Urteil des VG Freiburg vom 23.01.2014

wohl des kindes, achtung des familienlebens, elterliche sorge, aufschiebende wirkung

VG Freiburg Beschluß vom 23.1.2014, 4 K 3/14
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zur Aufrechterhaltung der Vater- Kind-
Beziehung
Leitsätze
In Fällen, in denen die Voraussetzungen von § 28 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit § 31
AufenthG nicht vorliegen, weil die deutsche Ehefrau eines Ausländers und die
gemeinsamen (ebenfalls deutschen) Kinder im nahegelegenen Ausland wohnen und
dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, der Ausländer als leiblicher und
gemeinsam mit der Mutter sorgeberechtigter Vater jedoch weiterhin im Bundesgebiet
regelmäßigen Kontakt mit den Kindern pflegt, der unter dem Schutz von Art. 6 GG
steht, kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2
AufenthG in Betracht.
Bei § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG handelt es sich um einen eigenständigen, von der
Regelung über ein nur vorübergehendes Aufenthaltsrecht in § 25 Abs. 4 Satz 1
AufenthG unabhängigen Verlängerungstatbestand.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den
Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.12.2013 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Der vom Antragsteller mit seinem Hauptantrag gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5
VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen
den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.12.2013, mit dem die Antragsgegnerin
die vom Antragsteller beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis versagt
und ihm für den Fall der nicht fristgemäßen freiwilligen Ausreise die Abschiebung
nach Ägypten angedroht hat, ist zulässig (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss
vom 20.11.2007, InfAuslR 2008, 81) und begründet.
2 Das private Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Aufschub der
Wirkungen der im Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.12.2013 erlassenen
Verfügungen überwiegt das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes (§ 84 Abs.
1 Nr. 1 AufenthG und § 12 LVwVG) bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit der
angegriffenen Verfügungen. Dies folgt daraus, dass es nach der im Verfahren auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen, aber auch
ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zumindest offen
ist, ob die im angegriffenen Bescheid getroffenen Verfügungen in der Hauptsache,
das heißt im Widerspruchs- oder in einem sich daran anschließenden
Klageverfahren, rechtlich Bestand haben werden und dass es angesichts dessen
nicht vertretbar erscheint, durch Vollzug der angegriffenen Verfügungen
gewissermaßen vollendete Tatsachen zu schaffen.
3 Zwar kann der Antragsteller höchstwahrscheinlich keinen Anspruch auf
Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bzw. auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 3 oder Satz 4 AufenthG
ableiten, weil weder seine von ihm getrennt lebende und in Basel/CH wohnhafte
deutsche Ehefrau noch seine bei ihrer Mutter in Basel lebenden Kinder ihren
gewöhnlichen Aufenthalt (zur Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts siehe §
30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) im Bundesgebiet haben. Aus dem gleichen Grund dürfte
auch ein Anspruch nach den §§ 28 Abs. 3 und 31 AufenthG abzulehnen sein.
4 Doch spricht nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten Vieles dafür,
dass hier die Voraussetzung des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vorliegen. Nach
dieser Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 8 Abs. 1 und 2
AufenthG verlängert werden, wenn auf Grund besonderer Umstände des
Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine
außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um
einen eigenständigen, von der Regelung über ein nur vorübergehendes
Aufenthaltsrecht in § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG unabhängigen
Verlängerungstatbestand (Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht,
10. Aufl. 2013, Teil 1, § 25 RdNr. 68, m.w.N.). Der hierfür erforderliche (formlose)
Antrag ist vom Antragsteller spätestens im vorangegangenen gerichtlichen
Verfahren 4 K 2552/13 im Antragsschriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom
29.11.2013 gestellt worden, indem dieser dort ausdrücklich auch auf § 25 Abs. 4
Satz 2 AufenthG abgestellt hatte (zur Anwendbarkeit dieser Vorschrift in Fällen der
vorliegenden Art vgl. VwV-AufenthG Nr. 28.3.3).
