Urteil des VG Gießen vom 26.01.2011

VG Gießen: widerruf, zugehörigkeit, ausländerrecht, vollstreckung, sucht, rücknahme, gerichtsakte, sicherheitsleistung, abschiebung, staat

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Gericht:
VG Gießen 8.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 K 4156/09.GI.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 73 Abs 7 AsylVfG 1992
Widerruf der Feststellung eines sog.
Abschiebungshindernisses
Leitsatz
Die Feststellung, dass ein sogenanntes Abschiebungshindernis vorliegt, kann
asylrechtlich ohne die Fristenbeschränkung nach § 73 Abs. 7 AsylVfG widerrufen
werden.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen. Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten
abwenden, falls die Beklagte nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in
entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Der am 10.2.1981 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger syrisch-
orthodoxen Glaubens. Mit Bescheid der Beklagten vom 23.10.2000 wurde unter
Abänderung des Bescheids vom 16.9.1988 festgestellt, dass ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich der Türkei und bezogen
auf den Kläger vorliege. Im Übrigen wurde das Vorliegen von
Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG verneint. Zur Begründung, dass ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliege, gab
die Beklagte im Wesentlichen an, die Familie des Klägers könne als syrisch-
orthodoxe Christen nicht auf eine inländische Fluchtalternative, zum Beispiel in
Istanbul, verwiesen werden.
Unter dem 4.8.2009 prüfte die Beklagte die Einleitung eines Verfahrens gemäß §
73 Abs. 3 AsylVfG gegen den Kläger und schlug vor, ein Aufhebungsverfahren
einzuleiten. Am 4.8.2009 wurde dem Entscheidungsvorschlag, ein
Widerrufsverfahren einzuleiten, zugestimmt. Der Kläger wurde unter dem 6.8.2009
zu dem beabsichtigten Widerruf des Abschiebungsschutzes angehört.
Mit Bescheid der Beklagten vom 5.11.2009 wurde die mit Bescheid vom
23.10.2000 getroffene Feststellung, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53
Abs. 4 AuslG vorliege, widerrufen. Ferner wurde festgestellt, dass im Übrigen
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthaltsG nicht vorlägen. Zur
Begründung gab die Beklagte im Wesentlichen an, die Voraussetzungen für die
Feststellung eines Abschiebungshindernisses lägen nicht mehr vor. Die
Zugehörigkeit zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft könne die
Aufrechterhaltung des gewährten Schutzes wegen tatsächlicher bzw. drohender
Verfolgung aufgrund der deutlich zum Positiven veränderten Situation der Christen
in der Türkei heute nicht mehr rechtfertigen.
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Dieser Bescheid wurde am 17.11.2009 zugestellt.
Am 30.11.2009 hat der Kläger Klage erhoben. Mit Schriftsatz seines
Bevollmächtigten vom 24.3.2010 trägt er vor, er, der Kläger, lebe seit ca. 23
Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Er spreche nur aramäisch und habe
keine Verwandten im Tur Abdin. Die Prüfung der Einleitung eines
Widerrufsverfahrens sei erst im Sommer 2009 und mithin verspätet erfolgt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 05.11.2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Behördenakten der Beklagten
Bezug genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 5.11.2009 ist rechtmäßig und
verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der
Kläger wird weder durch den Widerruf der mit Bescheid vom 23.10.2000
getroffenen Feststellung, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG
vorliege, noch durch die Feststellung, im Übrigen lägen Abschiebungsverbote nach
§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthaltsG nicht vor, in seinen Rechten verletzt. Maßgebend ist
die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1
AsylVfG).
Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60
Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthaltsG (früher: § 53 Abs. 4 AuslG) vorliegen zu
widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Dies ist hier der Fall.
Zu Recht wird in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 5.11.2009
darauf abgestellt, dass die Zugehörigkeit zu einer christlichen
Glaubensgemeinschaft die Aufrechterhaltung des dem Kläger ursprünglich
gewährten Schutzes wegen tatsächlicher bzw. drohender Verfolgung aufgrund der
deutlich zum Positiven veränderten Situation der Christen in der Türkei heute nicht
mehr rechtfertigen kann. Ebenso wird in rechtmäßiger Weise festgestellt, dass im
Übrigen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthaltsG nicht vorliegen.
Wegen der Einzelheiten und der Begründung wird auf den angefochtenen Bescheid
vom 5.11.2009 verwiesen (vgl. § 77 Abs. 2 AsylVfG).
Lediglich ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen:
Soweit der Kläger vorträgt, die Prüfung der Einleitung eines Widerrufsverfahrens sei
erst im Sommer 2009 und damit verspätet erfolgt, kann dieser Ansicht aus
Rechtsgründen nicht gefolgt werden. Insbesondere kann sich der Kläger insoweit
nicht auf die Vorschrift des § 73 Abs. 7 AsylVfG berufen. Hiernach hat die Prüfung
nach § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder
eine Rücknahme vorliegen, spätestens bis zum 31.12.2008 zu erfolgen, wenn die
Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden
ist. Die Vorschrift des § 73 Abs. 7 AsylVfG verlangt für sogenannte
Altanerkennungen, dass die Prüfung der Einleitung eines Verfahrens spätestens
bis zum 31.12.2008 zu erfolgen hatte (vgl. VG Gießen, Urt. v. 1.9.2010 – 8 K
3155/09.GI.A -, AuAS 2010, 275, 276; VG München, Urt. v. 19.4.2010 – M 24 K
09.50425 -, juris, Rdnr. 30).
Diese Norm ist hier jedoch nicht anwendbar, da sie lediglich statusbegründende
Entscheidungen über den Asylantrag betrifft. Ein Asylantrag liegt gemäß § 13 Abs.
1 AsylVfG vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise
geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet
Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder
einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm die in § 60 Abs. 1
AufenthaltsG bezeichneten Gefahren drohen. Mit jedem Asylantrag wird nach Abs.
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AufenthaltsG bezeichneten Gefahren drohen. Mit jedem Asylantrag wird nach Abs.
2 dieser Norm sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch, wenn
der Ausländer dies nicht ausdrücklich ablehnt, die Anerkennung als
Asylberechtigter beantragt.
Vorliegend geht es jedoch nicht darum, sondern ausschließlich um den Widerruf
der mit Bescheid der Beklagten vom 23.10.2000 getroffenen Feststellung, dass ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliege. Ein solcher Widerruf ist
ohne jede Beschränkung zulässig und geboten, wenn die Voraussetzungen für die
Feststellung eines der genannten Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthaltsG nicht mehr vorliegen (vgl. Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 8.
Auflage, 2005, AsylVfG, § 73 Rdnr. 20; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar,
Ordner 4, Stand: Oktober 2010, AsylVfG, § 73 Rdnr. 77). War die ursprüngliche
Entscheidung im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig, liegen aber die
Voraussetzungen des Abschiebungshindernisses nicht mehr vor, ist die
Entscheidung zu widerrufen, wobei es auf das Vorliegen von
Vertrauensschutzbestimmungen nicht ankommt (vgl. Schäfer, in: GK – AsylVfG,
Bd. II, Stand: Juni 2010, § 73 Rdnrn. 112 und 118; Hailbronner, a. a. O., Rdnr. 77).
Als unterliegender Teil hat der Kläger nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des
Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO
i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.