Urteil des VG Gelsenkirchen vom 15.08.2005

VG Gelsenkirchen: verschlechterung des gesundheitszustandes, bundesamt für migration, neues beweismittel, politische verfolgung, gefahr, anerkennung, einreise, behandlung, psychotherapie, diagnose

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 9a K 5719/03.A
Datum:
15.08.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
9a. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9a K 5719/03.A
Schlagworte:
Asyl, Türkei, posttraumatische Belastungsstörung, PTB S
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S 1
Leitsätze:
Zu den - hier bejahten - Anforderungen an das Vorliegen eines
zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses aufgrund einer
posttraumatischen Belastungsstörung.
Tenor:
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren
eingestellt.
Im übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 3. des
Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 24. Oktober 2003 verpflichtet, festzustellen, dass in der
Person des Klägers ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1
Aufenthaltsgesetz hinsichtlich der Türkei vorliegt.
Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zwei Drittel, die
Beklagte trägt ein Drittel.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages
abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 20. T. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben im August 1998 auf dem Landweg
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in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 1. T. 1998 beantragte er erstmals seine Anerkennung als Asylberechtigter. In seiner
Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) führte er zur Begründung im
Wesentlichen aus, 1988/89 sei es in einem von ihm geführten Open-Air-Kino zu einer
Razzia gekommen. Im März 1995 sei er unter dem Vorwurf festgenommen worden, eine
Newroz-Feier organisiert zu haben. Während seiner einmonatigen Haftzeit sei er
gefoltert worden. Bei seiner Freilassung hätten die Sicherheitskräfte von ihm verlangt,
mit ihnen zusammenzuarbeiten. Daraufhin sei er nach G. gegangen, wo er sich bis zu
seiner Ausreise versteckt gehalten habe. Mit Bescheid vom 15. Oktober 1998 lehnte das
Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden
Fassung (AuslG) sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen.
Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung in die Türkei angedroht. Zur Begründung
führte das Bundesamt aus, die von dem Kläger geschilderten Verfolgungsmaßnahmen
seien nicht kausal für das Verlassen seines Heimatlandes gewesen. Die hiergegen bei
dem Verwaltungsgericht Düsseldorf erhobene Klage - 20 K 9408/98.A - nahm der
Kläger am 22. Juni 2001 zurück. Das Verfahren wurde mit Beschluss vom selben Tag
eingestellt.
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Am 5. Oktober 2001 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag. Zur Begründung trug er
unter Vorlage eines Attestes von Dr. F. A. vom 19. T. 2001 und eines ebenfalls von Dr.
F. A. erstellten psychiatrischen Gutachtens vom 19. Juli 2002 vor, er leide unter einer
posttraumatischen Belastungsstörung. Diese Erkrankung sei auf in türkischer Haft
erlittene, schwere physische und psychische Übergriffe zurückzuführen.
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Mit am 28. Oktober 2003 zur Post gegebenem Bescheid vom 24. Oktober 2003 lehnte
das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG nicht vorliegen. Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung in die Türkei
angedroht. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Kläger
habe nicht dargelegt, dass ihm nunmehr im Falle einer Rückkehr in die Türkei politische
Verfolgung drohe. Er habe nicht nachgewiesen, dass seine psychische Erkrankung auf
staatliche Misshandlungen zurückzuführen sei. Zudem sei die Erkrankung in der Türkei
grundsätzlich behandelbar, zumal der Kläger dort nicht gänzlich auf sich allein gestellt
sei. Er könne Unterstützung durch mehrere im Heimatland lebende Verwandte erwarten.
Die Bezahlung der erforderlichen Medikamente könne auch durch Mithilfe von in
Deutschland lebenden Verwandten sichergestellt werden. Eine extreme
Wahrscheinlichkeit suizidaler Verhaltensweisen des Klägers im Falle einer Rückkehr in
die Türkei sei nicht zu befürchten.
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Mit seiner am 12. November 2003 erhobenen Klage hat der Kläger zunächst sein
Begehren auf Anerkennung als Asylberechtigter weiterverfolgt. Am 9. August 2005 hat
er die Klage insoweit zurückgenommen, als sie auf seine Anerkennung als
Asylberechtigter und die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des
Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) gerichtet war. Zur Begründung der aufrechterhaltenen
weitergehenden Klage trägt er - insbesondere unter Bezugnahme auf ein Gutachten des
Gesundheitsamts der Stadt Essen vom 8. Dezember 2003 - weiter zu seiner
psychischen Erkrankungen und den Folgen einer Rückkehr in die Türkei vor.
