Urteil des VG Freiburg vom 10.01.2014

änderung der verhältnisse, uvg, eheliche gemeinschaft, häusliche gemeinschaft

VG Freiburg Beschluß vom 10.1.2014, 4 K 515/13
Unterhaltsvorschuss bei faktischem Getrenntleben der Ehegatten wegen
ausländerrechtlicher Zuzugsbeschränkungen
Leitsätze
Ein faktisches Getrenntleben von Ehegatten wegen ausländerrechtlicher
Zuzugsbeschränkungen stellt kein dauerndes Getrenntleben im Sinne von § 1 Abs. 1
Nr. 2 UVG dar.
Eine Analogie der 2. Alternative von § 1 Abs. 2 UVG bzw. eine erweiternde Auslegung
dieser Vorschrift auf Fälle der Zuzugsbeschränkung kommt nicht in Betracht.
Wenn dem Elternteil eines Berechtigten nach dem Unterhaltsvorschussgesetz von der
Behörde ein Merkblatt (über die Voraussetzungen des Leistungsbezugs) übergeben
wird, dessen Inhalt (in deutscher Sprache) er nicht versteht, muss er sich um eine
Übersetzung bemühen; zumindest muss er der Behörde umgehend mitteilen, dass er
den Inhalt des Merkblatts nicht versteht. Andernfalls handelt er grob fahrlässig.
Die grob fahrlässige Pflichtverletzung eines Elternteils ist auch zu Lasten des nach
dem Unterhaltsvorschussgesetz Berechtigten und "Betroffenen" im Sinne von § 48
Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X zu berücksichtigen.
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von
Rechtsanwalt K., T., wird abgelehnt.
Gründe
1 Dem Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren
vor dem Verwaltungsgericht kann nicht entsprochen werden, weil die von ihm
beabsichtigte Klage - auch mit der im Verfahren über die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe erforderlichen Offensichtlichkeit - keine hinreichende Aussicht
auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO). Die Einstellung der Gewährung
von Unterhaltsleistungen ab dem 02.05.2012 (1.) und die Rückforderung der in der
Zeit vom 02.05.2012 bis zum 31.10.2012 geleisteten Unterhaltsvorschussleistungen
in Höhe von 1.074 EUR (2.) im Bescheid der Beklagten vom 09.10.2012 erweisen
sich als offensichtlich rechtmäßig.
2
1.
Die Einstellung der Leistungen mit (Rück-)Wirkung zum 02.05.2012 hat ihre
Rechtsgrundlage in § 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 SGB X (vgl. hierzu VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 02.01.2006 - 7 S 468/03 -, juris, m.w.N.). Danach ist ein
Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit
Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der
Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse
aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift
vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen
der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Die
Voraussetzungen dieser Vorschriften sind ganz offensichtlich erfüllt.
3 Der Kläger hat unstreitig am 01.05.2012 wieder geheiratet und ist seitdem nicht
mehr ledig gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG. Er lebte trotz seiner Wiederverheiratung in
der Zeit nach dem 01.05.2012 auch nicht von seinem Ehegatten dauernd getrennt
im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG. Nach § 1 Abs. 2 UVG gilt ein Elternteil, bei dem
das Kind lebt, als dauernd getrennt lebend im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG, wenn
im Verhältnis zum Ehegatten oder Lebenspartner ein Getrenntleben im Sinne des §
1567 BGB vorliegt oder wenn sein Ehegatte oder Lebenspartner wegen Krankheit
oder Behinderung oder auf Grund gerichtlicher Anordnung für voraussichtlich
wenigstens sechs Monate in einer Anstalt untergebracht ist. Dauernd getrennt im
vorgenannten Sinn leben Ehegatten nur dann, wenn zumindest ein Ehegatte die
eheliche Gemeinschaft nicht herstellen will. Ein faktisches Getrenntleben der
Ehegatten wegen ausländerrechtlicher Zuzugsbeschränkungen steht einem
dauernden Getrenntleben im Sinne von § 1 Abs 1 Nr. 2 UVG nicht gleich. Eine
Analogie zu § 1 Abs. 2 UVG scheidet in diesen Fällen wegen der ausdrücklichen
Verweisung in § 1 Abs. 2 UVG auf die Definition des Getrenntlebens in § 1567 BGB
aus, nach der Ehegatten nur dann getrennt leben, wenn keine häusliche
Gemeinschaft besteht und zumindest ein Ehegatte die häusliche Gemeinschaft
nicht herstellen will, weil er die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt. Hiervon kann
im vorliegenden Fall keine Rede sein, weil der Kläger und seine neue Ehefrau die
eheliche Gemeinschaft durchaus herstellen wollten und nur ausländerrechtlich
hieran gehindert waren (wie hier: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.01.2006, a.a.O.,
und Beschluss vom 27.06.2005, NJW 2006, 167; ebenso Sächs. OVG, Beschluss
vom 27.03.2012 - 5 D 155/11 -, juris, m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom
19.10.2010 - 12 B 1235/10 -, juris, m.w.N.; Bayer. VGH, Urteil vom 26.05.2003 - 12 B
03.43 -, FEVS 55, 171, und juris, m.w.N, sowie Beschluss vom 13.04.2007 - 12 C
07.639 -, juris; Nieders. OVG, Beschluss vom 11.11.2003 - 12 LA 400/03 -, juris;
Beschluss der Kammer vom 06.07.2005 - 4 K 456/05 -). Auch im Übrigen, das heißt
im Hinblick auf die 2. Alternative von § 1 Abs. 2 UVG, kommt eine Analogie bzw.
