Urteil des VG Freiburg vom 28.08.2013

ungarn, medizinische betreuung, aufschiebende wirkung, familie

VG Freiburg Beschluß vom 28.8.2013, A 5 K 1406/13
Leitsätze
Nach den gegenwärtig vorliegenden Erkenntnismitteln ist mit einiger
Wahrscheinlichkeit ernsthaft zu befürchten, dass Asylbewerber, welche in Ungarn
subsidiären Schutz erhalten haben und anschließend mangels Lebensperspektive
dort in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgereist sind, bei ihrer
Rückkehr nach Ungarn dort nicht Fuß fassen und menschenwürdig existieren
können.
Dass die maßgeblichen Erkenntnismittel nun schon ein bis zwei Jahre alt sind, geht
nicht zu Lasten des Antragstellers. Jedenfalls für das Jahr 2011 und die Zeit davor
spricht viel für das Vorliegen systemischer Mängel im Sinne der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs. Es spricht dann einiges dafür, dass es Sache der
Antragsgegnerin wäre, darzulegen, dass sich die Verhältnisse in Ungarn insoweit zum
Besseren gewendet haben.
Soweit in der Rechtsprechung insoweit von einer anderen Beweislastverteilung
ausgegangen wird, folgt die Kammer dem jedenfalls im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes nicht (vgl. aber VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 06.08.2013 - 12 S 675/13
- m.w.N. und die dort zitierte jüngere Rechtsprechung des Österreichischen
Asylgerichtshofs; vgl. zuletzt auch dessen Entscheidung vom 14.08.2013 - S 21
410.909-2/2013 -, nachgewiesen im Rechtsinformationssystem des
Österreichischen Bundeskanzleramts).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2013 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Gründe
I.
1 Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm angedrohte
Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin II - Verordnung.
2 Der Antragsteller beantragte nach seiner Meldung am 13.06.2013 bei der
Außenstelle Karlsruhe des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge am
26.06.2013 Asyl. Dabei legte er ein am 10.10.2012 ausgestelltes ungarisches
Reisedokument für Personen mit subsidiärem Schutz vor.
3 Im Asylverfahren gab er bei der Meldung als Asylbewerber und bei einer späteren
fünf Minuten dauernden Befragung an: Er sei am X in Teheran geboren und
spreche persisch sowie englisch. Er habe das Abitur abgelegt und sei
Goldschmied gewesen. Seine wirtschaftliche Situation sei gut gewesen. Er habe
die afghanische Staatsangehörigkeit und sei schiitischen Glaubens. 2007 sei er
nach Griechenland gereist und habe dort Asyl beantragt. 2009 sei er nach Ungarn
weiter gezogen. Im Januar 2010 sei er von dort nach Griechenland abgeschoben
worden. Am 06.02.2011 sei er nach einem Aufenthalt im Kosovo wieder nach
Ungarn eingereist. Nach 17 oder 18 Tagen sei er nach Belgien gereist und habe
sich dort etwa dreieinhalb Monate aufgehalten. Am 25.05.2012 oder 25.06.2012
sei er nach Ungarn abgeschoben und dort inhaftiert worden. Nach Ungarn wolle er
nicht überstellt werden wegen der sozialen und finanziellen Probleme dort und weil
die ungarischen Behörden ihn und seine Frau und ihr Kind nicht als Familie
anerkennen würden, da sie keine Heiratsurkunde besäßen.
4 Das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom
27.06.2012 nahm die zuständige ungarische Behörde unter dem 09.07.2013 an
(gemäß Art. 16 Abs. 1e Dublin II-VO).
5 Mit Bescheid vom 18.07.2013 erklärte das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge den Asylantrag für unzulässig und ordnete die Abschiebung nach
Ungarn an.
6 Der Antragsteller hat am 29.07.2013 Klage erhoben und zugleich vorläufigen
Rechtsschutz beantragt.
