Urteil des VG Gelsenkirchen vom 10.01.2011

VG Gelsenkirchen (grundsatz der erforderlichkeit, verhältnis zu, öffentliche bekanntmachung, vorläufige einstellung, zwangsversteigerung, antragsteller, zustellung, zeitpunkt, vollstreckung, anschrift)

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 5 L 1304/10
Datum:
10.01.2011
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 L 1304/10
Schlagworte:
öffentliche Zustellung, Vollstreckung, Zwangsversteigerung,
Verhältnismäßigkeit, geringfügige Steuer, Gutachterkosten
Tenor:
1. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
aufgegeben, die Zwangsversteigerung in das Grundstück des
Antragstellers T. . 31, WE Nr. 21, G1 wegen rückständiger Grundsteuern
aus der Zeit vom 1. Oktober 2007 bis 30. Juni 2009 in Höhe von 287,47
EUR vorläufig einzustellen. Die Kosten des Verfahrens trägt die
Antragsgegnerin.
2. Der Streitwert wird auf 681,63 EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der sinngemäß gestellte, aus dem Entscheidungstenor ersichtliche Antrag ist zulässig
und begründet.
2
Der Antragsteller hat gemäß § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - in
Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO - glaubhaft gemacht,
dass ihm der geltend gemachte Anspruch zusteht.
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Die Antragsgegnerin betreibt zu Unrecht die Zwangsversteigerung in das Grundstück
des Antragstellers.
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Die Kammer hat bereits Zweifel, ob die öffentliche Zustellung der Grundsteuerbescheide
für die Jahre 2008 und 2009, mit der die Antragsgegnerin für die beiden Jahre jeweils
Grundsteuern in Höhe von 164,27 EUR festgesetzt hat, rechtmäßig erfolgt ist und die
Bescheide damit wirksam geworden sind. Die Zweifel ergeben sich daraus, dass in
beiden Fällen die öffentliche Zustellung aufgrund der Regelungen in "§ 1 LZG i.V.m. §
15 VerwZG" erfolgt ist. Damit hat sich die Antragsgegnerin auf Vorschriften bezogen, die
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Kraft waren. Im Jahre 2009 war für das
Zustellungsverfahren des Landes und der Gemeinden das seit dem 1. Februar 2006
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gültige Landeszustellungsgesetz - LZG - vom 7. März 2006 (GV NRW S. 94)
maßgeblich, das in § 10 eine eigene Regelung für die öffentliche Zustellung hat. Diese
Regelung enthält in Abs. 2 Satz 4 weitergehende Anforderungen an den Inhalt der
Benachrichtigung über die öffentliche Bekanntmachung, als sie in dem bis dahin
geltenden § 15 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (des Bundes) - VwZG -
vorgesehen waren. Ob der Wortlaut der öffentlichen Bekanntmachungen inhaltlich den
Anforderungen des § 10 Abs. 2 Satz 4 LZG entspricht, mag hier dahinstehen. Denn das
Betreiben der Zwangsversteigerung ist - jedenfalls gegenwärtig - unverhältnismäßig und
ermessensfehlerhaft. Welche der zulässigen Vollstreckungsmaßnahmen im Einzelfall
zu treffen sind, entscheidet die Vollstreckungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen.
Sie hat hierbei die allgemeinen Grundsätze über die Ausübung des Ermessens,
insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Nach dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit haben Maßnahmen zu unterbleiben, deren
Wirkungen über das öffentliche Interesse an der Vollstreckung erheblich hinausgehen.
Dieser Grundsatz gilt im gesamten Vollstreckungsverfahren. Jeder
Vollstreckungseingriff muss geeignet und erforderlich sein, um seinen Zweck zu
erreichen. Ebenso wenig darf er den Betroffenen übermäßig belasten. Er muss diesem
zumutbar sein.
Vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Kommentar, Stand: Oktober 2010, § 249, Rdnr. 13 f.
