Urteil des VG Freiburg vom 26.06.2014

krasses missverhältnis, überzeugung, form, entlassung

VG Freiburg Urteil vom 26.6.2014, 4 K 708/14
Nachweis der Sprachkenntnis im Einbürgerungsverfahren
Leitsätze
Legt ein Einbürgerungsbewerber ein Zertifikat einer zertifizierten Sprachschule vor,
wonach er die Sprachprüfung zum Zertifikat B1 Deutsch bestanden hat, entfaltet das
Zertifikat Indizwirkung dafür, dass der Kläger die Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz
1 Nr. 6, Abs. 4 StAG erfüllt. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn aufgrund konkreter
Umstände Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die tatsächlichen Sprachkenntnisse
des Einbürgerungsbewerbers hinter dem Niveau B1 zurückbleiben. In diesem Fall hat
das Verwaltungsgericht sich im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes in der
mündlichen Verhandlung einen eigenen Eindruck von den Sprachkenntnissen des
Einbürgerungsbewerbers zu verschaffen.
Tenor
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger für den Fall seiner Entlassung aus der
türkischen Staatsangehörigkeit die Einbürgerung als deutscher Staatsangehöriger
zuzusichern. Der Bescheid des Landratsamts XXX vom 12.11.2013 und der
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums YYY vom 10.03.2014 werden
aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt ¾, der Kläger ¼ der Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
2 Der Kläger ist ein am … 1969 geborener türkischer Staatsangehöriger. Er hält sich
seit Anfang 1991 im Bundesgebiet auf und ist derzeit im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 AufenthG.
3 Unter dem 01.12.2012 stellte der Kläger beim Landratsamt XXX Antrag auf
Einbürgerung gemäß § 10 StAG. Seinem Antrag beigefügt hatte der Kläger u.a.
eine Bescheinigung der HHH Sprachschule GmbH vom 27.04.2012, wonach der
Kläger das Zertifikat telc Deutsch der Stufe B1 mit der Gesamtnote 3 erworben hat.
4 Unter dem 09.01.2013 wurde die HHH Sprachschule durch das Landratsamt XXX
um Bestätigung gebeten, dass der Kläger tatsächlich an der Prüfung
teilgenommen habe; Hintergrund der Anfrage waren die laut Landratsamt
bestehenden Schwierigkeiten bei der Verständigung mit dem Kläger. Die
Sprachschule bestätigte die Teilnahme des Klägers an der Prüfung sowie seine
mündliche Ausdrucksfähigkeit, die mit Sicherheit dem Niveau B1 entspreche.
5 Am 15.05.2013 sprach der Kläger zur Überprüfung seiner deutschen
Sprachkenntnisse im Beisein von zwei Mitarbeiterinnen der Einbürgerungsbehörde
beim Landratsamt XXX vor. Laut Aktenvermerk hat der Kläger den Inhalt eines
Zeitungsartikels, der ihm zum Lesen gegeben worden war, „… mit seinen Worten
wiedergegeben, d.h. er hat den Inhalt verstanden. Als wir ihn gebeten haben, zwei
Sätze dazu zu schreiben, wusste er nicht wie er das machen sollte. Auch die
Sätze, die wir ihm diktiert haben, konnte er nur schwer lesbar schreiben. Hr. Y. hat
uns erklärt, dass er bei der Sprachprüfung einen Beispielbrief erhalten hat und
musste dann nur einzelne Wörter bzw. Namen umändern. Sätze selbständig
formulieren und aufschreiben musste er nicht.“ Der Bitte des Landratsamts, erneut
einen Sprachtest abzulegen, kam der Kläger unter Verweis darauf, dass er den
Sprachtest erfolgreich abgeschlossen habe, nicht nach.
