung der Zuständigkeitsregelungen der Dublin-II-Verordnung
zurückzutreten, zumal die Mängel des derzeitigen europäischen Asylsystems auf
Gemeinschaftsebene bekannt sind und u.a. an einer Änderung der Dublin-II-
Verordnung gearbeitet wird (vgl. VG Freiburg, Beschluss vom 24.01.2011, a.a.O.;
VG Minden, Beschluss vom 28.09.2010 - 3 L 491/10.A -).
Alledem zufolge ist dem Antrag des Antragstellers folgend die aufschiebende
Wirkung seiner Klage anzuordnen; in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5
Satz 4 VwGO ist die Unzulässigkeit der Abschiebung nach Italien als klarstellende
Nebenbestimmung in den Beschlusstenor aufzunehmen. Als Unterlegene hat die
Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die
Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylVfG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.