Urteil des VG Freiburg vom 04.02.2016

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VG Freiburg Urteil vom 4.2.2016, A 6 K 1356/14
Systemische Mängel im Asylsystem Bulgariens
Leitsätze
Aufgrund der im Jahr 2015 - verbunden mit einem erheblichen Anstieg der
Asylanträge - eingetretenen Verschlechterungen im Verfahren und bei der
Unterbringung bestehen in Bulgarien (erneut) systemische Mängel, von denen auch
alleinstehende (nicht-vulnerable) Dublin-Rückkehrer betroffen sind.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22.05.2014 wird
aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger und die
Beklagte jeweils die Hälfte.
Tatbestand
1 Der Kläger, ein am X geborener pakistanischer Staatsangehöriger, beantragte am
10.03.2014 beim Bundesamt seine Anerkennung als Asylberechtigter, nachdem er
am 08.02.2014 nach Deutschland eingereist war. Beim persönlichen Gespräch zur
Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats am 11.03.2014 gab er an, vor 5
Monaten Pakistan verlassen zu haben und über den Iran und die Türkei zunächst
nach Österreich gelangt zu sein. Welche Länder er nach Verlassen der Türkei
durchquert habe, sei ihm nicht bekannt. In derselben Nacht jedenfalls habe er
Österreich mit dem Taxi verlassen und sei nach Deutschland eingereist. Hier sei er
auf die familiäre Unterstützung seines Bruders angewiesen, der sich in der
Asylbewerberunterkunft in Villingen-Schwenningen aufhalte. Eine Eurodac-
Recherche ergab, dass die Fingerabdrücke des Klägers in Bulgarien im
Zusammenhang mit dem illegalen Überschreiten der Grenze erfasst worden waren
(Eurodac-Nr. BG2BR206C1310150073). Einem Aufnahmeersuchen vom
25.03.2014 stimmten die bulgarischen Behörden am 20.05.2014 gestützt auf Art. 13
Abs. 1 der Dublin III-VO und mit dem Hinweis zu, der Kläger sei dort unter dem
Namen „xxx“, geboren am 22.10.1993, registriert worden.
2 Mit Bescheid vom 22.05.2014, zugestellt am 28.05.2014, stellte das Bundesamt
fest, dass der Asylantrag unzulässig sei und ordnete die Abschiebung des Klägers
nach Bulgarien an.
3 Der Kläger hat am 04.06.2014 Klage erhoben und macht systemische Mängel im
Asyl- und Aufnahmeverfahren Bulgariens geltend. Einem zeitgleich mit der Klage
erhobenen Eilantrag ist mit Beschluss des Einzelrichters vom 22.07.2014 (A 6 K
1357/14) stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den
Bundesamtsbescheid angeordnet worden.
4 Der Kläger beantragt,
5 den Bescheid des Bundesamts vom 22.05.014 aufzuheben und die Beklagte zur
Durchführung eines Asylverfahrens zu verpflichten.
6 Die Beklagte beantragt,
7 die Klage abzuweisen.
8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze
der Beteiligten sowie den Akteninhalt (2 Hefte des Bundesamts sowie ein Heft
Gerichtsakte des Eilverfahrens A 6 K 1357/14) verwiesen. Die Beteiligten haben
sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
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I.
Die Anfechtungsklage ist zulässig. Unzulässig, weil unstatthaft, ist indessen die
darüber hinausgehende Verpflichtungsklage, da der Kläger die Aufhebung der
Entscheidung des Bundesamts über die Unzuständigkeit Deutschlands für die
Prüfung eines Asylantrags nach den unionsrechtlichen Regelungen der Dublin III-
Verordnung begehrt (vgl. zur Dublin II-VO: BVerwG, Urt. v. 27.10.2015 – 1 C 32/14
–, Rn. 13, juris). Wenn Bulgarien unzuständig ist und der Kläger sich hierauf, da in
subjektiven Rechten verletzt, berufen kann, fehlt ihm ein Rechtsschutzbedürfnis für
die Verpflichtung zur Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland, da keine
Anhaltspunkte dafür bestehen, das Bundesamt bliebe nach Aufhebung der
angefochtenen Verfügung untätig. Abgesehen davon müsste die Beklagte dann
zunächst noch die Möglichkeit haben, gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO einen
anderen Mitglied- bzw. Vertragsstaat, der nachrangig zuständig ist (hier Österreich)
zu ersuchen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.04.2014 – A 11 S 1721/13 –, Rn. 18,
juris).