6
Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 24. Oktober 2003 zu verpflichten,
festzustellen, dass in seiner Person ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7
AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegt.
8
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
10
Zur Begründung trägt sie vor, auch unter Berücksichtigung des ergänzenden
Vorbringens des Klägers im gerichtlichen Verfahren seien die Voraussetzungen für die
Feststellung eines Abschiebungshindernisses nicht gegeben.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten in dem
vorliegenden Verfahren und in dem Verfahren Verwaltungsgericht Düsseldorf - 20 K
9408/98.A - sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92
Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
14
Die Kammer kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung
entscheiden, weil die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung
verzichtet haben.
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Die aufrechterhaltene Klage ist begründet. Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes
vom 24. Oktober 2003 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113
Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt dieser gerichtlichen
Entscheidung einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Feststellung,
dass in seiner Person ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG
vorliegt.
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Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
(VwVfG) für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens sind gegeben. Insbesondere liegt
aufgrund der Atteste über die bei dem Kläger bestehende posttraumatische
Belastungsstörung ein Wiederaufgreifensgrund i.S.d. § 51 Abs. 1 VwVfG vor. Dabei
kann dahinstehen, ob die Diagnose dieser Erkrankung eine nachträgliche Änderung der
Sach- und Rechtslage zugunsten des Klägers (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) darstellt, oder
ob die vorgelegten Atteste als neues Beweismittel i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG zu
qualifizieren sind. Die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG wurde gewahrt, da der
Kläger den Asylfolgeantrag bereits etwa zwei Wochen nach Ausstellung des ersten
Attestes durch Dr. F. A. am 19. T. 2001 gestellt hat.
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Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass in seiner Person die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen. Nach dieser Vorschrift soll
von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden,
wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
besteht.
18
Das der zuständigen Behörde durch § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG eingeräumte Ermessen
ist insbesondere dann dahingehend auf Null reduziert, dass Abschiebeschutz zu
gewähren ist, wenn die ausreichende Therapie einer ernsthaften Erkrankung im
Heimatland nicht sichergestellt ist und der Ausländer deswegen einer erheblichen
Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre.
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Vgl. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG Lüneburg), Urteil vom 28. Januar
1999 - 11 L 4582/98 -; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 5. Aufl. 2003, § 71
Rdnr. 88.
20
In einem solchen Falle ist das Gericht zum „Durchentscheiden" verpflichtet, d.h. es muss
selbst über den begehrten Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG
entscheiden.
21
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss
vom 26. Februar 2002 - 8 A 2664/00.A -, AuAS 2002,142.
22
Nach diesen Maßstäben war die Beklagte unmittelbar zu der begehrten Feststellung
von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu verpflichten. Dem
Kläger droht aufgrund seiner Erkrankung bei einer Rückkehr in die Türkei eine
erhebliche Gefahr für Leib oder Leben im Sinne dieser Vorschrift. Der Tatbestand dieser
Norm kann u.a. dann erfüllt sein, wenn aus gesundheitlichen Gründen eine Verletzung
der in § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG genannten Rechtsgüter droht. Eine -
zielstaatsbezogene - Gefahr in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn sich der
Gesundheitszustand des Ausländers angesichts der im Heimatland nur unzureichend
bestehenden Behandlungsmöglichkeiten alsbald nach Rückkehr wesentlich oder gar
lebensbedrohlich verschlechtern würde.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383; Urteil
vom 21. T. 1999 - 9 C 8.99 - AuAS 2000,14.
24
Das ist hier der Fall. Unter Zugrundelegung der vorliegenden ärztlichen und
psychologischen Bescheinigungen und Gutachten (Attest von Dr. F. A. vom 19. T. 2001,
Gutachten von Dr. F. A. vom 19. Juli 2002, Gutachten des Gesundheitsamtes der Stadt
F. vom 8. Dezember 2003 und Attest von Dr. F. J. Meier vom 5. August 2005) steht zur
Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger an einer posttraumatischen
Belastungsstörung leidet, die nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland
ambulant behandelt wurde und auch zukünftiger Behandlung bedarf.
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Es steht zunächst zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger in seinem
Heimatland traumatisierenden Erlebnissen in Form von staatlichen Übergriffen
insbesondere bei einer einmonatigen Inhaftierung im Frühjahr 1995 ausgesetzt war. Der
Kläger hat seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Behörden
und Ärzten gleichbleibend und weitgehend widerspruchsfrei geschildert, dass er Ende
März 1995 von türkischen Sicherheitskräften festgenommen wurde, weil diese ihn
verdächtigten, eine Newroz-Feier organisiert zu haben. Während der Haftzeit wurde er
misshandelt. Nach seiner Freilassung hielt er sich bis zur Ausreise in der Türkei
versteckt.
