Urteil des VG Gießen vom 25.04.2000

VG Gießen: sinn und zweck der norm, echte rückwirkung, asylbewerber, sozialhilfe, deckung, verfügung, existenzminimum, eingriff, zukunft, vergleich

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Gericht:
VG Gießen 4.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 E 163/98
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 2 AsylbLG, § 3 AsylbLG, Art 3
Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG
("Erhöhte" Leistungen nach AsylbLG § 2 -
Verfassungsmäßigkeit der sich ausnahmslos auf alle
Asylbewerber erstreckenden Drei-Jahres-Frist)
Tatbestand
Die Kläger leben als Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland. Mit
Schreiben vom 15.07.1997 teilte ihnen die Behörde des Beklagten mit, dass sie ab
01.07.1997 Leistungen nur noch nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)
erhalten würden. Hiergegen legte der Bevollmächtigte der Kläger im Juli
Widerspruch ein, den er damit begründete, dass die Anwendung des AsylbLG in
der neuen Fassung sich als rückwirkende Verschlechterung für seine Mandanten
darstelle und dies aus verfassungsrechtlichen Gründen unzulässig sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.1998 wies der Kreisausschuss des
Wetteraukreises den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde
auf den nach Ansicht der Widerspruchsbehörde eindeutigen Wortlaut der §§ 3 bis 7
AsylbLG Bezug genommen.
Am 03.02.1998 haben die Kläger Klage erhoben.
Sie sind weiterhin der Auffassung, dass an der Regelung des § 2 AsylbLG für solche
Betroffene, wie sie selbst, die bereits Leistungen nach dem BSHG erhalten haben,
erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestünden. Es hätte eine
Bestandsschutzregelung für Betroffene vorgesehen werden müssen, die bei
Inkrafttreten der Novelle bereits Leistungen nach § 2 AsylbLG in der alten Fassung
oder nach BSHG bezogen haben. Die Neufassung des § 2 AsylbLG verstoße gegen
das rechtsstaatliche Gebot der Systemstimmigkeit und gegen das Verbot der
unechten Rückwirkung. Richtigerweise dürfe die Drei-Jahres-Regelung nur für solche
Asylbewerber gelten, die ab 01.06.1997 in das Bundesgebiet einreisen. Alles
andere führe zu einer Ungleichbehandlung gegenüber solchen Asylbewerbern, wie
den Klägern, die schon vor dem 01.06.1997 Leistungen nach BSHG oder AsylbLG
erhalten hätten.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Bescheid vom 15.07.1997 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 19.01.1998
aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Klägern ungekürzte
Leistungen nach dem BSHG in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte beruft sich auf den seiner Ansicht nach eindeutigen Wortlaut der §§
3ff. AsylbLG.
Die Beteiligten haben sich einverstanden erklärt mit einer Entscheidung im
schriftlichen Verfahren. Mit Beschluss vom 27.03.2000 ist das Verfahren nach
Anhörung der Beteiligten auf den Einzelrichter übertragen worden. Die Kläger
haben am 28.03.2000 die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.
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Zur ergänzenden Darstellung des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakte und eines Hefters Behördenunterlagen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig.
Die Kläger fechten laut Klageantrag einen Bescheid vom 08.07.1997 an. Gemeint
ist wohl der Bescheid vom 15.07.1997, ein anderer findet sich nicht in den
Behördenakten.
Die Klage ist unbegründet.
Die Kläger haben keinen Rechtsanspruch auf "erhöhte" Leistungen nach dem
BSHG. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten erweisen sich im Ergebnis als
rechtmäßig; vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Nach der einschlägigen Rechtsgrundlage der §§ 1, 3 AsylbLG erhalten Ausländer,
die sich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Aufenthaltsgestattung nach dem
AsylVfG besitzen, Sachleistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs an
Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und
Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushaltes. Zusätzlich erhalten
Leistungsberechtigte wie die Kläger je 80,-- DM monatlich als Geldbetrag zur
Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens. Dass die Kläger unter den
genannten Personenkreis fallen ist ebenso unstreitig wie die Höhe der gewährten
Sachleistungen und des Geldbetrages.
Die Kläger berufen sich darauf, dass sie gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG einen Anspruch
auf höhere Leistungen unter Anwendung des BSHG haben würden. § 2 AsylbLG
regelt, dass abweichend von den §§ 3 bis 7 das BSHG auf Leistungsberechtigte
entsprechend anzuwenden ist, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten,
frühestens beginnend am 01.06.1997, Leistungen nach § 3 erhalten haben. Es
folgen nach der genannten Vorschrift weitere Voraussetzungen, die zugunsten der
Kläger als gegeben angenommen werden können.