10
II.
Der Bescheid des Bundesamts vom 22.05.2014, mit welchem der Asylantrag als
unzulässig abgelehnt (Ziff. 1) und die Abschiebung des Klägers nach Bulgarien
angeordnet wurde (Ziff. 2), ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen
Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1.)
An sich wäre Bulgarien für die Prüfung des am 10.03.2014 in Deutschland
gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Da dieser Antrag und das
anschließende Aufnahmeverfahren nach dem 31.12.2013 erfolgten, ist die
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) anzuwenden. Die
Zuständigkeit Bulgariens folgt damit aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO, da auf der
Grundlage der Fingerabdruckdaten nach der (ab 20.07.2015 geltenden)
Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (Eurodac-VO - bis zum 19.07.2015 galten die
Verordnungen (EG) Nr. 2725/2000 und Nr. 407/2002) festgestellt wurde, dass der
Kläger aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze Bulgariens
illegal überschritten hat (Eurodac-Treffer der Kategorie 2). Ein Vorrang
Deutschlands gemäß Art. 10 Dublin III-VO würde nicht bestehen. Zwar ist über den
(zeitlich früheren) Antrag auf internationalen Schutz des Bruders des Klägers in
Deutschland noch keine Entscheidung ergangen (Ungarn hat dessen Überstellung
wiederum zwar zugestimmt, eine solche dürfte indessen wegen systemischer
Mängel dort unzulässig sein - vgl. VG Freiburg, Urt. v. 13.10.2015 - A 5 K 2328/13
–, juris [dort insbesondere Rnr. 37 ff.]). Bei dem am 01.01.1987 geborenen Bruder
handelt es sich jedoch nicht um einen Familienangehörigen i.S. der vorrangigen
Art. 9 bis 11 Dublin III-VO (vgl. Art. 2 Buchst. g) Dublin III-VO).
12 Anhaltspunkte dafür, die Zuständigkeit Bulgariens wäre vor Asylantragstellung des
Klägers in Deutschland erloschen, gäbe es ebenfalls nicht. Entsprechend bestand
an sich gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a) Dublin III-VO i.V.m. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2,
Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art 22 Abs. 1 Dublin III-VO die Verpflichtung zur
Aufnahme des Klägers und wurde von Bulgarien auch am 20.05.2014
ausdrücklich erklärt. Von dieser Übernahmebereitschaft wäre im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung auch weiterhin auszugehen, so dass auch keine
unzumutbare Verzögerung der Durchführung des Aufnahmeverfahrens (auf die
sich der Kläger in Abwehr einer subjektiven Rechtsverletzung berufen könnte)
eintreten würde. Denn die mit Abgabe der Zustimmung Bulgariens am 20.05.2014
beginnende sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1
Dublin III-VO ist aufgrund der mit Eilbeschluss vom 22.07.2014 erfolgten
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage tatsächlich noch nicht
abgelaufen (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 i.V.m. Art. Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO).
13 Indessen liegen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO
vor. Es erweist sich als unmöglich, den Kläger nach Bulgarien zu überstellen, da
es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die
Aufnahmebedingungen für ihn in diesem Mitgliedstaat systemische
Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder
entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta
mit sich bringen.
14 Diese Gefahrenprognose beruht, wie europarechtlich geboten und ohnehin auch
im nationalen Recht verankert (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG), auf dem Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung Anfang Januar 2016. Allerdings hat für – wie an sich den
Kläger – alleinstehende Dublin-Rückkehrer, die auch nicht an einer
schwerwiegenden und dringend behandlungsbedürftigen Erkrankung leiden, der
VGH Baden-Württemberg in seinen Entscheidungen vom November 2014 und
März sowie April 2015 bezogen auf die damals jeweils maßgeblichen Zeitpunkte
festgestellt, dass eine Überstellung nach Bulgarien zur Durchführung des
Asylverfahrens nicht wegen systemischer Mängel oder Schwachstellen des
Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen als unmöglich anzusehen ist (vgl.
VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -, Rn. 43 ff., juris und Urt. v.
18.03.2015 – A 11 S 2042/14 –, Rn. 57 ff., juris; Urt. v. 01.04.2015 – A 11 S 106/15
–, Rn. 57 ff., juris [die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch
die letztgenannten VGH-Entscheidung wurde zurückgewiesen durch BVerwG,
Beschl. v. 26.08.2015 – 1 B 45/15 –, juris]). Im Wesentlichen wurde dies wie folgt
begründet: Mit Blick auf die 2013 und 2014 in Zusammenarbeit mit dem European
Asylum Support Office (EASO) beschlossenen Maßnahmen hätten sich die davor
existierenden Missstände in den Aufnahmeeinrichtungen grundlegend gebessert.
Eine zeitnahe Registrierung von Asylgesuchen und damit ein schneller Zugang
zum Asylverfahren sei grundsätzlich gewährleistet und nicht mehr
systemimmanent defizitär. Angesichts dieser Verbesserungen könne auch die für
ein Erstverfahren angesichts unzureichender finanzieller Ausstattung
staatlicherseits nicht zuverlässig zur Verfügung stehende Rechtsberatung nicht
mehr als derart grundlegend eingestuft werden, um als systemisch qualifiziert zu
werden. Auch wenn die Zugangszahlen wieder im Steigen begriffen seien, gebe es
noch erhebliche freie Kapazitäten. In sieben Unterkünften stünden 6.000 Plätze
zur Verfügung, von denen 3.910 belegt seien. Bulgarien werde, anders als im Jahr
2013, nicht mehr völlig unvorbereitet und ohne Hilfe der Union und des UNHCR mit
steigenden Zugangszahlen konfrontiert sein. Die in Einrichtungen der State
Agency for Refugees (SAR) untergebrachten Dublin-Rückkehrer hätten ein Recht
auf dieselben Hilfe- und Dienstleistungen, die anderen Asylbewerbern zustehen.
Als Folge des ständigen Anstiegs der Anzahl der neuen Asylanträge erfolge
allerdings die Registrierung und Bearbeitung der Anträge seit kurzem wieder etwas
verzögert. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die SAR weiterhin nicht über eine
ausreichende Anzahl von Dolmetschern sowie von Mitarbeitern für die
Registrierung und Befragung verfüge. Der UNHCR gehe davon aus, dass wegen
der Erhöhung der Aufnahme– und Bearbeitungskapazitäten seit Anfang 2014 des
Asylsystem „einigermaßen“ funktioniere. Um allerdings die bisher hier erfolgten
Verbesserungen beizubehalten, benötige die SAR weitere Mittel. EASO habe auf
die im Oktober 2014 geäußerte Bitte Bulgariens hin Unterstützung bei der weiteren
Verbesserung des Asyl- und Aufnahmesystems zugesagt, ein spezieller Plan zur
Unterstützung sei am 05.12.2014 vom bulgarischen Innenminister und EASO
unterzeichnet worden. Zu den danach geplanten Maßnahmen, welche bis Ende
Juni 2016 fortdauern sollten, gehörten u.a. die Unterstützung bei der Einhaltung
geltenden Flüchtlingsrechts und bei der Aufnahme von Flüchtlingen bzw. den
Aufnahmeverfahren. Deshalb gehe der Senat davon aus, dass der bulgarische
Staat inzwischen auch für wachsende Flüchtlingszahlen hinreichend gerüstet sei.
In allen Dublin-Verfahren werde eine Anhörung durchgeführt, wenn notwendig.
Das Asylverfahren werde grundsätzlich wiedereröffnet, wenn über den
Asylanspruch in der Sache noch nicht entschieden worden sei. Der Antragsteller
werde abhängig vom Verfahrensstand höchstwahrscheinlich in eine SAR-
Einrichtung überstellt und genieße dort dieselben Rechte wie andere
Asylbewerber. Selbst in Fällen, in denen das Verfahren zunächst ausgesetzt und
nach weiteren drei Monaten beendet worden sei, werde in der Praxis nach einer
Überstellung zu einer Anhörung geladen, wenn eine solche noch nicht
stattgefunden habe. Diese Erkenntnisse seien mit der neuesten Stellungnahme
des UNHCR vom 23.12.2014 bestätigt worden.