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Vorliegend geht die Kammer schon davon aus, dass bereits die Einleitung eines
Zwangsversteigerungsverfahrens wegen rückständiger Grundsteuern von 287,47 EUR
gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstieß. Dafür spricht schon die Regelung in
§ 866 Abs. 3 ZPO, wonach eine Sicherungshypothek nur für einen Betrag von mehr als
750 EUR eingetragen werden darf. Da die Beeinträchtigung für den
Grundstückseigentümer bei einer Zwangsversteigerung gegenüber der Eintragung einer
Sicherungshypothek ungleich höher ist, erscheint die Einleitung des
Zwangsversteigerungsverfahrens bei einem geringeren Betrag kaum verhältnismäßig.
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Hinzu tritt ein weiterer Grund, der vorliegend zur Unverhältnismäßigkeit führt: Gegen den
Grundsatz der Erforderlichkeit verstößt das Betreiben der Zwangsversteigerung des
Grundstückes in der Regel, wenn die Vollstreckungsbehörde nicht zuvor alle anderen
Möglichkeiten der Vollstreckung geprüft hat. Zwar hat die Antragsgegnerin im Zeitpunkt
der Einleitung der Zwangsversteigerung keine anderen Möglichkeiten zur Durchsetzung
ihrer Steuerforderung mehr gesehen, weil der Antragsteller unbekannten Aufenthalts
und sein bislang bekanntes Konto aufgelöst war. Spätestens aber in dem Zeitpunkt, in
dem das Amtsgericht F. mit der Anforderung des Auslagenvorschusses von 2.000 EUR
für ein Wertgutachten zum Ausdruck brachte, dass die Durchführung des
Zwangsversteigerungsverfahrens im Verhältnis zu den rückständigen
Grundsteuerforderungen zu unverhältnismäßigen Mehrkosten führen würde, hätte die
Antragsgegnerin Veranlassung gehabt, sich zur Vermeidung dieser Mehraufwendungen
an den Antragsteller zu wenden. Denn als die Anforderung des Auslagenvorschusses
vom 23. September 2009 bei der Antragsgegnerin einging, war dort die neue Anschrift
des Antragstellers bekannt. In diesem Zeitpunkt hätte es sich für die Antragsgegnerin
geradezu aufgedrängt, vor der Vergabe eines kostenträchtigen Wertgutachtens unter der
nun bekannten neuen Anschrift des Antragstellers nachzufragen, ob dies erforderlich sei
oder ob die Steuerrückstände auch ohne weitere Zwangsmaßnahmen beglichen
würden. Sie hat zwar die Beauftragung des Gutachters nicht selbst veranlasst. Da die
Auftragsvergabe aber von der Zahlung des Auslagenvorschusses durch die
Antragsgegnerin abhängig war, hatte sie es in der Hand, die Auftragsvergabe für die
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Dauer der Kontaktaufnahme mit dem Antragsteller zu verzögern. Den Einwand der
Antragsgegnerin in ihrem Schreiben an die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers
vom 13. August 2010 (Bl. 93 Beiakte 1), der Antragsteller habe seine neue Anschrift
"nur" dem Stadtsteueramt, aber nicht der für dem Zahlungsverkehr zuständigen
Fachdienststelle mitgeteilt, hält die Kammer für abwegig. Der Bürger und
Steuerpflichtige kann erwarten und darauf vertrauen, dass die mit der Erhebung der
Gemeindesteuern befassten Fachdienststellen Hand in Hand arbeiten, wenn die
Zuständigkeit dort behördenintern auf verschiedene Stellen aufgeteilt wird.
Die weitere Betreibung des Zwangsversteigerungsverfahrens, das nach - soweit
ersichtlich - vollständiger Zahlung der rückständigen Forderung allein noch der
Vollstreckung der allein von der Antragsgegnerin zu vertretenden Gutachterkosten dient,
ist nach alledem rechtswidrig, die vorläufige Einstellung deshalb angezeigt.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung
beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes -
GKG -. Dabei hat die Kammer im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Verfahren ein Viertel
der dem Antragsteller mit Schreiben vom 2. Juli 2010 (Blatt 48 Beiakte 1) präsentierten
Forderung, wegen derer die Antragsgegnerin das Zwangsversteigerungsverfahren
weiter betreiben will, zugrunde gelegt.
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