Gleichwohl haben die Kläger keinen Rechtsanspruch auf erhöhte Leistungen nach
dem BSHG.
Dagegen spricht der eindeutige und klare Wortlaut des § 2 Abs. 1 AsylbLG i.d.F. der
Neubekanntmachung vom 05.08.1997 (BGBl. I S. 2022). Denn der Wortlaut regelt
eindeutig, dass frühestens nach einer Dauer von insgesamt 36 Monaten,
beginnend am 01.06.1997, das BSHG entsprechend Anwendung finden kann.
Diese Drei-Jahres-Frist ab 01.06.1997 ist nicht verstrichen.
Der geltend gemachte Anspruch der Kläger kann nur dann bestehen, wenn § 2
AsylbLG eine andere, für die Kläger günstigere Auslegung erfahren könnte. Dies ist
nach Auffassung des erkennenden Gerichts jedoch nicht möglich. Einerseits wäre
jede andere Auslegung eine Auslegung "contra legem"; eine unzulässige
Auslegung gegen den eindeutigen Wortlaut.
Davon abgesehen wird andererseits nicht erkennbar, dass es dem Willen des
Gesetzgebers oder Sinn und Zweck der Norm entsprechen würde, einer
Personengruppe, wie den Klägern, vorzeitig einen Anspruch nach dem BSHG oder
zumindest teilweise einen Anspruch zu gewähren. Aus dem
Gesetzgebungsverfahren lässt sich vielmehr ableiten, dass bewusst eine Drei-
Jahres-Frist, und zwar beginnend ab 01.06.1997 - ohne Ausnahme für schon in der
Bundesrepublik lebende Asylbewerber - Anwendung finden sollte (vgl. BT-
Drucksache 13/2746 S. 12).
Es ist auch keine verfassungskonforme andere Auslegung des § 2 Abs. 1 AsylbLG
geboten und ebenso wenig bestehen durchgreifende Bedenken an der
Verfassungsgemäßheit der genannten Norm.
Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsgebot wegen möglicher Unbestimmtheit oder
Unklarheit der gesetzlichen Regelung ist nicht ersichtlich. Der Wortlaut des § 2
AsylbLG ist eindeutig. Die Drei-Jahres-Frist beginnt am 01.06.1997 für alle
Asylbewerber (und die in § 1 AsylbLG genannten Personen) unabhängig davon, ob
sie erst ab dem 01.06.1997 in das Bundesgebiet einreisen oder bereits hier leben.
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Ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht gegeben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z. B: BVerfGE 26, 302)
beruht die Anwendung der Grundrechtsnorm Art. 3 Abs. 1 GG stets auf einem
Vergleich von Lebensverhältnissen, die nie in allen, sondern stets nur in einzelnen
Elementen gleich sind. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit endet dort, wo
die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr
mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar
ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Gleichbehandlung oder
Ungleichbehandlung fehlt. Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der
gesetzgeberischen Freiheit (Willkürverbot) ist vom Bundesverfassungsgericht
nachzuprüfen, nicht aber, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils
zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat.
Gemessen an diesen Grundsätzen entspricht § 2 Abs. 1 AsylbLG dem
Gleichbehandlungsgebot.
So werden unterschiedslos alle Personen des § 1 AsylbLG - egal, ob sie sich bereits
im Bundesgebiet aufhalten oder erst einreisen - in der Weise gleichbehandelt, dass
sie frühestens beginnend ab 01.06.1997 für einen Zeitraum von drei Jahren
Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben müssen, ehe das BSHG Anwendung
finden kann. Eine willkürliche Ungleichbehandlung wird insoweit nicht ersichtlich
(vgl. auch Sächsisches OVG, Beschluss vom 18.08.1997, DÖV 1998, 123).
In der Neuregelung des § 2 AsylbLG kann auch kein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1
GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (Grundsatz des Vertrauensschutzes) gesehen werden.
Die getroffene Regelung bewirkt keine echte Rückwirkung. Es erfolgt kein Eingriff in
bereits in der Vergangenheit abgeschlossene Sachverhalte. Es besteht auch kein
Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung, hier des §
2 AsylbLG a.F.. Es mag sein, dass eine gesetzgeberische Abwägung zwischen dem
Ausmaß des individuellen Vertrauensschadens einerseits und der Bedeutung des
gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit andererseits
erforderlich ist (BVerfG, Beschluss vom 26.06.1979, BVerfGE 51, 356). Im Falle der
künftigen Leistungsreduzierung bei Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG führt
bereits die Tatsache, dass es sich um Personen ohne dauerhaftes Bleiberecht
handelt, dazu, dass ihre Erwartung, in Zukunft eine ungekürzte Sozialhilfe
beziehen zu können, nicht schutzwürdig ist. Dies gilt unabhängig davon, wie lange
dieser Aufenthalt tatsächlich bereits andauert. Der ungesicherte Aufenthaltsstatus
derartiger Leistungsberechtigter bewirkt ohnehin, dass in die Zukunft gerichtete
Investitionen mit Hilfe der staatlichen Unterstützung nicht gewollt sind, sondern
lediglich die notwendigen gegenwärtigen Bedürfnisse sichergestellt werden sollen
(vgl. Sächsisches OVG, a.a.O.; VG Schwerin, Beschluss vom 26.09.1997, 6 B
765/92).