eine erweiternde Auslegung auf Fälle von Zuzugsbeschränkungen nicht in Betracht,
weil die dort genannten Ausnahmetatbestände abschließend und wegen ihres
Charakters als Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind (siehe auch hierzu VGH
Bad.-Württ., Urteil vom 02.01.2006 und Beschluss vom 27.06.2005, jew. a.a.O.;
OVG NRW, Beschluss vom 19.10.2010, a.a.O., m.w.N.; Bayer. VGH, Urteil vom
26.05.2003, a.a.O.; Beschluss der Kammer vom 06.07.2005, a.a.O.; soweit das
Nieders. OVG mit Beschluss vom 10.03.1999, NVwZ-RR 1999, 764, hierzu eine
andere Auffassung vertreten hatte, betraf das eine andere [ältere] Fassung des
Unterhaltsvorschussgesetzes, vgl. hierzu Nieders. OVG, Beschluss vom
11.11.2003, a.a.O.).
4 Damit lagen und liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Leistungen
nach dem Unterhaltsvorschussgesetz im vorliegenden Fall seit dem 02.05.2012
nicht mehr vor.
5 Auch die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X sind hier erfüllt.
Denn der Kläger ist einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur
Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse zumindest
grob fahrlässig nicht nachgekommen, indem er den Beklagten - entgegen § 6 Abs. 4
UVG - nicht, zumindest nicht unverzüglich, über seine Heirat am 01.05.2012 in
Kenntnis gesetzt hat. Dieser Verstoß des Klägers gegen die Mitteilungspflichten aus
§ 6 Abs. 4 UVG war auch grob fahrlässig. Der Kläger trägt in seiner
Klagebegründung hierzu vor, dass er, da er nur die russische Sprache beherrsche,
„das rein deutsche Merkblatt nicht verstanden“ habe. Mit dieser Begründung kann
der Kläger sich jedoch nicht vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entlasten. Wenn
ihm von der Behörde ein Merkblatt (über die Voraussetzungen eines
Leistungsbezugs) übergeben wird, dessen Inhalt er nicht versteht, hätte er sich um
eine Übersetzung bemühen müssen, zumindest hätte er der Behörde umgehend
mitteilen müssen, dass er den Inhalt des Merkblatts nicht versteht; andernfalls
handelt er grob fahrlässig. Abgesehen davon hat der Kläger in regelmäßigen
Abständen, zuletzt am 02.04.2012, einen umfangreichen Fragebogen ausgefüllt
und unterschrieben, in dem er explizit nach seinem aktuellen Familienstand und
nach seinen Heiratsabsichten befragt wurde. Noch am 02.04.2012 hat er seinen
Familienstand ausdrücklich mit „geschieden“ angegeben und die Frage
„Beabsichtigen Sie in nächster Zeit zu heiraten?“ hat er mit einem klaren „Nein“
beantwortet (erst am 01.10.2012 hat einen Fragebogen ausgefüllt, in dem er
angegeben hat, er sei seit dem 01.05.2012 verheiratet). Bei dieser Sachlage,
insbesondere angesichts der vielfach von ihm geforderten Angaben über seinen
jeweils aktuellen Familienstand, hätte dem Kläger aufgrund einfachster
Überlegungen klar sein müssen, dass er verpflichtet war, Änderungen seines
Familienstands dem Beklagten unverzüglich mitzuteilen. Dass er das unterlassen
hat, ist als grob fahrlässig anzusehen (vgl. hierzu auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom
02.01.2006, a.a.O.). Danach kann es hier dahingestellt bleiben, ob der Kläger bei
seiner Angabe am 02.04.2012, nach der er in nächster Zeit nicht beabsichtige zu
heiraten, (sogar) vorsätzlich die Unwahrheit gesagt hat.
