Urteil des VG Gießen vom 28.04.2004

VG Gießen: berufsschule, abschlussprüfung, prüfungsordnung, zeugnis, durchschnitt, labor, ausbildung, unterricht, zwischenprüfung, gesundheitswesen

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Gericht:
VG Gießen 8.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 G 2086/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 40 Abs 1 BBiG
(Vorzeitige Zulassung zur Abschlussprüfung nach § 40 Abs 1
BBiG)
Leitsatz
Fehlen Vorgaben in einer Prüfungsordnung, in welchen Fällen überdurchschnittliche
Leistungen vorliegen, ist für diese Wertung im Rahmen der Entscheidung über eine
vorläufige Zulassung zur Abschlussprüfung auf das letzte Zeugnis der Berufsschule
abzustellen. Die Berücksichtigung der Durchschnittsnote sämtlicher
Berufsschulzeugnisse des Auszubildenden kommt insoweit nur in Betracht, wenn dies in
der Prüfungsordnung geregelt ist.
Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die
Antragstellerin vorläufig zu der am 05.05.2004 beginnenden Abschlussprüfung für
Tierarzthelferinnen zuzulassen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Streitwert wird auf 5.000,-- € festgesetzt.
Gründe
I. Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin, der Landestierärztekammer B.
die vorzeitige Zulassung zur Abschlussprüfung als Tierarzthelferin.
Die Antragstellerin ist gemäß Berufsausbildungsvertrag vom 05.03.2002 seit
11.03.2002 in Ausbildung zur Tierarzthelferin. Im Vertrag wurde die reguläre
Ausbildungsdauer von drei Jahren mit dem Endzeitpunkt 10.03.2005 vereinbart.
Die Zeugnisse der Berufsschule ergeben für den beruflichen Lernbereich jeweils
den folgenden Notendurchschnitt: Am 21.06.2002 einen Schnitt von 6, am
19.01.2003 einen solchen von 3,6, am 17.07.2003 von 2,6 und am 28.01.2004 von
2. Die Zwischenprüfung, die von der Antragstellerin am 26.03.2003 abgelegt
wurde, erbrachte die folgenden Leistungen: Gesundheits- und Veterinärwesen
Note 3, Praxishygiene Note 1, Geräte- und Instrumentenkunde Note 5, Anatomie
und Physiologie Note 1, Praxisorganisation Note 1, Kleines Labor Note 5 und als
Gesamtnote 3. Der Antragstellerin wurden Mängel in den Prüfungsgebieten
Geräte- und Instrumentenkunde sowie im Gebiet "Kleines Labor" bescheinigt.
Mit Schreiben vom 11.03.2004 beantragte die Antragstellerin die vorzeitige
Zulassung zur Abschlussprüfung. Unter demselben Datum schlug die ausbildende
Tierärztin die Antragstellerin zur vorgezogenen Abschlussprüfung vor. Mit
Schreiben vom 17.03.2004 teilte die Berufsschule im Rahmen der vorgesehenen
Anhörung der Antragsgegnerin mit, die Antragstellerin habe während der
Ausbildungszeit im beruflichen Lernbereich der Berufsschule einen
Notendurchschnitt von 3,6 erzielt. Der Zusatz "Wir sind der Meinung, dass die
Leistungen der oben genannten Auszubildenden die vorzeitige Zulassung zur
Abschlussprüfung rechtfertigen", ist in dieser Bescheinigung gestrichen.
Durch Bescheide vom 25.03.2004 und vom 01.04.2004 lehnte die Antragsgegnerin
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Durch Bescheide vom 25.03.2004 und vom 01.04.2004 lehnte die Antragsgegnerin
den Antrag der Antragstellerin auf vorzeitige Zulassung zur Prüfung ab. Zur
Begründung wurde ausgeführt, die Leistungen der Antragstellerin lägen nicht über
dem Durchschnitt. Ihre Noten in der Berufsschule wiesen einen Durchschnitt von
3,6 auf. Es könne auch nicht ausschließlich das letzte Zeugnis für die Berechnung
des Notendurchschnitts herangezogen werden. Dies sei in den Ausbildungsberufen
im Gesundheitswesen nicht üblich. Zudem werde in der Berufsschule im Berufsfeld
"Gesundheitsberufe" in Lehrgängen unterrichtet, welche dann im Zeugnis zu einer
Note in einem Fach zusammengefasst würden. Somit habe für die Antragstellerin
die Möglichkeit bestanden, in neu angefangenen Lehrgängen positive Ergebnisse
zu erzielen.
Am 26.04.2004 hat die Antragstellerin um Eilrechtsschutz nachgesucht. Sie ist der
Ansicht, ihrem Antrag auf vorgezogene Zulassung zur Prüfung sei stattzugeben.
Ihr Notendurchschnitt im letzten Zeugnis betrage 2,0 und dies sei maßgebend. Es
könne nicht, wie die Berufsschule und die Antragsgegnerin meinten, eine
Beurteilung aus allen vorangegangenen Berufsschulzeugnissen erstellt werden.