15 An dieser Bewertung und Prognose kann im hier maßgeblichen Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung Anfang Januar 2016 nicht mehr festgehalten werden.
Nach den neueren Erkenntnismitteln bestehen vielmehr ausreichende
Anhaltspunkte bzw. wesentliche Gründe für (erneute) systemische Schwachstellen
im Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in
Bulgarien. Diese betreffen den Kläger individuell und setzen ihn der konkreten
Gefahr aus, im Falle einer Rücküberstellung nach Bulgarien eine
menschenunwürdige Behandlung zu erfahren:
16 Der UNHCR hatte im April 2014 (Observations on the Current Situation of Asylum
in Bulgaria, Seite 3) zwar von seiner noch im Januar 2014 generell vertretenen
Haltung wieder Abstand genommen, Asylbewerber nicht nach Bulgarien
zurückzuschicken, und Verbesserungen in den Aufnahmebedingungen und im
Asylverfahren ausgemacht. Gleichwohl aber mahnte er weiter zur Vorsicht,
zumindest mit Blick auf bestimmte Rückkehrer und Rückkehrsituationen. Der
Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muiznieks, wies in seinem
Report vom 22.06.2015 (Rn. 97) ebenfalls kritisch darauf hin, dass die ab März
2014 eingetretenen Verbesserungen anfällig („fragile“) seien und durch einen
neuen Zustrom von Flüchtlingen und/oder mögliche Zurückschiebungen oder
Überstellungen im Rahmen des Dublin-Systems sich schnell wieder umkehren
könnten. Gerade für das abgelaufene Jahr 2015 ist dieser erhebliche Zustrom
neuer Flüchtlinge und damit eine Verschärfung der Lage festzustellen. Im Jahr
2015 hatte Bulgarien 20.365 Asylbewerber und erstmalige Asylbewerber zu
verzeichnen (Quelle: Eurostat - unter: Neuigkeiten > Asyl und gesteuerte Migration
> Statistiken illustriert). Diese Zahl kann als verlässlich zugrundegelegt werden. Die
mit 12.738 Antragstellern angegebene Zahl im AIDA-Report vom Oktober 2015
des ECRE (European Council on Refugees and Exiles - Asylum Information
Database, Country Report: Bulgaria [Stand 30.09.2015], Seite 6) widerspricht dem
nicht, da sie nur den Zeitraum von Januar bis September abdeckt. Bereits Ende
Oktober 2015 waren laut der bulgarischen State Agency for Refugees (SAR),
bedingt durch einen starken Anstieg im Oktober, 16.283 Anträge auf
internationalen Schutz registriert worden (SAR, Asylum Statistics October 2015 -
abgerufen auf der AIDA-Website www.asylumineurope.org unter > Bulgaria
Country Report > Resources). Bekanntermaßen war gerade das letzte Quartal
2015 von starken Flüchtlingsströmen über die Balkanroute geprägt, so dass eine
entsprechende Zunahme plausibel erscheint und folglich kein Widerspruch zu den
Zahlen von Eurostat besteht.
17 Der aktualisierte, gegenüber demjenigen von Januar 2015 fortgeschriebene AIDA-
Report Oktober 2015 dokumentiert für den Berichtszeitraum eine schrittweise
Verschlechterung im Bereich des Asylverfahrens. Im Zeitraum Februar bis April
2015 entließ und ersetzte die SAR einen Großteil der für Entscheidungen im
Asylverfahren zuständigen Mitarbeiter, die noch im Jahr 2014 mit Unterstützung
des UNHCR und des EASO-Operating-Plan eingestellt und ausgebildet worden
waren (AIDA-Report, Seite 11/12). Hierdurch kam es im Anerkennungsverfahren
zu einer bedeutsamen Verlangsamung. Die Dauer des Verfahrens stieg so
kontinuierlich an und betrug im Herbst 2015 in der Regel 6 Monate (gegenüber 3
Monaten im Jahr 2014), mit der Tendenz, weiter anzusteigen (AIDA-Report, Seite
12).
18 Erhebliche Defizite bestanden ferner im Bereich des Dolmetschereinsatzes.
Grundsätzlich stehen für die Hauptsprachen (Arabisch, Dari, Farsi, Pashtu, Urdu,
Kurdisch, Englisch, Französisch und Russisch) zwar Dolmetscher zur Verfügung.