6 Diese grob fahrlässige Pflichtverletzung ist auch zu Lasten des Sohns des Klägers
als des nach dem Unterhaltsvorschussgesetz Berechtigten und als „Betroffener“ im
Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X zu berücksichtigen. Bei der Anwendung
dieser Vorschrift muss sich der Verpflichtete gemäß einem allgemeinen Grundsatz
(vgl. hierzu § 166 BGB) das Verhalten und die Kenntnisse eines (gesetzlichen)
Vertreters zurechnen lassen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.01.2006, a.a.O.).
Im Übrigen erlegt § 6 Abs. 4 UVG die dort normierte Mitteilungspflicht ersichtlich
deswegen nicht dem Leistungsberechtigten, sondern einem seiner Elternteile und
dem gesetzlichen Vertreter auf, weil von dem Leistungsberechtigten selbst, der
nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UVG das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben darf,
die Abgabe entsprechender Erklärungen typischerweise nicht verlangt werden
kann, zumal er in aller Regel nach § 11 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB X zur Vornahme
von Verfahrenshandlungen nicht fähig sein dürfte (VGH Bad.-Württ., Urteil vom
02.01.2006, a.a.O.).
7 Soweit der Kläger die Verfassungsmäßigkeit von § 1 UVG rügt, ist sein Vortrag völlig
unsubstantiiert und beschränkt sich allein auf einen Hinweis auf einen Beitrag in der
FamRZ, ohne dessen Inhalt auch nur in Umrissen wiederzugeben. In diesem vom
Kläger genannten (außerordentlich kurzen) Beitrag (Ewers, in: FamRZ 2011, 262)
wird zum einen gar nicht explizit behauptet, dass § 1 UVG verfassungswidrig sei.
Zum anderen setzt dieser Beitrag sich - u. a. in Verkennung der grundlegenden
Unterschiede zwischen den §§ 48 und 50 SGB X einerseits und § 5 Abs. 1 UVG
andererseits (vgl. hierzu u. a. Hess. VGH, Beschluss vom 02.07.2013, NJW 2013,
3321, m.w.N.), der besonderen mit den Leistungen nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz verbundenen Intentionen (siehe hierzu insbes. BVerwG,
Urteil vom 07.12.2000, NJW 2001, 3205) und unter Außerachtlassung des
Verhältnisses des Unterhaltsvorschussrechts zum Recht anderer Sozialleistungen
(vor allem im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch) - vorwiegend mit dem
Begriff der Fahrlässigkeit in § 5 UVG auseinander. Demgegenüber geht die ständige
Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte mit überzeugender Begründung von einer
Verfassungsmäßigkeit von § 1 UVG aus (siehe hierzu, gerade auch zum Fall von
Kindern in so gen. Stiefelternfamilien, wie hier, ausführlich BVerwG, Urteil vom
07.12.2000, a.a.O.; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 03.03.2004, JAmt
2004, 506, und juris, mit dem eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur
Verfassungswidrigkeit des hier einschlägigen § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG als unzulässig
abgelehnt wurde; siehe u. a. auch VG Hannover, Urteil vom 01.02.2011 - 3 A
5791/07 -, juris, und VG Würzburg, Urteil vom 17.02.2009 - W 3 K 08.1806 -, juris).
8 Nach der hiernach tatbestandlich erfüllten Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X
„soll“ der begünstigende Leistungsbescheid mit Wirkung vom Zeitpunkt der
Änderung der Verhältnisse, hier mit Ablauf des 01.05.2012, aufgehoben werden.
Für die Annahme eines Ausnahmefalls von dieser Sollregelung fehlt es im
vorliegenden Fall an jeglichen Anhaltspunkten.
9
2.
Auch die Rückforderung der nach dem 01.05.2012 geleisteten Zahlungen ist
weder dem Grund noch der Höhe nach rechtlich zu beanstanden. Sie beruht auf § 5
Abs. 1 Nr. 1 UVG. Danach hat der Elternteil, bei dem der Berechtigte lebt, oder der
gesetzliche Vertreter des Berechtigten dann, wenn die Voraussetzungen für die
Zahlung der Unterhaltsleistung in dem Kalendermonat, für den sie gezahlt worden
ist, nicht oder nicht durchgehend vorgelegen haben, den geleisteten Betrag insoweit
zu ersetzen, als er die Zahlung der Unterhaltsleistung dadurch herbeigeführt hat,
dass er vorsätzlich oder fahrlässig falsche oder unvollständige Angaben gemacht
oder eine Anzeige nach § 6 UVG unterlassen hat. Dass die Voraussetzungen
dieser Vorschrift, die die Behörde zum Erlass eines Leistungsbescheids zwingt (vgl.
BVerwG, Urteil vom 11.10.2012, NJW 2013, 405), erfüllt sind, ergibt sich aus den
vorstehenden Ausführungen (unter 1.).