6 Die HHH Sprachschule erklärte auf Anfrage durch den Beklagten, dass neben
einem Lückentest, der Bestandteil des Subtests „Sprachbausteine“ sei, die
Prüfung auch den Subtest „Schreiben“ beinhalte, bei dem ein Thema unter
Berücksichtigung von vier Leitpunkten frei bearbeitet werden müsse. Weitere
Korrespondenz ergab, dass die den Kläger betreffenden Prüfungsunterlagen nicht
mehr eingesehen werden konnten.
7 Mit Bescheid vom 12.11.2013 lehnte das Landratsamt XXX den Antrag des
Klägers auf Einbürgerung ab. Ein Einbürgerungsanspruch setze u.a. gemäß § 10
Abs. 1 Nr. 6 StAG voraus, dass der Betreffende über ausreichende Kenntnisse der
deutschen Sprache verfüge, was nach § 10 Abs. 4 StAG der Fall sei, wenn der
Ausländer die Anforderungen der Sprachprüfung zum Zertifikat in mündlicher und
schriftlicher Form erfülle. Der Kläger habe zwar ein entsprechendes Zertifikat
vorgelegt, die Feststellungen hätten jedoch ergeben, dass die Anforderungen der
Sprachprüfung nicht erfüllt seien. Der Kläger spreche schlecht Deutsch und erfülle
auch die Anforderungen der Sprachprüfung in schriftlicher Form nicht. Der
Einbürgerungsantrag sei daher mangels Vorliegens der gesetzlichen
Tatbestandsvoraussetzungen abzulehnen. Auch auf Grundlage von § 8 StAG sei
eine Einbürgerung nicht möglich, denn nach 8.1.2.1.2 VwV StAG seien auch hier
ausreichende Sprachkenntnisse nötig, die jedoch nicht vorlägen.
8 Der Kläger legte am 27.11.2013 Widerspruch ein. Er sei ohne Schwierigkeiten in
der Lage, mit seinem Prozessbevollmächtigten zu telefonieren und sich dabei
sprachlich verständlich auszudrücken; an der ordnungsgemäßen Durchführung
der Prüfung bestünden daher keine Zweifel.
9 Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums
YYY vom 10.03.2014 zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf
Einbürgerung nach § 10 StAG, da er jedenfalls nicht über ausreichende
Kenntnisse der deutschen Sprache verfüge. Regelmäßig würden diese zwar
entsprechend § 10 Abs. 4 StAG nachgewiesen, die Verbindlichkeit eines
vorgelegten Zeugnisses bestehe jedoch dann nicht mehr, wenn aufgrund
konkreter Anhaltspunkte ernsthafte Zweifel am Vorliegen ausreichender
Deutschkenntnisse aufträten und nach den Feststellungen der
Einbürgerungsbehörde ein krasses Missverhältnis zwischen den bescheinigten
und den tatsächlich vorhandenen Deutschkenntnissen bestehe. Bei der
Vorsprache bei der Einbürgerungsbehörde habe der Kläger das Gelesene nicht in
eigenen Worten niederschreiben und auch ein Diktat nur schwer lesbar schreiben
können. Nach den Angaben des Klägers habe er lediglich einen Lückentest
bearbeiten müssen, dagegen habe er nicht selbständig einen Text verfassen
müssen. Es bestünden daher Zweifel am ordnungsgemäßen Zustandekommen
des Prüfungsergebnisses. Die Gelegenheit, den Sprachtest zu wiederholen, habe
der Kläger nicht wahrgenommen. Der Kläger erfülle auch nicht die
Voraussetzungen einer Ermessenseinbürgerung gemäß § 8 StAG. Grundsätzlich
würden hierfür die gleichen Sprachanforderungen gestellt wie für die
Anspruchseinbürgerung.
