Urteil des VG Freiburg vom 17.11.2016

asylg, bedrohung, diagnose, albanien

VG Freiburg Beschluß vom 17.11.2016, A 4 K 3581/16
Wochenfrist des § 36 Abs. 3 S. 1 AsylVfG 1992 - Ausprägungsgrad und Bedeutung eines
Traumas für die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)
Leitsätze
Der Antrag eines Asylbewerbers nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
seiner Klage gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem sein Asylantrag als
offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, ist unzulässig, wenn die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG
verstrichen ist und ein (erstmaliger) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO deshalb unzulässig wäre. Ggf. kommt in
diesen Fällen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach Maßgabe von § 123 VwGO in Betracht.
Tenor
Die Anträge werden abgelehnt.
Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zu einem Viertel.
Gründe
1 Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
2 Die Anträge der Antragstellerinnen auf Änderung des Beschlusses des Gerichts vom 02.08.2016 - A 4 K
2221/16 - und auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen - A 4 K 2220/16 - gegen den
Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 23.06.2016 sind bereits
unzulässig (1.), jedenfalls aber, auch bei unterstellter Zulässigkeit, unbegründet (2.).
3
1.
Die Unzulässigkeit der von den Antragstellerinnen gestellten Anträge nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO -
nach bereits erfolgte Ablehnung von Anträgen nach § 80 Abs. 5 VwGO im Beschluss vom 02.08.2016
(
a.a.O.) scheidet ein erneuter von den Antragstellerinnen ausdrücklich gestellter Antrag nach § 80 Abs. 5
VwGO von vornherein aus - ergibt sich daraus, dass Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung von Klagen gegen Abschiebungsandrohungen in Fällen, in denen der Asylantrag als
offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG innerhalb einer Woche
nach Bekanntgabe der Abschiebungsdrohung zu stellen sind. Verspätet gestellte Anträge sind, unabhängig
von ihrem materiellen Gehalt, als unzulässig abzulehnen. Diese Rechtsfolge kann nicht dadurch umgangen
werden, dass ein Antragsteller nach erstmaliger Ablehnung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO und nach
Ablauf der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG einen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO stellt, den
er mit neuen, vermeintlich veränderten Umständen begründet. Soweit ihn ein Verschulden dabei trifft, dass
er die betreffenden Umstände nicht bereits im (ersten) Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO geltend gemacht
hat, ergibt sich die Unzulässigkeit seines Antrags unmittelbar aus § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO (
vgl. Funke-
Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum AsylG, Stand: Oktober 2016, Bd. 3, § 36 RdNr. 19; Bostedt, in:
Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, II-VwGO, § 80 RdNr. 191). Davon, das heißt von
der Verschuldensfrage, kann die Zulässigkeit jedoch nicht abhängen, da ein nach Ablauf der Wochenfrist
gestellter Antrag gemäß § 80 Abs. 5, § 36 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch dann unzulässig ist, wenn die ihn
tragenden Umstände (z. B. ein so gen. Nachfluchtgrund oder eine Erkrankung) erst nach Ablauf der
Wochenfrist bekannt werden. Wenn aber ein erstmaliger Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen
Versäumung der Frist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG unzulässig wäre, kann ein mit derselben Begründung
gestellter Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO nicht allein deshalb zulässig sein, weil zuvor erfolglos ein
(unzulässiger oder unbegründeter) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt worden ist, da andernfalls die
Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG beliebig umgangen werden könnte bzw. leerliefe. Ob die Anträge
der (nicht anwaltlich vertretenen) Antragstellerinnen hiernach umgedeutet werden können in Anträge, die
darauf gerichtet sind, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu
verpflichten, vorläufig ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen, kann hier
dahingestellt bleiben, weil sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, dass die Voraussetzungen
hierfür nicht vorliegen (
vgl. hierzu und zur teilweise anderen Auffassung über die Zulässigkeit von Anträgen
nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO in Fällen von Asylanträgen, die als offensichtlich unbegründet abgelehnt
wurden, Funke-Kaiser, a.a.O., § 36 RdNrn. 18 ff.).