7 Er trägt vor: In Griechenland habe er unter schlechtesten Bedingungen leben
müssen. Im Asylverfahren sei es über zwei Jahre zu keiner Anhörung gekommen
und es sei auch keine Entscheidung ergangen. In Ungarn sei zunächst vier
Monate in einem geschlossenen Lager festgehalten und nach vier Monaten nach
Griechenland abgeschoben worden. Dort sei er wieder, für vier Wochen, inhaftiert
worden. In der Türkei habe er sich mit der illegal aus dem Iran eingereisten
afghanischen Staatsangehörigen Frau H. getroffen. Sie hätten sich die Ehe
versprochen, hätten aber offiziell nicht heiraten können. Gemeinsam seien sie in
den Kosovo weiter gereist, wo sie für kurze Zeit unter schwierigsten Bedingungen
gelebt hätten. Von dort seien sie nach Ungarn gegangen. Am 06.02.2011 seien sie
dort festgenommen worden. Weil man ihnen gedroht habe, sie zu trennen, hätten
sie beide Asyl beantragt. Sie seien ins Lager Debrecen gebracht worden, wo die
hygienischen Bedingungen extrem schlecht gewesen seien. Vor dem Lager sei
gegen die Asylbewerber demonstriert worden. Nach 17 oder 18 Tagen seien sie
nach Belgien gereist. Belgien habe sie am 25.05.2011 nach Ungarn abgeschoben.
Obwohl seine Frau schwanger gewesen sei, seien sie in einem geschlossenen
Lager untergebracht worden, das sie nur für dringende Termine und nur mit
Handschellen hätten verlassen können. Anfang Oktober 2011 hätten sie
subsidiären Schutz erhalten und auch eine Aufenthaltserlaubnis. Seine Ehefrau
habe Rechtsmittel eingelegt; ihr sei dann auch die Flüchtlingseigenschaft
zuerkannt worden. Am 10.10.2011 seien sie in das Lager Bicske in der Nähe von
Budapest verlegt worden. Nach der Geburt ihres Kindes am X 2012 hätten sie dort
zwei kleine Zimmer mit eigener Küche und Bad erhalten. Die finanziellen Mittel, die
sie erhalten hätten, hätten nur knapp für die Ernährung gereicht, nicht aber für
Kleidung, Pampers usw. Es habe zwar einen Sprachkurs gegeben. Dieser sei aber
ineffizient und überfüllt gewesen. Seine andauernden und umfassenden
Bemühungen um Arbeit seien ohne Erfolg geblieben. Man habe ihm stets erklärt,
dass die Ungarn selbst keine Arbeit hätten, oder es sei ein ungarischer Abschluss
verlangt worden, auch wenn die Arbeit gar keine Qualifikation erfordert hätte. Auch
eine Wohnung sei unmöglich zu finden gewesen. So sei es praktisch allen
Bewohnern des Lagers gegangen. Die Wohnmöglichkeit im Lager sei einmal um
sechs Monate bis zum 10.10.2012 verlängert worden, weil sie eine Familie mit
einem kleinen Kind gewesen seien. Der Sohn sei nicht mit seinem Familiennamen
eingetragen worden. Ab dem 10.10.2012 hätten sie nicht mehr als Bewohner des
Lagers gegolten. Die Lager-Ausweise seien ihnen abgenommen worden.
Finanzielle Leistungen hätten sie nicht mehr erhalten. Eine medizinische
Betreuung sei nicht mehr möglich gewesen. Sie seien aber einfach dort geblieben,
obwohl sie wiederholt aufgefordert worden seien, das Zimmer zu räumen, und
hätten sich von Freunden innerhalb des Lagers helfen lassen; auch hätten sie
unregelmäßig in geringem Umfang darlehnsweise Geld von anderswo in Europa
lebenden Freunden erhalten. Bei den zuständigen Behörden und bei
Nichtregierungsorganisationen habe man ihnen erklärt, ihnen bei der Suche nach
einer Wohnung und bei ihren Problemen nicht helfen zu können. Wegen des
Winters hätten sie einen Räumungsaufschub bis Ende März 2013 erhalten. Seit
Anfang 2013 hätten Bewohner des Lagers Bicske zweimal vor dem ungarischen
Parlament und je einmal vor der UN-Vertretung und vor der EU-Vertretung in
Brüssel demonstriert, auch er und seine Frau seien dabei gewesen. Eine
Obdachlosenunterkunft sei für sie als Familie mit einem kleinen Kind keine Lösung
gewesen. Kleine Kinder würden dort nicht aufgenommen. Als Obdachlose hätte
ihnen zudem Kriminalisierung gedroht. Nach dem 30.03.2013 seien sie wiederholt
von der Polizei zur Räumung des Zimmers aufgefordert worden. Seine Frau, die
als damals Schwangere unter der viermonatigen haftartigen Unterbringung im
Lager Békéshaba gelitten habe, sei in sehr schlechter psychischer Verfassung.
Nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe sie ihr Reisedokument
und ihre Aufenthaltserlaubnis abgeben müssen und noch keine neuen erhalten. In
dieser Situation habe er sich entschlossen, mit anderen afghanischen Flüchtlingen
nach Deutschland zu reisen. Indem er beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge auf die Schwierigkeiten für sie in Ungarn hingewiesen habe, habe er
die Ausübung des Selbsteintritts der Bundesrepublik in die asylrechtliche
Zuständigkeit beantragt. Seine Schilderung werde u.a. belegt durch den Ungarn-
Bericht von pro asyl und bordermonitoring.eu, Stand Februar 2012 und von einem
Artikel von bordermonitoring.eu vom 09.04.2013 sowie von weiteren Berichten
ungarischer Nichtregierungsorganisationen. Er gehöre wegen seiner wiederholten
Inhaftierungen sowie als Vater einer Familie mit einem Kleinkind zu einer
besonders verletzlichen Gruppe von Flüchtlingen. Ungarn habe ihn in seinem
Recht aus Art. 3 EMRK verletzt. Seine voraussichtlichen Lebensumstände bei
einer Rückkehr nach Ungarn stellten eine Verletzung seines Grundrechts aus Art.
4 GRCh, Art. 8 EMRK und Art. 6 GG dar.
8 Die Antragsgegnerin verteidigt den angefochtenen Bescheid, ohne insoweit
Näheres auszuführen.
9 Der Kammer liegt ein Heft Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (als
Ausdruck der elektronisch geführten Akte) vor.
II.
10 Der Antrag hat Erfolg.
11 Er ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft und auch sonst zulässig.
12 Dem steht § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Zwar darf danach eine
Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat
(§ 27a AsylVfG) aufgrund einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1
AsylVfG nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Dies gilt aber aus
verfassungsrechtlichen (BVerfG, Beschl. v. 15.07.2010 - 2 BvR 1460/10 - juris) und
aus unionsrechtlichen Gründen (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/19 u.a. - juris) in
bestimmten Fällen nicht. Ein solcher Fall liegt hier vor. § 34a Abs. 2 AsylVfG ist
insoweit verfassungsgemäß bzw. unionsrechtlich einschränkend auszulegen.
13 Der Antrag ist auch begründet.
14 Nach Überzeugung der Kammer ist nach den ihr gegenwärtig vorliegenden
Erkenntnismitteln mit einiger Wahrscheinlichkeit ernsthaft zu befürchten, dass
Asylbewerber, welche in Ungarn subsidiären Schutz erhalten und anschließend
mangels Lebensperspektive dort in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen
Union ausgereist sind, bei ihrer Rückkehr nach Ungarn dort nicht Fuß fassen und
dort - nach den in Ungarn gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen -
menschenwürdig existieren können, dies gilt umso mehr mit Blick auf den
bevorstehenden Winter.
15 Es ist für die Kammer insbesondere nicht ersichtlich, dass Ungarn insoweit seinen
Verpflichtungen gemäß Art. 20 ff., insbesondere Art. 26 bis 29 und 31 QualfRL
(Zugang zur Beschäftigung, Zugang zu Bildung, Sozialhilfeleistungen und
Medizinische Versorgung, Zugang zu Wohnraum) nachkommt.
16 Somit spricht Einiges dafür, dass systemische Mängel der Aufnahmebedingungen
für die oben genannte Personengruppe eine unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh darstellen (vgl. EuGH a.a.O. Rdnr. 86).