10 Der Kläger hat am 17.03.2014 Klage erhoben. Er habe mit dem Zertifikat der HHH-
Sprachschule vom 27.04.2012 nachgewiesen, dass er tatsächlich über die für das
europäische Sprachenzertifikat Deutsch B1 erforderlichen deutschen
Sprachkenntnisse verfüge. Die Sprachprüfung sei ordnungsgemäß zustande
gekommen und habe den rechtlichen Anforderungen entsprochen. Es lägen keine
Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bei der Prüfung vom 27.04.2012 nicht die
für den Erwerb des Zertifikats B1 erforderlichen mündlichen und schriftlichen
Kenntnisse der deutschen Sprache gehabt habe. Bezüglich der eigenen
Schreibkenntnisse sei es nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts erforderlich, aber auch ausreichend, dass der
Bewerber deutschsprachige Texte des täglichen Lebens lesen und diktieren sowie
das von Dritten Geschriebene auf seine Richtigkeit überprüfen könne. Gemessen
an diesem Maßstab trage auch der Beklagte keine Anhaltspunkte dafür vor, der
Kläger verfüge nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache. Der
Kläger müsse weder einen Text in eigenen Worten niederschreiben noch Diktate
schreiben können.
11 Der Kläger beantragt,
12 den Bescheid des Landratsamts XXX vom 12.11.2013 und den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums YYY vom 10.03.2014
aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Kläger in den deutschen
Staatsverband einzubürgern;
hilfsweise, dem Kläger für den Fall seiner Entlassung aus der türkischen
Staatsangehörigkeit die Einbürgerung als deutscher Staatsangehöriger
zuzusichern.
13 Der Beklagte beantragt,
14 die Klage abzuweisen.
15 Zur Begründung wird auf die ergangenen Bescheide verwiesen und ergänzend
vorgetragen, dass die vom Klägervertreter zitierten Urteile vor der Änderung des
Staatsangehörigkeitsgesetzes ergangen seien.
16 Dem Gericht haben die einschlägigen Verwaltungsakten sowie die
Widerspruchsakten des Regierungspräsidiums YYY (jew. 1 Bd.) vorgelegen.
Hierauf sowie auf die Gerichtsakten wird wegen der weiteren Einzelheiten
verwiesen.
Entscheidungsgründe
17 Die als Verpflichtungsklage gemäß §§ 40, 42, 68 ff. VwGO zulässige Klage hat in
dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Bescheid des Landratsamts
XXX vom 12.11.2013 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums
YYY vom 10.03.2014 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen
Rechten (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO), weil er in dem für die Beurteilung der Sach- und
Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 08.05.2013, InfAuslR 2013, 343) Anspruch zwar nicht auf
Einbürgerung, aber auf die Erteilung einer Einbürgerungszusicherung hat.
A.
18 Einem Anspruch des Klägers auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband
steht die Vorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG entgegen. Danach ist
Voraussetzung für eine Einbürgerung, dass der Ausländer seine bisherige
Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert. Dies ist beim Kläger nicht der Fall, da er
im Besitz der türkischen Staatsangehörigkeit ist. Türkische Staatsangehörige
verlieren mit der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband nicht automatisch
ihre bisherige Staatsangehörigkeit. Der Kläger hat seine türkische
Staatsangehörigkeit bislang auch nicht aufgegeben. Für das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 Satz 1 StAG, wonach von der Voraussetzung
des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG abgesehen wird, wenn der Ausländer seine
bisherige Staatsangehörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen
Bedingungen aufgeben kann, fehlen jegliche Anhaltspunkte (vgl. dazu für den Fall
der Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit jüngst auch VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 22.01.2014 - 1 S 923/13 -, juris); auch der Kläger selbst trägt
keine Gründe vor, die ein Absehen vom Erfordernis des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
StAG rechtfertigen könnten.
B.
19 Der vom Kläger gestellte Hilfsantrag auf Erteilung einer Einbürgerungszusicherung
hat dagegen Erfolg.
I.