Zudem sei die Beurteilung der Berufsschule deshalb so schlecht ausgefallen, weil
das allererste Zeugnis einen Notendurchschnitt von glatt 6,0 ausweise. Dieser sei
deshalb zustande gekommen, weil sie zu diesem Zeitpunkt gerade erst mit der
Lehre begonnen habe und eine fachliche Schulbeurteilung zu diesem Zeitpunkt
noch gar nicht möglich gewesen sei. Anders als in anderen Kammern des
Gesundheitswesens stelle die Prüfungsordnung der Antragsgegnerin zudem nicht
darauf ab, alle während der Ausbildungszeit erhaltenen Berufsschulzeugnisse der
Entscheidung, ob ein Auszubildender vorzeitig zur Prüfung zuzulassen sei,
zugrunde zu legen.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die
Antragstellerin vorläufig zu der am 05.05.2004 beginnenden Abschlussprüfung für
Tierarzthelferinnen zuzulassen.
Die Antragsgegnerin tritt diesem Antrag entgegen.
Sie ist der Ansicht, die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf vorzeitige
Zulassung zur Abschlussprüfung. So habe sie, die Antragsgegnerin, nie erklärt,
lediglich das letzte Zeugnis sei für die Beurteilung zur Prüfungszulassung
heranzuziehen. Die Mutter der Antragstellerin sei vielmehr darüber informiert
worden, alle Zeugnisse der Berufsschule flössen in die Bewertung ein. Sie, die
Antragsgegnerin, verfahre seit Inkrafttreten der Prüfungsordnung im Jahre 1988
bei einer Entscheidung über die vorzeitige Zulassung zur Abschlussprüfung in
dieser Weise. Damit erhalte man eine gesicherte Grundlage für die Beurteilung des
Leistungsstandes des jeweiligen Antragstellers. Würde lediglich das letzte Zeugnis
herangezogen werden, lägen nur punktuelle, abschnittbezogene Leistungen der
Entscheidung zugrunde. Der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch
lasse sich auch nicht durch Hinweis auf Regelungen anderer Kammern
rechtfertigen. Es sei zwar zutreffend, dass einzelne Kammern auf das letzte
Berufsschulzeugnis abstellten, dies werde allerdings mit weiteren erheblichen
Verschärfungen verknüpft. So sähen die Prüfungsordnungen der
Landestierärztekammer C und der Landestierärztekammer D einen
Notendurchschnitt von 2,0 vor. Es würden dort jedoch weitere Anforderungen
hinsichtlich der Zwischenprüfung und des Notendurchschnitts in den Fächern
"Fachkunde" und "Labor" gestellt. Der Antragstellerin sei zuzugestehen, dass sich
ihre Leistungen im letzten Schulhalbjahr deutlich verbessert hätten. Ob allerdings
die Defizite der vorangegangenen Halbjahre vollständig ausgeglichen seien und
damit ein erfolgreiches Bestehen der vorzeitigen Abschlussprüfung möglich sei,
bleibe offen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte in diesem Verfahren sowie in dem Verfahren 8 G 1354/04 und
den der beigezogenen Behördenakte verwiesen, die sämtlich Gegenstand der
Beratung gewesen sind.
II. Der zulässige Antrag ist auch begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung
eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
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eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung
eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um
wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus
anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt
demgemäß das Bestehen eines Anordnungsgrundes sowie eines
Anordnungsanspruchs voraus.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da die Prüfung,
an der sie teilnehmen möchte, bereits am 05.05.2004 beginnt.
Sie hat auch einen Anordnungsanspruch dargetan. Ein solcher Anspruch ergibt
sich aus der hier einschlägigen Vorschrift des § 40 Abs. 1 BBiG. Hiernach kann der
Auszubildende nach Anhören des Ausbildenden und der Berufsschule vor Ablauf
seiner Ausbildungszeit zur Abschlussprüfung zugelassen werden, wenn seine
Leistungen dies rechtfertigen. Die formellen Voraussetzungen dieser Vorschrift
sind erfüllt, da sowohl die ausbildende Tierärztin als auch die Berufsschule
entsprechend angehört wurden. Gemäß der diese Vorschrift in zulässiger Weise
näher konkretisierenden Norm des § 8 Abs. 1 der Prüfungsordnung für
Abschlussprüfungen im Ausbildungsberuf Tierarzthelfer/in der Antragsgegnerin
(Prüfungsordnung) kann der Auszubildende nach Anhören des ausbildenden
Tierarztes und der Berufsschule vor Ablauf seiner Ausbildungszeit zur
Abschlussprüfung zugelassen werden, wenn seine Leistungen in dem
berufsbezogenen Unterricht der Berufsschule und von dem ausbildenden Tierarzt
mit besser als 2,5 bewertet werden.