Beginnend ab Januar 2015 versäumte es die SAR jedoch, für eine ausreichende
Vergütung von Dolmetschertätigkeiten zu sorgen. Im Anschluss an seinen Besuch
im Februar 2015 hatte schon der Menschenrechtskommissar des Europarats
Besorgnis dahin geäußert, dass die SAR mit Blick auf ein zu geringes
Jahresbudget die notwendigen materiellen Bedingungen nicht aufrechterhalten
könne (AIDA-Report vom 22.06.2015, Rn. 98). Bedienstete wurden von der
Behördenleitung angehalten, Anhörungen mit Asylbewerbern in jeder nur
möglichen Sprache durchzuführen, obwohl die Voraussetzungen auf
Antragstellerseite hier kaum oder gar nicht vorliegen (AIDA-Report, Seite 23). Trotz
finanzieller Unterstützung durch die EU-Kommission und den UNHCR war die
Asylbehörde bis Ende September 2015 immer noch nicht in der Lage, für die
notwendigen Vorkehrungen zu sorgen, um Dolmetscherentschädigungen zu
gewährleisten. Deshalb traten im September 2015 auch die letzten noch tätigen
Dolmetscher in einen Ausstand. Hierdurch bestand für die meiste Zeit des Jahres
eine vorschriftswidrige und unsichere Situation im Anerkennungsverfahren. Weiter
wirkte sich dies auch erheblich verzögernd auf das Verfahren der Registrierung
und Asylantragstellung aus (AIDA-Report, Seite 23; Report des
Menschenrechtskommissars des Europarats vom 22.06.2015, Rn. 103).
19 Weitere Mängel im Anhörungsverfahren bestanden darin, dass die meisten der - in
der Praxis weitaus überwiegend schriftlich geführten - Anhörungsprotokolle (nicht
anders bei audio-aufgezeichneten Protokollen) Antragstellern zur Unterzeichnung
vorgelegt wurden, ohne indessen zuvor noch einmal vorgelesen und rückübersetzt
worden zu sein. Hierdurch konnten Ungereimtheiten, Widersprüche usw.
frühestens im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden (AIDA-Report, Seite
24).
20 Spätestens ab 01.07.2015 hatten Asylantragsteller nicht mehr die Möglichkeit, eine
vom Staat zur Verfügung gestellte Rechtshilfe im Verwaltungsverfahren in
Anspruch zu nehmen. Geldmittel des Europäischen Flüchtlingsfonds (ERF) waren
nur bis Ende Juni 2015 bewilligt worden, neue Mittel wurden erst für Ende 2015
erwartet. Soweit es private Rechtshilfe gab, war diese überaus spärlich und eher
die Ausnahme als die Regel (AIDA-Report, Seite 26; Report des
Menschenrechtskommissars des Europarats vom 22.06.2015, Rn. 100).
21 Erhebliche Schwachstellen kennzeichnet der AIDA-Report weiter im Bereich der
Aufnahme und Unterbringung. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass die im
Report angegebene Unterbringungskapazität zum 30.09.2015 (vgl. Seite 45) 5.130
Plätze betrug. Es liegt auf der Hand, dass angesichts der oben genannten
Asylbewerberzahlen für das Jahr 2015 (20.365) diese Aufnahmekapazität trotz
Verbesserungen in der Vergangenheit in keiner Weise ausreichend sein kann
(AIDA-Report, Seite 19). Zwar besteht die Möglichkeit bzw. Zulässigkeit der
Unterbringung auch außerhalb von Aufnahmezentren, indessen nur auf eigene
Kosten eines Asylantragstellers und unter gleichzeitigem Verzicht auf monatliche
Unterstützungsleistungen (AIDA-Report, Seite 45). Mangels in der Regel eigener
Mittel und angesichts der Tatsache, dass es in der Praxis für Asylbewerber in
Bulgarien mit Blick auf Sprachprobleme, dortige Rezession und eine hohe
Arbeitslosigkeit überaus schwierig ist, eine Arbeit zu finden (AIDA-Report, Seite
50), ist eine alternative Unterbringung indessen alles andere als realistisch.
