Urteil des VG Freiburg vom 29.01.2014

aufschiebende wirkung, ungarn, mitgliedstaat, asylbewerber

VG Freiburg Beschluß vom 29.1.2014, A 3 K 2631/13
"Dublin II-Verfahren; Überstellung eines Asylbewerbers nach Ungarn
Leitsätze
Im Hinblick auf die für Dublin - II - Rückkehrer in Ungarn bestehende Gefahr der
Verhängung einer bis zu 6 Monate andauernden Asylhaft ist derzeit die
aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a
AsylVfG grundsätzlich anzuordnen.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage - A 3 K 2630/13 - gegen den Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 04.12.2013 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines
Rechtsanwalts wird abgelehnt.
Gründe
1 Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage - A 3 K 2630/13
- gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge -
Bundesamt - vom 04.12.2013 und die darin enthaltene Abschiebungsanordnung
ist gem. §§ 75, 34a Abs. 2 AsylVfG i. d. F. des Gesetzes vom 28.08.2013 (BGBl. I,
S. 3474) i.V.m. § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO statthaft und auch sonst
zulässig.
2 Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zum
Abschluss des Hauptsacheverfahrens von der Vollziehung der
Abschiebungsanordnung verschont zu bleiben, überwiegt das kraft Gesetzes
bestehende öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen
Bescheids (vgl. VG Trier, Beschl. v. 18.09.2013 - 5 L 1234/13.TR -, juris, wonach §
36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG in den Fällen des § 34 a Abs. 2 AsylVfG keine
Anwendung findet). Nach der im vorliegenden Verfahren allein gebotenen
summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage sind die Erfolgsaussichten der
Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 04.12.2013 jedenfalls als offen
anzusehen. Angesichts der nicht auszuschließenden Gefahr, dass die
Antragsteller nach einer Rückführung nach Ungarn einer menschenunwürdigen
Behandlung ausgesetzt wären, hat das Interesse der Antragsgegnerin, die
Antragsteller sofort nach Ungarn zurückzuführen, zurückzutreten.
3 Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 AsylVfG. Nach
Satz 1 dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen
sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen
Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Antragsteller
sollen in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a
AsylVfG) abgeschoben werden. Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig,
wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen
Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständig ist. Ungarn, das Zielstaat der vorliegenden
Abschiebungsanordnung ist, ist nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des
Rates vom 18.02.2003 (ABl. L 50 v. 25.02.2003) - sog. Dublin-II-VO - für die
Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller zuständig, nachdem sie dort im
Juli 2013 Asylanträge gestellt haben und eigenen Angaben zufolge daraufhin über
Österreich und Frankreich nach Deutschland weitergereist sind. Die Bestimmung
des zuständigen Mitgliedstaats richtet sich nicht nach der Nachfolgeverordnung
zur Dublin-II-VO, der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 26.06.2013 (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 31) - sog. Dublin-
III-VO -, denn gem. Art. 49 Satz 3 Dublin-III-VO erfolgt die Bestimmung des
zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien der Dublin-II-VO, wenn - wie im
vorliegenden Fall - ein Antrag auf internationalen Schutz vor dem 01.01.2014
gestellt wurde.
4 Ungarn hat seine aus Art. 10 Abs. 1, Art. 13 Dublin-II-VO folgende Zuständigkeit
anerkannt und der Wiederaufnahme der Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 c Dublin-
II-VO mit Schreiben vom 11.11.2013 zugestimmt.
5 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union - EuGH -
(vgl. Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 -, NVwZ 2012, 417; Urt. v.
14.11.2013 - C-4/11 -, juris) ist grundsätzlich von einer Vermutung dahingehend
auszugehen, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen
Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta, der
Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) steht. Der EuGH führt aber weiter aus, es könne nicht ausgeschlossen
werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in
einem Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr bestehe, dass
Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise
behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Falls ernsthaft zu
befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für
Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufwiesen, die
eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat
überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Grundrechte-Charta implizierten,
so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. Art. 4 der
Grundrechte-Charta sei dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten
einschließlich der nationalen Gerichte obliege, einen Asylbewerber nicht an den
„zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Dublin-II-VO zu überstellen, wenn ihnen
nicht unbekannt sein könne, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens
und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat
ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten,
dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.
Sei die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat nach
alledem nicht möglich, so habe der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen
müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-
VO selbst zu prüfen (Selbsteintrittsrecht), die Prüfung der Kriterien des genannten
Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren Kriterien ein
anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt
werden könne (vgl. nun auch Erwägungsgrund 8 sowie Art. 3 Abs. 2 2.
Unterabsatz Dublin-III-VO).
6 Nach der im vorliegenden Verfahren allein gebotenen summarischen Prüfung
liegen hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens in
Ungarn vor, die geeignet sind, die oben beschriebene Vermutung zu widerlegen.
Zwar führte das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen UNHCR in
einem Bericht vom Dezember 2012 aus, das ungarische Parlament habe im
November 2012 umfassende Gesetzesänderungen verabschiedet, denen zufolge
Asylbewerber nicht ohne sachliche Prüfung des Asylantrags nach Serbien oder in
die Ukraine abgeschoben und nicht inhaftiert würden, wenn sie den Asylantrag
unverzüglich nach der Einreise einreichten. Dublin-Rückkehrer würden nicht
inhaftiert und erhielten die Möglichkeit, ein noch nicht in der Sache geprüftes
Asylverfahren zu Ende zu bringen. Darauf beruhend ging der
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (vgl. Beschl. v. 06.08.2013 - 12 S
675/13 -, InfAuslR 2014, 29) davon aus, es sei nicht (mehr) ernsthaft zu
befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für
Asylsuchende in Ungarn systemische Mängel aufwiesen, die eine unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung der dorthin überstellten Asylbewerber erwarten
ließen (vgl. auch EGMR, Urt. v. 06.06.2013 - 2283/12 -).