20 Die Einbürgerungszusicherung ist ein dem allgemeinen Verfahrensrecht (vgl. § 38
LVwVfG) entlehntes Institut, das in Einbürgerungsverfahren in ständiger Praxis auf
Fälle drohender Staatenlosigkeit oder Mehrstaatigkeit angewandt wird. Die
Erteilung einer Einbürgerungszusicherung steht grundsätzlich im Ermessen der
Behörde. Dieses Ermessen reduziert sich auf eine Pflicht zur Erteilung einer
Einbürgerungszusicherung, wenn beim Einbürgerungsbewerber bis auf die
Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit alle Voraussetzungen eines
Einbürgerungsanspruchs vorliegen und die Durchsetzung des
Einbürgerungsanspruchs durch eine solche Zusicherung ermöglicht oder doch
wesentlich erleichtert wird (VG Stuttgart, Beschluss vom 02.07.2013 - 11 K
1279/13 -, juris, m.w.N.).
II.
21 Der Kläger erfüllt - abgesehen vom Erfordernis der Aufgabe der türkischen
Staatsangehörigkeit - sämtliche Voraussetzungen für eine Einbürgerung nach § 10
StAG und hat daher Anspruch auf Erteilung einer Einbürgerungszusicherung.
22
1.
Vorliegend bestehen keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen von
Ausschlussgründen nach § 11 StAG. Ferner herrscht zwischen den Beteiligten
Einigkeit darüber, dass die meisten in § 10 StAG genannten Voraussetzungen
beim Kläger erfüllt sind. Streitig zwischen den Beteiligten ist allein die Frage,
inwieweit der Kläger die Anforderung von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG erfüllt.
Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG hängt der Anspruch auf Einbürgerung davon
ab, dass der Ausländer über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache
verfügt. Als Quasi-Legaldefinition regelt § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG, dass diese
ausreichenden Kenntnisse vorliegen, „wenn der Ausländer die Anforderungen der
Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch (B1 des Gemeinsamen Europäischen
Referenzrahmens für Sprachen) in mündlicher und schriftlicher Sprache erfüllt“.
23
2.
Das Gericht ist auf Grundlage der mündlichen Verhandlung der Überzeugung,
dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über die
für eine Einbürgerung erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.
24
2.1
Zu dieser Überzeugung ist das Gericht allerdings nicht allein auf Grundlage
des vom Kläger vorgelegten, von der HHH Sprachschule GmbH ausgestellten
Zertifikats Deutsch vom 27.04.2012 gelangt, wonach der Kläger die schriftliche
Prüfung mit 147 von 225 erreichbaren Punkten sowie in die mündliche Prüfung mit
71 von 75 Punkten abgeschlossen, den Test daher mit einem Gesamtergebnis
Note 3 bestanden und damit das Zertifikat telc Deutsch B1 erworben hat.
25
2.1.1
Denn nach Auffassung des Gerichts ist § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 4 StAG
nicht dahingehend zu verstehen, dass der Nachweis ausreichender
Sprachkenntnisse abschließend durch die Vorlage eines entsprechenden
Zertifikats erfolgt. Zwar indiziert ein derartiges Zertifikat das Vorliegen
entsprechender Sprachkenntnisse. Bestehen jedoch aufgrund der konkreten
Umstände Zweifel daran, ob die attestierten Fähigkeiten den tatsächlichen
entsprechen, kann von der Behörde bzw. vom Verwaltungsgericht ein materieller
Nachweis der sprachlichen Fähigkeiten des Einbürgerungsbewerbers gefordert
werden.