4
2.
Aber auch wenn man von der Zulässigkeit der von den Antragstellerinnen gestellten Anträge absähe,
können sie aus materiellen Gründen keinen Erfolg haben. Auch die neuerlichen, am 12.10.2016 gestellten
Anträge vermögen nichts daran zu ändern, dass das Begehren der Antragstellerinnen auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen aus den im Beschluss des Gerichts vom 02.08.2016 (
a.a.O.) genannten
Gründen keinen Erfolg haben kann. Das gilt ohne Weiteres für die Antragstellerinnen Ziff. 1, 3 und 4, weil
für sie gar nichts Neues vorgetragen worden ist, aber im Ergebnis auch für die Antragstellerin Ziff. 2, deren
Antrag nach dem neuerlichen Vorbringen sachdienlich darauf gerichtet ist, bei ihr ein Abschiebungsverbot
nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen der Gefahr der Verschlimmerung einer Krankheit im Fall ihrer Rückkehr
nach Albanien festzustellen. Die Voraussetzungen für eine solche Feststellung liegen jedoch nicht vor.
5 Soweit für ihre Person in der fachärztlichen Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie Dr. … vom 10.10.2016 ausgeführt ist, dass bei ihr von einer Posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) auszugehen sei, ist vorab zu bemerken, dass von einer wie auch immer gearteten
psychischen Erkrankung der Antragstellerin Ziff. 2 und einem daraus folgenden Verbot der Rückkehr in ihren
Heimatstaat Albanien bislang - und zwar weder in der Anhörung der Antragstellerin Ziff. 1, der Mutter der
Antragstellerin Ziff. 2, durch das Bundesamt noch im Lauf der bisherigen gerichtlichen Eil- und
Hauptsacheverfahren - mit keinem Wort die Rede war. Dies ist wenig verständlich, wenn in der oben gen.
fachärztlichen Stellungnahme bescheinigt wird, dass die Antragstellerin Ziff. 2 sich bereits am 10.08.2016 in
der kinder- und jugendärztlichen Praxis vorgestellt habe und bereits sechs diagnostische Termine
stattgefunden hätten.
6 Des Weiteren ist die Diagnose einer PTBS, die im Übrigen mit den Worten „bei dem Mädchen ist von einer
Posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen“ äußerst vage gehalten ist und danach eher den
Charakter einer vorläufigen Einschätzung als einer eindeutigen Diagnose hat, angesichts der in der
fachärztlichen Stellungnahme beschriebenen Erlebnisse nicht haltbar. Nach allen Klassifikations- bzw.
Diagnosesystemen setzt die Diagnose einer PTBS als objektives Kriterium zwingend - nach ICD-10 - ein
Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß bzw. - nach
DSM-IV - die Konfrontation mit einem Ereignis voraus, das lebensbedrohlich war oder eine schwere
Verletzung oder Bedrohung der physischen Integrität der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltete
(
siehe u. a. aktuell: OVG NRW, Beschluss vom 03.11.2016 - 3 A 2648/15.A -, juris, m.w.N.). Es ist unter
Fachleuten der Psychotraumatologie anerkannt, dass ein traumatisches Ereignis/Erlebnis (zwingende)
Voraussetzung für die Entwicklung einer PTBS ist, oder anders ausgedrückt, dass ohne das Vorliegen eines
Traumas die Diagnose einer PTBS nicht gestellt werden kann (
vgl. Foerster/Leonhardt, in: Der medizinische
Sachverständige, 99. Jahrgang, Heft 5, Sept./Okt. 2003, S. 146 ff. [147, 150 und 151] m.w.N.; ebenso
Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylerfahren, VBlBW 2004, S. 41 ff.).