Ein Eingriff in das verfassungsrechtlich gewährleistete soziokulturelle
Existenzminimum wird nicht erkennbar (so aber GK-AsylbLG, Rn. 37 ff. zu § 2;
Hohm, Novellierung des AsylbLG, NVwZ 1997, 659).
Der Gesetzgeber hat einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Frage, wie er den
verfassungsrechtlich gebotenen Schutz zur Gewährleistung des
Existenzminimums zu realisieren sucht. Soweit es um die Verwirklichung der
Mindestvoraussetzungen geht, hat der Gesetzgeber im Rahmen seiner
Gestaltungsfreiheit zu entscheiden, in welchem Umfang soziale Hilfe unter
Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger
Staatsaufgaben gewährt werden kann und soll (so BVerfG, Beschluss vom
18.06.1975, BVerfGE 40, 121).
Gemessen an diesen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erscheint das
soziokulturelle Existenzminimum für die in § 1 AsylbLG genannte Personengruppe
gewährleistet zu sein. Eine sachliche Rechtfertigung für die "eingeschränkten"
Leistungen nach § 3 AsylbLG ist vorhanden. Im Hinblick auf die erhebliche Anzahl
der Zuwanderer in den 90iger Jahren hatte der Gesetzgeber abzuwägen mit
gleichrangigen Staatsaufgaben unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung
stehenden Haushaltsmittel. Nach Auffassung des Gerichts erfüllen die nach § 3
AsylbLG gewährten Leistungen im Hinblick darauf, dass die Einschränkung zeitlich
befristet ist, die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen, (so
auch BVerwG, Beschluss vom 29.09.1998, FEVS 49, 97). Denn der
Personengruppe des § 1 AsylbLG wird unzweifelhaft nach § 3 der notwendige
Bedarf an den Dingen des täglichen Lebens zur Verfügung gestellt, und zwar in
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Bedarf an den Dingen des täglichen Lebens zur Verfügung gestellt, und zwar in
Form der Sachleistung. Dagegen dürfte nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts nichts durchgreifend einzuwenden zu sein. Hinzu
kommt, dass zusätzlich ein Geldbetrag in Höhe von 80,-- DM monatlich
erwachsenen Personen zur Deckung weiterer persönlicher Bedürfnisse des
täglichen Lebens zur Verfügung steht. Die Dauer der Leistungseinschränkung von
drei Jahren, wobei im Einzelfall Personen wie die Kläger, die schon vor dem
01.06.1997 eingeschränkte Leistungen erhalten haben, noch länger von erhöhten
Leistungen nach dem BSHG ausgeschlossen sind, erscheint akzeptabel, da die
betroffene Personengruppe ohnehin kein dauerhaftes Bleiberecht besitzt und bei
ihr ein sozialer Integrationsbedarf fehlt (so Sächsisches OVG und BVerwG a.a.O.).
Aus den vorstehenden Ausführungen erschließt sich, dass folglich auch keine
Übergangs- bzw. Bestandsschutzregelung erforderlich gewesen ist (so auch
Deibel, Das neue Asylbewerberleistungsrecht, ZAR 1998, 32).
Insgesamt teilt das erkennende Gericht deshalb die Bedenken von Hohm und des
GK-AsylbLG (a.a.O.) an der Verfassungsgemäßheit des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht
und die Klage der Kläger hat keinen Erfolg haben können.
Als unterliegende Beteiligte haben die Kläger gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die
Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 188 VwGO in
den Sachgebieten der Sozialhilfe nicht erhoben. Streitigkeiten nach dem AsylbLG
gehören im weiteren Sinne zum Sachgebiet der Sozialhilfe. Der Antrag, die
Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Verfahren für notwendig zu erklären,
war mangels Rechtsschutzinteresses abzulehnen, nachdem den Klägern die
Kostentragungspflicht auferlegt worden ist und somit kein
Kostenerstattungsanspruch besteht.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der
außergerichtlichen Kosten folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711
Satz 1 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.