Indem die Prüfungsordnung eine Bewertung von besser als 2,5 verlangt, wird
deutlich, dass sie selbst von der Ermittlung eines Notendurchschnitts ausgeht.
Einzelnoten können nämlich nicht zu Notenbruchteilen führen. Die von der
Antragsgegnerin angeführte Begründung, es sei insoweit auf den Durchschnitt
aller Berufsschulzeugnisse der Antragstellerin abzustellen, rechtfertigt die
Ablehnung der vorzeitigen Zulassung nicht. Zwar hätte eine entsprechende
Anforderung hinsichtlich der vorzeitigen Zulassung zur Prüfung ebenso wie etwa
das Abstellen auf ein Zwischenprüfungszeugnis (vgl. Leinemann/Taubert, BBiG,
Komm., 2002, § 40 Rdnr. 8; Sahrhage, DB 1976, 1578) durchaus in der
Prüfungsordnung normiert werden können. Solche Einzelheiten für die Zulassung
zur Prüfung sind entsprechend § 41 BBiG schon deshalb eindeutig in der
Prüfungsordnung zu regeln, um eine am Gleichheitssatz des Grundgesetzes
orientierte Beurteilung der Auszubildenden zu gewährleisten (vgl. VG Gießen, B. v.
22.09.1998 - 8 G 1545/98 -, PflR 2002, 110, 114; Wohlgemuth, BBiG, Komm., 2.
Aufl., 1995, § 40 Rdnr. 7). Da die Prüfungsordnung der Antragsgegnerin solche
Voraussetzungen nicht ausdrücklich regelt, darf die Entscheidung über die
Zulassung auch nicht hiervon abhängig gemacht werden. Eine der
Prüfungsordnung zuwiderlaufende Verwaltungspraxis kann ebenfalls nicht zu einer
Einschränkung des Anspruchs der Antragstellerin auf vorzeitige Zulassung zur
Prüfung führen. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen es an detaillierten
Regelungen in der Prüfungsordnung fehlt, wann überdurchschnittliche Leistungen
vorliegen, ist auf das letzte Zeugnis der Berufsschule abzustellen (vgl. Herkert,
BBiG, Komm., Stand: 01.07.1994, § 40 Rdnr. 7 a). Zwar muss im Rahmen der
Entscheidung über eine vorgezogene Zulassung zur Prüfung berücksichtigt
werden, dass dem Auszubildenden nicht wesentliche Teile seiner Ausbildung fehlen
(vgl. VG Köln, B. v. 13.04.1993 - 10 L 572/93 -, S. 3 BA; Leinemann/Taubert, a.a.O.,
Rdnr. 11). Davon abgesehen bietet das letzte Zeugnis der Berufsschule jedoch
einen Überblick über den aktuellen Leistungsstand des Auszubildenden. Denn
dieses Zeugnis bildet die Entwicklung des Leistungsbildes des zu Prüfenden
hinreichend ab. Es wird hierdurch dem Umstand Rechnung getragen, dass die
Regelung des § 40 Abs. 1 BBiG die Fälle erfassen will, in denen sich die Gründe für
eine Abkürzung der Ausbildungszeit erst während der Ausbildung ergeben haben
(vgl. Wohlgemuth, a.a.O., Rdnr. 2). Fehlen also Vorgaben in einer Prüfungsordnung,
kommt es somit auf die Leistungen des Auszubildenden zum Zeitpunkt der
Entscheidung über seinen Antrag auf vorzeitige Zulassung zur Prüfung an (vgl.
auch Leinemann/Taubert, a.a.O., Rdnr. 6). Da die Antragstellerin in ihrem letzten
Zeugnis im berufsbezogenen Unterricht der Berufsschule im Schnitt mit 2,0
bewertet wurde, sind somit sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 8 Abs. 1 der
Prüfungsordnung erfüllt.
Zwar besteht nach dieser Vorschrift ebenso wie nach § 40 Abs. 1 BBiG
grundsätzlich lediglich ein Anspruch auf eine ermessenfehlerfreie Entscheidung
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grundsätzlich lediglich ein Anspruch auf eine ermessenfehlerfreie Entscheidung
(vgl. VG Regensburg, B. v. 19.04.1996 - 5 E 96.740 -, S. 5 BA). Auf Grund der
Leistungen der Antragstellerin, wie sie durch das letzte Zeugnis der Berufsschule
dokumentiert sind, war die Antragstellerin jedoch im Wege einer einstweiligen
Anordnung vorläufig zur Prüfung zuzulassen. Eine Versagung der Zulassung würde
für die Antragstellerin zu unzumutbaren Nachteilen führen. Demgegenüber ist ein
besonderes Interesse der Antragsgegnerin an der Nichtzulassung der
Antragstellerin nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, da die Antragsgegnerin
unterlegen ist.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 13 Abs. 1 S. 2, 20 Abs. 3 GKG. Das Gericht
berücksichtigt hierbei auch den Aspekt, dass eine Vorwegnahme der Hauptsache
begehrt wird.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.