Insbesondere kann nicht aus dem Vorliegen von PTBS-typischen Symptomen auf das Vorliegen einer PTBS
geschlossen werden, wie das in der von den Antragstellern vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme
mehrfach geschieht. Vielmehr treten solche Symptome auch im Rahmen anderer psychischer Erkrankungen,
wie zum Beispiel bei depressiven Episoden sowie unspezifischen Angst- und Anpassungsstörungen, auf
(
Ebert/Kindt, a.a.O., S. 42, 43 und 44). Auf das Vorliegen dieses objektiven Kriteriums für das Vorliegen einer
PTBS kann danach nicht verzichtet werden. Eine Traumatisierung kann nicht allein aus dem subjektiven
Erleben eines traumatisierenden Ereignisses begründet werden. Vielmehr muss das subjektiv erlebte Maß an
Bedrohung mit dem Ausmaß an objektiver Bedrohung korrespondieren. Die objektive und subjektive
Ereignisschwere müssen gewissermaßen im Gleichgewicht sein, um eine Traumatisierung annehmen zu
können. Wenn diese Gleichgewichtigkeit fehlt, kann keine PTBS diagnostiziert werden (
Foerster/Leonhardt,
a.a.O., S. 151). Deshalb muss das traumatisierende Ereignis auch das erforderliche Maß an Schwere bzw.
Bedrohung beinhalten, wie das zum Beispiel für Folter, Vergewaltigung, KZ-Haft, Geiselnahme und
Naturkatastrophen anerkannt ist; nicht jede Form belastender Lebensereignisse weist das erforderliche
Gewicht auf (
Schnyder, in: Der medizinische Sachverständige, 99. Jahrgang, Heft 5, Sept./Okt. 2003, S. 142
ff. [142]; Foerster/Leonhardt, a.a.O., S. 147, 148, 150 und 151; vgl. VG Freiburg, Urteile vom 22.07.2007 - 4
K 986/05 -, juris, vom 11.03.2004 - A 4 K 11993/02 - und vom 10.12.2003, NVwZ-RR 2005, 64, sowie
Beschluss vom 14.01.2004 - A 4 K 11635/03 -; siehe auch OVG NRW, Beschluss vom 03.11.2016, a.a.O.).
Eine psychische Erkrankung ohne das Vorliegen eines Traumas im zuvor beschriebenen Sinn kann, ohne dass
dies einer sachverständigen Klärung bedürfte, nicht mit dem Prädikat „posttraumatisch“ versehen werden
(
zur wesentlichen Bedeutung eines tatsächlich erlebten Traumas für Erkrankungen dieser Art vgl.
Ebert/Kindt, a.a.O., S. 42 und 43; zur häufigen Fehldiagnose einer PTBS vgl. auch Dörner, in: Der Spiegel,
Heft 13/2005, S. 154). Ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis im Sinne von ICD-10 oder DSM-IV
stattgefunden hat und wie dieses geartet war, kann weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln
noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden. Das heißt, der objektive Ereignisaspekt kann
nicht Gegenstand eines psychiatrisch-psychotherapeutischen Sachverständigengutachtens sein. Vielmehr ist
das Vorhandensein eines objektiv traumatisierenden Ereignisses eine Vorbedingung für eine solche
Begutachtung. Ob ein solches Ereignis stattgefunden hat und ob es in objektiver Hinsicht die Qualität eines
Traumas hat, wie es für die Annahme einer psychischen Erkrankung im oben genannten Sinne erforderlich
ist, kann mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln nicht sicher erschlossen werden. Vielmehr kann
diese Frage von einem Gericht (ebenso gut) beurteilt werden (wie von einem Sachverständigen) (
so
Foerster/Leonhart, a.a.O., S. 151 f.; nach Ebert/Kindt, a.a.O., S. 43, setzt die Diagnose einer PTBS in
Asylverfahren sogar voraus, dass das Gericht dem [medizinischen bzw. psychologischen] Sachverständigen
mitteilt, ob und, wenn ja, von welchem traumatisierenden Ereignis er auszugehen hat; vgl. hierzu auch VGH
Bad.-Württ., Beschluss vom 20.10.2006, AuAS 2007, 8; VG Freiburg, Urteile vom 22.07.2007, vom
11.03.2004 und vom 10.12.2003 sowie Beschluss vom 14.01.2004, jew. a.a.O.).