7 Inzwischen ist aber - jedenfalls was die Frage der Inhaftierung von Asylbewerbern
angeht - eine Änderung eingetreten. Denn zum 01.07.2013 ist nach dem
ungarischen Asylgesetz die Verhängung von sog. Asylhaft möglich (vgl. Pro Asyl
vom Oktober 2013: „Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit“, S. 8
ff.). In Anlehnung an die EU-Aufnahmerichtlinie wurde eine neue Form der Haft für
Asylsuchende eingeführt, die sich rechtlich gesehen von Abschiebungshaft
unterscheidet und bis zu sechs Monate dauern kann. Als Haftgründe sind dem
Schriftsatz des Bundesamts vom 08.01.2014 u. a. aufgeführt,
8
- dass sich der Antragsteller vor der Behörde versteckt hat oder die Durchführung
des Asylverfahrens auf andere Art und Weise behindert oder
- eine begründete Annahme besteht, dass der Antragsteller die Durchführung des
Asylverfahrens verzögert oder vereitelt bzw. Fluchtgefahr besteht, zwecks
Feststellung der erforderlichen Daten zur Durchführung des Asylverfahrens, oder
- der Antragsteller der ihm vorgeschriebenen Erscheinungspflicht nach
Aufforderung nicht nachgekommen ist und damit die Durchführung des Dublin-
Verfahrens behindert.
9 Pro Asyl (a.a.O., S. 10) hat sich nicht in der Lage gesehen zu beurteilen, ob
aufgrund dieser neuen Gesetzeslage tatsächlich mit einer Inhaftierung von Dublin-
II-Rückkehrern zu rechnen sei. Allerdings hat es zu Recht zu bedenken gegeben,
dass Dublin-II-Rückkehrer (zumindest wenn sie sich - wie auch die Antragsteller -
noch in einem laufenden Verfahren befinden) das Inhaftierungskriterium des
„Untertauchens“ bzw. der „Behinderung/der Verzögerung des Asylverfahrens“
erwiesenermaßen erfüllt haben. Nach dem - soweit ersichtlich nur in englischer
Sprache verfügbaren - Bericht der Arbeitsgruppe über willkürliche Inhaftierungen
des „United Nations Human Rights Office of the High Comissioner“ über einen
Besuch in Ungarn vom 23.09. bis 02.10.2013 (siehe unter http:
//www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?
NewsID=13816&Lang/D=E) spricht auch viel dafür, dass die Inhaftierungspraxis
(auch) bei Asylbewerbern mit erheblichen Mängeln behaftet ist. Die Arbeitsgruppe
erkennt zwar die erheblichen Schwierigkeiten an, die sich aus dem starken Anstieg
der Asylbewerberzahlen in Ungarn ergeben. Nachdem im Jahr 2012 2157
Asylanträge registriert worden waren, schätzt die Arbeitsgruppe die Zahl im Jahr
2013 auf 15.000. Sie erkennt auch positive Verbesserungen in der
Gesetzesänderung ab Juli 2013 an. Gleichwohl stellt es eine signifikante
Konzentration auf die Inhaftierung von Asylbewerbern fest, die besorgniserregend
sei, und berichtet von vielen Bedenken wegen Verletzung der Rechte trotz der
neuen Gesetzeslage. Auch ist die Rede von einem System der Verlängerung der
Haft ohne angemessene Berücksichtigung der Eingaben des Rechtsanwalts und
der individuellen Verhältnisse des Häftlings. Haft solle nicht das allgemeine und
erste Mittel sein. Die Arbeitsgruppe kritisiert auch fehlende effektive
Rechtsschutzmöglichkeiten und mahnt solide Verbesserungen an. Ein
abschließender Bericht wurde für das Jahr 2014 zugesagt. Damit bestehen
erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass Ungarn zu der von UNHCR im April 2012
(UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht vom April 2012 zur Situation für
Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn) festgestellten systematischen
Inhaftierung von Asylsuchenden zurückgekehrt ist.
10 Angesichts dieses Berichts sind die Erfolgsaussichten der Klage jedenfalls als
offen anzusehen. Eine eingehendere Prüfung muss dem Hauptsacheverfahren
vorbehalten bleiben. Eine Rückführung der Antragsteller mit der Gefahr einer
Inhaftierung zumindest des Antragstellers Ziff. 1 über mehrere Monate hinweg
erscheint nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis nicht hinnehmbar (ebenso
VG München, Beschl. v. 28.10.2013 - M 23 S 13.31082 -, InfAuslR 2014, 33; VG
Frankfurt/Oder, Beschl. v. 24.07.2013 - VG 1 L 213/13.A -; a. A. etwa VGH Bad.-
Württ., Beschl. v. 06.08.2013, a.a.O.; VG Augsburg, Beschl. v. 05.12.2013 - Au 7 S
13.30454 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 05.11.2013 - 18 L 2122/13.A -, sowie in
Hauptsacheverfahren OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 31.05.2013 - 4 L 169/12 -
und VG Hannover, Urt. v. 07.11.2013 - 2 A 4696/12 -, jeweils zitiert nach juris).
11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
nicht erhoben (§ 83 b AsylVfG).
12 Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines
Rechtsanwalts war abzulehnen, da aufgrund des vorliegenden (unanfechtbaren)
Beschlusses die Antragsgegnerin verpflichtet ist, die außergerichtlichen Kosten der
Antragsteller zu tragen. Das Rechtsschutzbedürfnis für den
Prozesskostenhilfeantrag ist dadurch entfallen.
13 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).