26 Die Konstellation, wie zu verfahren ist, wenn ein solches Zertifikat Deutsch zwar
tatsächlich im Einbürgerungsverfahren vorgelegt wird, aber objektiv der Eindruck
besteht, dass beim Bewerber keine ausreichenden Sprachkenntnisse vorliegen,
wird vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Nach dem Wortlaut des § 10 Abs. 4
Satz 1 StAG geht das Gesetz aber gerade nicht davon aus, die Vorlage eines
Zertifikats sei in jedem Fall gleichbedeutend mit der Erfüllung der Anforderung
ausreichender Sprachkenntnisse (vgl. zum Folgenden auch VG Stuttgart, Urteil
vom 19.07.2012 - 11 K 9/12 -, juris; VG Darmstadt, Urteil vom 07.07.2013 - 5 K
861/12.DA -, juris). Anders als in § 10 Abs. 3 Satz 1 StAG, in dem geregelt ist, dass
die erforderliche Voraufenthaltszeit von acht auf sieben Jahre verkürzt wird, wenn
der Einbürgerungsbewerber die erfolgreiche Teilnahme an einem Integrationskurs
„durch die Bescheinigung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge“
nachweist, hat der Gesetzgeber in § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG hinsichtlich der
Sprachanforderungen nämlich auf eine vergleichbare Regelung verzichtet und
stattdessen darauf abgestellt, dass der Einbürgerungsbewerber die Anforderungen
der Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch in mündlicher und schriftlicher Form
erfüllt. Das Abstellen auf die materielle Sprachkompetenz - „Anforderungen der
Sprachprüfung“ - anstelle des Formalerfordernisses eines Zertifikats ist zunächst
deswegen sinnvoll, weil Einbürgerungsbewerber, die - wie etwa Ausländer, die im
Bundesgebiet erfolgreich eine Schul- und Berufsausbildung durchlaufen haben -
offenkundig ausreichende Sprachkenntnisse aufweisen, nicht zur Teilnahme an
einer in ihrem Falle offenkundig überflüssigen Sprachprüfung angehalten werden
müssen. Aber auch im umgekehrten Fall tatsächlich unzureichender
Sprachkenntnisse trotz Vorliegens eines Zertifikats kann nichts anderes gelten:
Zwar haben vorgelegte Bescheinigungen zunächst Indizwirkung und lassen
regelmäßig den Schluss darauf zu, der Inhaber des Zertifikats verfüge tatsächlich
über die dort bescheinigten Kenntnisse. Letztlich ist jedoch allein entscheidend, ob
der Einbürgerungsbewerber die geforderten Sprachkenntnisse, nämlich die
Anforderungen, die die Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch Niveau B1 vorsieht,
vor der Behörde und ggf. dem Gericht vorweisen kann (VG Darmstadt, Urteil vom
07.07.2013, a.a.O.; VG Stuttgart, Urteil vom 19.07.2012, a.a.O.). Die fehlende
Bindungswirkung von Prüfungsbescheinigungen ist auch im Hinblick darauf
sachgerecht, dass es sich bei den Sprachschulen um private Anbieter handelt, die
unter erheblichem Konkurrenzdruck auf dem freien Markt um Teilnehmer, welche
den Anbieter frei auswählen dürfen, werben müssen. Auch wenn die Anbieter
abstrakt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zertifiziert werden, entzieht
sich die Durchführung der Prüfung im Einzelnen weitgehend der staatlichen
Kontrolle (VG Darmstadt, Urteil vom 07.07.2013, a.a.O.).
27
2.1.2
Vorliegend kommt die Indizwirkung des vorgelegten Zertifikats der HHH-
Sprachschule vom 27.04.2012, ausweislich dessen der Kläger über die für das
Niveau B1 erforderlichen Sprachkenntnisse verfügt, nicht zum Tragen.
28 Dahinstehen kann in diesem Zusammenhang, ob das Zertifikat bereits deshalb
nicht geeignet ist nachzuweisen, dass der Kläger die Anforderungen der
Sprachprüfung zum Zertifikat Deutsch in schriftlicher Sprache im Sinne von § 10
Abs. 4 StAG erfüllt, weil er im Prüfungsteil „schriftlicher Ausdruck“, dem einzigen
Prüfungsblock, in dem dem Prüfling selbständiges schriftliches Formulieren in
deutscher Sprache abverlangt wird, null Punkte erreicht hat. Denn ausweislich der
in den Akten vorhandenen Aktenvermerke der Einbürgerungsbehörde war die
Verständigung mit dem Kläger nur unter Schwierigkeiten möglich; der daraufhin am
15.05.2013 durchgeführte „Test“ ergab, dass der Kläger den ihm vorgelegten Text
zwar mündlich in eigenen Worten wiedergeben, jedoch nicht schriftlich
zusammenfassen und auch ein ihm gestelltes Diktat nur unter großen
Schwierigkeiten schreiben konnte.