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Diese Angaben des Klägers sind glaubhaft. Seine Schilderungen sind detailliert und in
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sich stimmig. Der Kläger war - insbesondere gegenüber Dr. F. A. - in der Lage, seine
Gefühle und Eindrücke während der einmonatigen Haftzeit eindringlich zu schildern.
Durch diese Emotionalität und ihren Detailreichtum heben sich die Berichte des Klägers
über die erlittenen staatlichen Verfolgungsmaßnahmen deutlich von denen der meisten
türkischen Asylbewerber ab. Für die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers spricht
zudem, dass dieser in keinem Verfahrensstadium versucht hat, seine Bedeutung in der
kurdischen Bewegung herauszuheben und offen eingeräumt hat, nach seiner
Freilassung über mehrere Jahre - wenn auch versteckt - unbehelligt in der Türkei gelebt
zu haben. Die Angaben des Klägers zu den von ihm erlittenen Verfolgungsmaßnahmen
und dazu, dass er sich nach seiner Festnahme heimlich, auch ohne Wissen seiner
Familie, in G. aufgehalten habe, werden zudem durch die Angaben seiner Ehefrau, F1.
V. , seiner Töchter I. und F2. V. sowie seiner Söhne Z. und W. V. in deren Asylverfahren
bestätigt. Diese haben - teilweise mehrere Jahre vor der Einreise des Klägers in die
Bundesrepublik Deutschland - übereinstimmend von der Festnahme des Klägers kurz
nach Newroz 1995 berichtet und angegeben, in den folgenden Jahren nichts mehr von
dem Kläger gehört zu haben.
Der Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers steht nicht entgegen, dass dieser
gegenüber Dr. F. A. angegeben hat, seine Festnahme sei kurz nach Newroz 1996
erfolgt. Da es sich um eine einmalige abweichende Angabe handelt und der Kläger
seine Erlebnisse im Übrigen gleichbleibend, detailliert und widerspruchsfrei geschildert
hat, steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass diese um ein Jahr abweichende
Zeitangabe nicht darauf zurückzuführen ist, dass die Berichte des Klägers nicht der
Wahrheit entsprechen. Vielmehr ist der Kammer aus einer Vielzahl weiterer
Asylverfahren bekannt, dass es Analphabeten häufig schwer fällt, zeitliche Abläufe
genau einzuordnen. So war auch die Ehefrau des Klägers, die wie dieser nie lesen und
schreiben gelernt hat, bei der Anhörung in ihrem Asylverfahren nicht in der Lage,
genaue zeitliche Angaben zu wesentlichen Daten ihrer Lebensgeschichte zu machen.
Neben auf seinen Bildungsstand zurückzuführenden Erinnerungsschwierigkeiten des
Klägers kommt eine Vielzahl weiterer Ursachen für die einmalige Abweichung in den
zeitlichen Angaben in Betracht. So kann es sich um einen im weiteren Verlauf der
Gespräche mit Dr. F. A. nicht aufgeklärten Versprecher des Klägers handeln. In Betracht
kommen zudem Ursachen, die in Sphäre des Dr. F. A. liegen, wie z.B. ein Diktatfehler.
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Die oben genannten ärztlichen und psychologischen Bescheinigungen und Gutachten
kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Kläger aufgrund in der Türkei
erlittener Misshandlungen durch Sicherheitskräfte an einer posttraumatischen
Belastungsstörung leidet. Die Kammer hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser
Diagnose zu zweifeln, zumal das Gutachten des Gesundheitsamtes der Stadt F. vom 8.
Dezember 2003 auf Veranlassung des Bundesamtes erstellt wurde und die Beklagte in
dem vorliegenden Verfahren keine Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose geäußert
hat. Auch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die psychische Situation des
Klägers seit der Erstellung des letzten Gutachtens durch einen Facharzt für Psychiatrie
und Psychotherapie vom 8. Dezember 2003 durchgreifend geändert haben könnte. Dr.
F. J. Meier hat mit Schreiben vom 5. August 2005 mitgeteilt, die Diagnose des
Gesundheitsamtes sei weiterhin zutreffend. Auch wenn Dr. F. J. Meier soweit ersichtlich
keine Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie besitzt, ist
davon auszugehen, dass er aufgrund seiner allgemeinmedizinischen Kenntnisse in der
Lage ist, festzustellen, ob sich eine psychische Erkrankung eines seiner Patienten
wesentlich verändert hat.