22 Defizite waren im Jahr 2015 ferner bei der Versorgung innerhalb der staatlichen
Aufnahmeeinrichtungen zu verzeichnen. So gab es ab Beginn des Jahres Grund,
die Qualität bzw. den Nährwert der Nahrung zu beanstanden, zusätzlich war die
Versorgung von Juli bis September 2015 unterbrochen, so dass eine Verpflegung
von Asylbewerbern von Wohlfahrts- und Freiwilligkeitsleistungen abhängig war.
Verschärft wurde die Lage dadurch, dass rückwirkend zum 01.02.2015
Unterstützungszahlungen eingestellt worden waren (AIDA-Report, Seite 46).
Aufgrund finanzieller Engpässe gab es ferner eine zufriedenstellende medizinische
Versorgung zwischen Mai und September 2015 nur im Aufnahmezentrum Ovcha
Kupel (AIDA-Report, Seite 46; Report des Menschenrechtskommissars des
Europarats vom 22.06.2015, Rn. 103).
23 Das Schicksal von Dublin-Rückkehrern, zu denen der Kläger gehört, wird von der
Rechtsprechung unterschiedlich gewürdigt. Der VGH Baden-Württemberg (Urt. v.
18.03.2015, a.a.O., Rn. 63-65; Urt. v. 01.04.2015, a.a.O., Rn. 63-67) legt eine
Auskunft des UNHCR vom 23.12.2014 zugrunde. Für Dublin-Rückkehrer gelte
danach die Besonderheit, dass das Asylverfahren grundsätzlich wiedereröffnet
werde, wenn über den Asylanspruch (in der Sache) noch nicht entschieden
worden sei. Voraussetzung hierfür sei, dass der Dublin-Rückkehrer einer
Fortführung des Verfahrens in Bulgarien zustimme. Nach UNHCR sei damit eine
sachliche Prüfung des Asylantrags sichergestellt; der Antragsteller werde abhängig
vom Verfahrensstand höchstwahrscheinlich in eine SAR-Einrichtung überstellt und
genieße dieselben Rechte wie andere Asylbewerber. Selbst in Fällen, in denen
das Verfahren zunächst ausgesetzt und nach weiteren drei Monaten beendet
worden sei, werde in der Praxis nach einer Überstellung zu einer Anhörung
geladen, wenn eine solche noch nicht stattgefunden habe. Das VG Oldenburg
(Beschl. v. 24.06. 2015 – 12 B 2278/15 –, Rn. 37 ff., juris) und das VG Aachen
(Beschl. v. 17.11.2015 – 8 L 325/15.A -, Rn. 31 ff., juris) bezweifeln diese
Auslegung, da sie die UNHCR-Auskunft für widersprüchlich erachten. Diese
Gerichte gehen davon aus, dass ein Asylverfahren nach Ablauf von 3 Monaten
und 10 Tagen nach der Registrierung des Asylantrages nicht fortgesetzt werde
und ein Dublin-Rückkehrer dann regelmäßig Gefahr laufe, in Abschiebehaft
genommen und auf einen Folgeantrag verwiesen zu werden, ohne dass sein
Asylbegehren in der Sache geprüft worden sei. Die aktualisierte Antwort auf
Fragen von UNHCR Deutschland im Zusammenhang mit Überstellung nach dem
Dublin Verfahren vom eine 31.07.2015 an das VG Meiningen und der AIDA-Report
Oktober 2015 können diese Ungewissheit nicht vollständig beseitigen. Betreffend
einen Dublin-Rückkehrer führt der AIDA-Report (Seite 29/30) folgendes aus: Habe
dieser einen Asylantrag gestellt und sei sein Asylverfahren in Bulgarien noch
anhängig, erfolge eine Überstellung in eine der SAR-Aufnahmeeinrichtungen und
eine Fortführung des Asylverfahrens ab dem Stadium, zu dem der betreffende
Antragsteller Bulgarien verlassen habe. Sei der Asylantrag in Abwesenheit
abgelehnt, aber dem Asylbewerber noch nicht bekanntgegeben worden, bevor er
Bulgarien verlassen habe, werde er in eine Aufnahmeeinrichtung überstellt. Sei es
allerdings bereits vor Verlassen Bulgariens zu einer abschließenden und
wirksamen Entscheidung gekommen, erfolge eine Überstellung in eine
Hafteinrichtung.