29 Die Einbürgerungsbehörde hat, indem sie überprüfte, ob der Kläger sich schriftlich
selbständig ausdrücken kann, auch keine über die vom Gesetz gestellten
Anforderungen hinausgehenden Sprachkenntnisse verlangt. Soweit der
Klägervertreter auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG,
Urteil vom 20.10.2005 - 5 C 8.05 -, juris) und ihm nachfolgend der Instanzgerichte
verweist, wonach es nicht erforderlich sei, dass sich der Einbürgerungsbewerber
eigenhändig schriftlich ausdrücken könne, relativiert dies die Anforderungen an die
vom Kläger zu verlangenden Sprachkenntnisse nicht. Zwar hat das
Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2005 in der Tat entschieden, dass es
ausreichend sei, wenn ein Einbürgerungsbewerber, der selbst nicht deutsch
schreiben kann, deutschsprachige Texte des täglichen Lebens lesen und diktieren
sowie das von Dritten mit technischen Hilfsmitteln Geschriebene auf seine
Richtigkeit überprüfen und so die schriftliche Äußerung als seine „tragen“ könne;
gemessen an diesem Maßstab stellten sich die vom Beklagten gestellten
Anforderungen an die schriftliche Ausdrucksfähigkeit des Klägers anlässlich seiner
persönlichen Vorsprache tatsächlich als überzogen dar. Die vom Klägervertreter
zitierte Rechtsprechung ist jedoch auf Grundlage von § 10 Abs. 1 StAG in der bis
zum 28.08.2007 geltenden Fassung ergangen; seinerzeit enthielt § 10 StAG kein
Erfordernis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse im Sinne einer positiven
Anspruchsvoraussetzung, vielmehr war das Fehlen ausreichender
Deutschkenntnisse ein - von der Einbürgerungsbehörde darzulegender und ggf.
zu beweisender - Ausschlussgrund für einen Einbürgerungsanspruch (§ 11 Abs. 1
Nr. 1 StAG a.F.). Der gesetzlich nicht näher definierte Rechtsbegriff „ausreichender
Sprachkenntnisse“ wurde von Rechtsprechung und Literatur insbesondere im
Hinblick auf die Notwendigkeit schriftlicher Sprachkompetenz unterschiedlich
ausgelegt, wobei das Bundesverwaltungsgericht mit dem Erfordernis gewisser
grundlegender schriftlicher Kenntnisse der deutschen Sprache eine vermittelnde
Position einnahm (vgl. dazu ausführlich und m.w.N. GK-StAR, Stand 12/2013, IV- 2
§ 10 Rn. 308). Die 2007 in § 10 Abs. 4 Satz 1 StAG erfolgte Festlegung auf das
Sprachniveau Zertifikat Deutsch B1 „in mündlicher und schriftlicher Form“ korrigiert
diese Rechtsprechung, indem sie nunmehr verbindlich auch bestimmte
Grundkenntnisse der deutschen Schriftsprache verlangt; hiervon geht auch das
Bundesverwaltungsgericht aus (vgl. Urteil vom 27.05.2010 - 5 C 8/09 -, juris).
30 Bestanden mithin trotz des vorgelegten Zertifikats aufgrund des tatsächlichen
Auftretens des Klägers gegenüber den Mitarbeitern der Einbürgerungsbehörde
konkrete Zweifel an seinen Deutschkenntnissen, insbesondere was seine
schriftliche Ausdrucksfähigkeit angeht, war das Gericht aufgrund des insoweit
geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gehalten, sich
einen eigenen Eindruck von den Sprachkenntnissen des Klägers zu verschaffen.