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Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass die notwendige weitere Behandlung des
Klägers in der Türkei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich
durchgeführt werden kann. Dabei kann dahinstehen, ob in der Türkei in ausreichender
Zahl leistungsfähige medizinische Einrichtungen vorhanden sind, die zur Behandlung
psychischer Erkrankungen in der Lage sind. Selbst wenn man unterstellt, dass solche
Einrichtungen existieren und eine Behandlung des Klägers in diesen nicht aus
finanziellen Gründen ausscheidet, ist nicht zu erwarten, dass er dort erfolgreich
therapiert werden kann. Denn eine in der Türkei durchgeführte Psychotherapie hätte
wenig Aussicht auf Erfolg, weil das Trauma eng mit dem Heimatland des Klägers
verknüpft ist. Die psychische Situation des Klägers ist wie oben dargelegt auf in der
Türkei erlittene massive Folterungen und schwerste Demütigungen zurückzuführen. Vor
diesem Hintergrund drängt sich auf, dass eine Therapie seiner posttraumatischen
Belastungsstörung in seinem Heimatland selbst bei unterstellter optimaler medizinischer
Betreuung nur wenig Aussicht auf Erfolg hätte. Denn es ist zu erwarten, dass der bloße
Kontakt mit türkischen Sicherheitskräften bei dem Kläger die Erinnerung an die
erlittenen Maßnahmen wachruft und psychische Reaktionen auslöst, die den
Therapieerfolg gefährden und zu einer Retraumatisierung führen können (vgl. insoweit
das Gutachten von Dr. F. A. vom 19. Juli 2002). Welche gravierenden Konsequenzen für
den psychischen Zustand des Klägers ein Zusammentreffen mit türkischen
Sicherheitskräften hätte, wird daran deutlich, dass ausweislich des Gutachtens von Dr.
F. A. vom 19. Juli 2002 schon der Anblick deutscher Polizisten, mit denen der Kläger
bislang keine negativen Erfahrungen gemacht hat, bei diesem innere Unruhe und Angst
verursacht. Ein Kontakt mit türkischen Sicherheitskräften wäre im Falle einer Rückkehr
des Klägers in sein Heimatland jedoch nicht zu vermeiden. Bereits bei der Einreise
würde er zwangsläufig von türkischen Grenzbeamten kontrolliert und auch später
müsste der Kläger jederzeit etwa mit einer Kontrolle durch Streife gehende Polizisten
rechnen.
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Die fehlende Möglichkeit, die posttraumatische Belastungsstörung des Klägers in der
Türkei zu behandeln, bedeutet für diesen eine erhebliche und konkrete Gefahr im Sinne
des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Erheblich ist eine drohende Gesundheitsgefahr, wenn
eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das ist u.a.
der Fall bei einer wesentlichen oder sogar lebensbedrohlichen Verschlechterung des
Gesundheitszustandes. Konkret ist eine solche Gefahr, wenn die Verschlechterung
alsbald nach der Rückkehr des Klägers in sein Heimatland einträte.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58/96 -, InfAuslR 1998, 189 ff.,
BVerwG, Urteil vom 29. Juli 1999 - 9 C 2/99 -.
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Dies ist hier der Fall. Der Kläger wäre bereits bei der Einreise in die Türkei mit
türkischen Sicherheitskräften konfrontiert, was nach dem oben Ausgeführten zu einer
Retraumatisierung führen kann. Dies könnte nicht nur den bisherigen Erfolg der
Psychotherapie zunichte machen, sondern nach übereinstimmender Auffassung von Dr.
F. A. (Gutachten vom 19. Juli 2002) und des Gesundheitsamtes der Stadt F. (Gutachten
vom 8. Dezember 2003) auch dazu führen, dass der Kläger einen Selbstmordversuch
begeht.
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Der Annahme eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG steht
nicht entgegen, dass Unterbrechungen der Behandlung der psychischen Erkrankung
des Klägers, wie sie dieser etwa in seiner informatorischen Anhörung durch das
Bundesamt am 24. Juli 2003 eingeräumt hat, nicht zu schwerwiegenden
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gesundheitlichen Folgen und insbesondere nicht zu einer Suizidalität geführt haben.
Denn der Kläger stünde im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland dort aufgrund der
Konfrontation mit den türkischen Sicherheitskräften unter ungleich größerem
psychischen Druck als während seines Aufenthaltes in Deutschland.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708
Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
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