24 Mit Blick auf diese Erkenntnislage besteht ein relevantes Risiko von Personen in
der Situation des Klägers, ohne sachliche Prüfung ihres Asylbegehrens als
Folgeantragsteller behandelt zu werden und in eine Hafteinrichtung zu gelangen,
wo er mit dort unzureichenden Versorgungsbedingungen konfrontiert wäre (zu den
Haftbedingungen vgl. Report des Menschenrechtskommissars des Europarates
vom 22.06.2015, Rn. 119, AIDA-Report, Seite 56/57). Zwar handelt es sich beim
Kläger nach den bisherigen Erkenntnissen nicht um eine Person, die in Bulgarien
Asyl beantragt hat (vgl. den o.g. Eurodac-Treffer der Kategorie 2) Selbst wenn –
wie hier – ein Dublin-Rückkehrer seitens der bulgarischen Behörden gemäß Art. 13
Dublin III-VO aufgenommen wird, kann es jedoch sein, dass er tatsächlich als
Asylantragsteller behandelt wird. Solche Fälle können insbesondere aus der
kritischen Periode zwischen Ende 2013 und Frühjahr 2014 stammen (AIDA-
Report, Seite 30), in der sich gerade der Kläger in Bulgarien aufgehalten hat.
Darüber hinaus laufen Asylbewerber einschließlich Dublin-Rückkehrer Gefahr, ihr
Recht auf Versorgung und Unterbringung zu verwirken, wenn sie sich mehr als 3
Tage ohne Erlaubnis bzw. Hinweis außerhalb einer Aufnahmeeinrichtung
aufgehalten haben (AIDA-Report, Seite 30).
25 Diese vorgenannten, nicht nur vereinzelten Defizite stellen eine Verletzung der in
Art. 10, 12, 14, 17, 19 und 20 sowie 31 der Richtlinie 2013/32/EU
(Verfahrensrichtlinie) sowie der Art. 10 und 17 bis 19 der Richtlinie 2013/33/EU
(Aufnahmerichtlinie) vorgesehenen Mindeststandards und mithin eine
unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung dar. Sie sind beachtlich
wahrscheinlich vorhersehbar, weil sie im Aufnahme- und Asylverfahrenssystem
Bulgariens angelegt sind bzw. dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Sie treffen
die Personengruppe, zu welcher der Kläger gehört, nicht unvorhersehbar oder
schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht des Gerichts wegen ihrer
systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren (vgl. zum
Prognosemaßstab BVerwG, Beschl. v. 06.06.2014 – 10 B 35/14 –, Rn. 5, juris).
Angesichts der letztlich nur vorübergehenden Verbesserung der Verhältnisse im
Jahr 2014, aber der davor sowie nunmehr im Jahr 2015 erneut eingetretenen
wesentlichen Verschlechterung kann nicht die Rede davon sein, es handele sich
nur um einen vorübergehend erreichten (Zwischen-)Stand der Dinge, welcher in
absehbarer Zeit wieder behoben sein wird.
26 Anhaltspunkte dafür schließlich, dass eine Überstellung des Klägers im
Zusammenwirken mit den bulgarischen Behörden so organisiert werden könnte,
dass eine drohende Grundrechtsverletzung nicht eintritt, gibt es nicht. Anders als in
Fällen des Mitgliedstaats Italien (vgl. im Ausgangspunkt die Tarakhel-
Entscheidung des EGMR vom 04.11.2014 - Nr. 29217/12 -, juris), ist dem
erkennenden Gericht aus der Lektüre zahlreicher Entscheidungen bislang nicht
bekannt geworden, dass eine entsprechende Behördenpraxis mit Bulgarien
existierte bzw. durch diesen Mitgliedstaat überhaupt angewendet würde.
27 Die Beklagte durfte somit nicht bereits den Asylantrag als unzulässig ablehnen,
sondern hatte die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fortzusetzen,
um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
Da die Voraussetzungen des § 27a AsylG nicht vorliegen, fehlt es am Tatbestand
des § 34a Abs. 1 AsylG, so dass auch die Abschiebungsanordnung aufzuheben
ist.
28
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83 b AsylG.