17 Während insoweit in den vom Antragsteller angeführten Erkenntnismitteln
grundlegende Zweifel, nicht nur in Bezug auf Einzelfälle, sondern allgemein,
geäußert werden (insbesondere UNHCR, „Ungarn als Asylland, April 2012“, S. 26
ff., auch unter Hinweis auf einen Bericht des Parlamentarischen
Menschenrechtsbeauftragen vom August 2011; pro asyl und bordermonitoring.eu
., „Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer
einjährigen Recherche bis Februar 2012“, S. 27 ff., auch mit zahlreichen Hinweisen
auf ungarische Nichtregierungsorganisationen; vgl. allgemein auch
Kammerbeschl. v. 25.03.2013 - 5 K 345/13 - m.w.N.), hat die Antragsgegnerin im
vorliegenden Verfahren insoweit nichts vorgetragen.
18 Dass die genannten Erkenntnismittel nun schon ein bis zwei Jahre alt sind, geht
nicht zu Lasten des Antragstellers. Jedenfalls für das Jahr 2011 und die Zeit davor
spricht viel für das Vorliegen systemischer Mängel im oben beschriebenen Sinn. In
rechtlicher Hinsicht spricht dann aber einiges dafür, dass es Sache der
Antragsgegnerin wäre, darzulegen, dass sich die Verhältnisse in Ungarn insoweit
zum Besseren gewendet haben.
19 Soweit in der Rechtsprechung insoweit von einer anderen Beweislastverteilung
ausgegangen wird, folgt die Kammer dem jedenfalls im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes nicht (vgl. aber VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 06.08.2013 - 12 S
675/13 - m.w.N. und die dort zitierte jüngere Rechtsprechung des Österreichischen
Asylgerichtshofs; vgl. zuletzt auch dessen Entscheidung vom 14.08.2013 - S 21
410.909-2/2013 -, nachgewiesen im Rechtsinformationssystem des
Österreichischen Bundeskanzleramts).
20 Einer Entkräftung der mit hoher Gewissheit bis vor kurzer Zeit gegebenen
systemischen Mängel insoweit bedürfte es umso mehr, als die Zahl der
Asylbewerber zuletzt in der Union insgesamt stark zugenommen hat und deshalb
naheliegt, dass die in Ungarn mit Hilfe der Europäischen Union zuletzt erreichten
Verbesserungen wegen Überlastung der vorhandenen Einrichtungen nicht mehr
hinreichen.
21 Soweit auf eine jüngere Stellungnahme des UNHCR („Note on Dublin transfers to
Hungary of people who have transited through Serbia - update“) vom Dezember
2012 verwiesen wird, befasst sich diese nicht mit der Frage, wie ein Flüchtling, der
in Ungarn subsidiären Schutz erhalten hat, dort anschließend menschenwürdig
existieren kann.
22 Auch den Hinweis in verschiedenen Entscheidungen auf einen Bericht des
deutschen Liasonbeamten über die entsprechenden jüngeren Entwicklungen in
Ungarn kann die Kammer nicht berücksichtigen, weil der Inhalt dieses Berichts ihr
nicht bekannt (gemacht worden) ist und sich im Übrigen wohl auch allein auf die
Verbesserungen hinsichtlich der Gefahr von Inhaftierungen von Asylbewerbern
bezieht, nicht aber auf die allgemeine soziale Lage von (anerkannten) Flüchtlingen
bzw. Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz.
23 Im Hauptsacheverfahren wird schließlich auch zu klären sein, ob die neu
eingeführten Straftatbestände für Obdachlosigkeit auch für die hier zu
betrachtende Personengruppe von Bedeutung ist.
24 Beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens kann die Kammer auch nicht davon
ausgehen, dass der Antragstellers bei einer Rückkehr nach Ungarn
möglicherweise wieder zu seiner Familie ziehen kann. Denn selbst wenn diese
nach wie vor in einer Übergangseinrichtung geduldet würden, wäre wohl eher
unwahrscheinlich, dass der Antragsteller dort wieder aufgenommen würde.
Erkundigungen insoweit hat die Antragsgegnerin jedenfalls nicht eingeholt.
25 Unberücksichtigt bleiben muss auch, ob der Antragsteller in Ungarn in der Lage
wäre, die ihm nach Unionsrecht zustehenden Ansprüche auf Integration ggf. in
zumutbarer Zeit gerichtlich durchzusetzen. Auch dazu hat sich die
Antragsgegnerin nicht geäußert.
26 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylVfG.
27 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).