7 Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze genügt die vorgelegte fachärztliche Stellungnahme nicht den
Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer PTBS, die, genau genommen, dort ja auch nicht ausdrücklich
diagnostiziert wird. Denn die dort geschilderten Erlebnisse der Antragstellerin Ziff. 2 beschränken sich in
dürren Worten auf eine gewaltsame Trennung von der Mutter seit frühester Kindheit, für die es nach dem
Vortrag der Antragstellerin Ziff. 1 bei ihrer Bundesamtsanhörung keinen Anhaltspunkt gibt, die sogar in
gewisser Weise in Widerspruch zu diesen Angaben steht, sowie von Gewalt der väterlichen Verwandtschaft
gegenüber der Mutter, der Antragstellerin Ziff. 1, von der die Antragstellerin Ziff. 1 in ihrer
Bundesamtsanhörung ebenfalls gar nicht berichtet hat und über die sie, die Antragstellerin Ziff. 1, erstmals
in ihrem nachgereichten, offenkundig von einem Dritten verfassten Schreiben an das Bundesamt vom
13.06.2016 in der Form berichtet hat, dass es einen Vorfall gegeben habe, bei dem der Schwager sie, die
Antragstellerin Ziff. 1, in Gegenwart der Antragstellerin Ziff. 2 geschlagen, getreten und an den Haaren
gezogen habe. Diese Erlebnisse erfüllen nach den zuvor dargestellten Grundsätzen nicht die
Voraussetzungen für die Annahme eines Traumas als Voraussetzung für die Annahme einer PTBS.
8 Aber selbst wenn man vom Vorliegen einer PTBS bei der Antragstellerin Ziff. 2 ausginge, ergibt sich aus dem
Kontext der vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme, dass eine Retraumatisierung und Verschlimmerung
der Krankheit, wie für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG erforderlich,
von der Annahme abhängt, dass die Antragstellerin Ziff. 2 in ihrem Heimatland ernstlich der Gefahr
ausgesetzt ist, von ihrer Mutter getrennt zu werden. Für diese Annahme fehlt es jedoch aus den im
Beschluss des Gerichts vom 02.08.2016 (
a.a.O.) dargelegten Gründen an den tatsächlichen Grundlagen.
Vielmehr ist es der Antragstellerin Ziff. 1 nach ihren eigenen Angaben mit Hilfe der albanischen Justiz und
der Polizei bislang gelungen, die Versuche der Familie ihres verstorbenen Mannes, sich des in ihrem
Eigentum stehenden Hauses zu bemächtigten und ihr die Tochter wegzunehmen, abzuwehren. Es gibt keine
Anzeichen dafür, dass ihr dieser Schutz zukünftig verweigert würde.
9 Bei dieser Sach- und Rechtslage bedarf es keiner vertiefenden Ausführungen zu der in der Rechtsprechung
überwiegend vertretenen Annahme, dass eine PTBS auch in Albanien adäquat, wenngleich nicht auf dem
Niveau wie in Deutschland, behandelt werden kann (
vgl. hierzu u. a. VG Düsseldorf, Urteil vom 06.07.2016
- 17 K 6384/16.A -, juris, m.w.N.).
10 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus den §§ 154 Abs. 1 und 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100
Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Asylverfahren nicht erhoben (
§ 83b
AsylVfG).
11 Der Beschluss ist unanfechtbar (
§ 80 AsylVfG).