31
2.2
Die Überprüfung der Sprachkenntnisse des Klägers in der mündlichen
Verhandlung ergab, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt das Kompetenzniveau
B1, wenn auch im Hinblick auf seine schriftliche Ausdrucksfähigkeit nur knapp,
erreicht.
32 Im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, auf den § 10 Abs.
4 StAG verweist, ist das Referenzniveau für B1 („selbständige
Sprachverwendung“) in Kapitel 3.3, Tabelle 1, wie folgt allgemein umschrieben:
„Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird
und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht. Kann die
meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet.
Kann sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und
persönliche Interessengebiete äußern. Kann über Erfahrungen und Ereignisse
berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und
Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben.“ Anschließend heißt es
im „Raster zur Selbstbeurteilung“ (Tabelle 2) im Zusammenhang mit den
Anforderungen ans Schreiben bei Niveau B1: „Ich kann über Themen, die mir
vertraut sind oder mich persönlich interessieren, einfache zusammenhängende
Texte schreiben. Ich kann persönliche Briefe schreiben und darin von Erfahrungen
und Eindrücken berichten“ (Quelle: http://www.goethe.de/z/50/commeuro/i3.htm).
33 Im Hinblick auf das Hörverstehen des Klägers, aber auch auf seine mündliche
Ausdrucksfähigkeit, hat die Kammer keine Zweifel daran, dass seine Kenntnisse
den für das Referenzniveau B1 aufgestellten Anforderungen entsprechen. Der
Kläger, der die ihm gestellten Fragen mühelos und ohne Nachfragen verstand,
konnte spontan, ohne viel zu stocken oder nach Worten suchen zu müssen und
überwiegend in ganzen, wenn auch einfach strukturierten Sätzen etwa seinen
beruflichen Werdegang bei der GGG und seinen beruflichen Alltag schildern,
begründen, weshalb er seinen Sprachtest gerade bei der HHH-Sprachschule
abgelegt hat, und von seiner Familie berichten. Trotz zahlreicher
grammatikalischer Fehler konnte er sich dabei verständlich ausdrücken.
34 Aber auch seine schriftlichen Kenntnisse der deutschen Sprache entsprechen zur
Überzeugung der Kammer, wenn auch knapp, im entscheidungserheblichen
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung den Anforderungen des B1-Niveaus. Die
Aufgabenstellung - er sollte sich vorstellen, morgens auf dem Weg zur Arbeit
bekomme er heftige Bauchschmerzen, so dass er beschließe, einen Arzt
aufzusuchen, fahre bis zu seiner Arbeitsstelle, treffe aber seinen Chef in dessen
Büro nicht an, und schreibe ihm nun einen Zettel, in dem er von seinen
Bauchschmerzen, dem Arztbesuch, seiner Vertretung und seinem Vorhaben, ihn,
den Chef, später anzurufen, berichten solle - verstand der Kläger ohne Nachfrage.
Er erfüllte die Aufgabe binnen weniger Minuten. Er schrieb zwar ohne jegliche
Interpunktion und mit zahlreichen grammatikalischen Fehlern. Es gelang ihm aber
dennoch, die relevanten Informationen so aufzuschreiben, dass sie von einem
Dritten hätten gelesen und verstanden werden können. Dabei beschränkte er sich
nicht auf einzelne unzusammenhängende Stichworte, sondern formulierte - wenn
auch fehlerhaft - zusammenhängende Sätze. Seine schriftliche Ausdrucksfähigkeit
erwies sich damit als deutlich verbessert gegenüber der beim Landratsamt
erbrachten Schriftprobe. Damit hat der Kläger zur Überzeugung der Kammer die
Anforderungen, die der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen
an das Sprachniveau B1 stellt, auch im Hinblick auf seine schriftlichen
Deutschkenntnisse erfüllt.
35 Die Kostenentscheidung beruht § 155 Abs. 1 VwGO.
36 Das Gericht sieht im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens davon ab, das
Urteil hinsichtlich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
37 Gründe, die Berufung durch das Verwaltungsgericht zuzulassen, bestehen nicht.