5 Die besonderen Umstände des Einzelfalls liegen hier darin begründet, dass dem
Antragsteller weiterhin die elterliche Sorge für seine beiden Kinder zusteht und
dass er die damit verbundenen Rechte und Pflichten auch tatsächlich und trotz der
Tatsache, dass die Kinder bei seiner Ehefrau in Basel wohnen, recht intensiv in
Deutschland wahrnimmt. Aus einem im gerichtlichen Verfahren vorgelegten
Schreiben der von dem Antragsteller getrennt lebenden Ehefrau und Mutter der
Kinder, die nach Lage der Akten nicht in dem Verdacht steht,
Gefälligkeitsschreiben für den Antragsteller zu verfassen, geht hervor, dass sich
die Kinder in Zeiten, in denen die Mutter arbeitet, bei den Großeltern und bei der
Tagesmutter in Rheinfelden aufhalten und dass der Antragsteller sie dort
regelmäßig besucht. Laut dem Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht -
Lörrach vom 16.07.2013 über die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts
auf die Mutter hat die Mutter der Kinder trotz der erheblichen
Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem Antragsteller versichert, dass sie
auch nach einem trennungsbedingten Umzug in die Schweiz wolle, dass der
Antragsteller weiterhin Umgang mit den gemeinsamen Kindern habe. In den
Gründen jenes Beschlusses bekräftigte auch das Familiengericht, dass es diese
Gewährleistung eines Umgangs zwischen dem Antragsteller und seinen Kindern
für richtig halte.
6 Angesichts dieser tatsächlichen Gegebenheiten spricht einiges dafür, dass das
Verlassen des Bundesgebiets für den Antragsteller derzeit eine außergewöhnliche
Härte bedeuten würde. Die Annahme einer außergewöhnlichen Härte setzt voraus,
dass der Ausländer sich in einer individuellen Sondersituation befindet, aufgrund
derer ihn die Aufenthaltsbeendigung deutlich ungleich härter treffen würde als
andere Ausländer, die nach denselben rechtlichen Vorschriften ausreisepflichtig
sind. Die Beendigung des Aufenthalts muss für den Ausländer bei dieser
Vergleichsbetrachtung unzumutbar sein (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom
08.02.2007, NVwZ 2007, 844; Dienelt, a.a.O., § 25 RdNr. 71; Zeitler, in:
Hypertextkommentar zum Ausländerrecht, Stand: 01.12.2013, Anm. 3 zu § 25 Abs.
4 Satz 2 AufenthG).
7 Die tatsächlich gelebte Beziehung des Antragstellers zu seinen Kindern fällt ohne
Weiteres in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 bis 3 GG und wohl auch des Art. 8
Abs. 1 EMRK. Zwar gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf
Aufenthalt im Bundesgebiet. Das Grundgesetz überantwortet die Entscheidung, in
welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen der Zugang zum Bundesgebiet
ermöglicht werden soll, weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden
Gewalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende
Grundsatznorm, nach welcher der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu
fördern hat, dazu, bestehende eheliche und familiäre Bindungen zu Personen, die
sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und
entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu
bringen. Für das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK
gilt im Ergebnis nichts anderes. Der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters wird
nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich. Nach § 1626
Abs. 3 Satz 1 BGB gehört zum Wohl des Kindes in der Regel der Umgang mit
beiden Elternteilen. Gemäß § 1684 Abs. 1 BGB hat das Kind Recht auf Umgang
mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und
berechtigt. Das Kind ist nicht nur Objekt des elterlichen Umgangs; vielmehr dient
der Umgang der Eltern mit ihrem Kind ganz wesentlich auch dessen Bedürfnis,
Beziehungen zu beiden Elternteilen aufzubauen und erhalten zu können. Die
gesetzliche Umgangspflicht soll Eltern darauf hinweisen, dass der Umgang mit
ihnen, auch und gerade wenn das Kind nicht bei ihnen lebt, für die Entwicklung
und das Wohl des Kindes eine herausragende Bedeutung hat. Eine Versagung
einer Aufenthaltserlaubnis für den Antragsteller zielt auf die Beendigung seines
Aufenthalts im Bundesgebiet, was ein familiäres Zusammenleben von ihm und
seinen Kindern in Deutschland unmöglich macht, die persönlichen
Begegnungsmöglichkeiten stark beschränkt und dem Antragsteller die Teilhabe an
Pflege und Erziehung seiner Kinder erheblich erschwert (vgl. hierzu auch BVerfG,
Beschlüsse vom 08.12.2005, InfAuslR 2006, 122, und vom 23.01.2006, NVwZ
2006, 682).
8 Dieses geschützte Band zwischen dem Antragsteller und seinen Kindern - und
umgekehrt -, das gegenwärtig von allen für das Kindeswohl verantwortlichen
Personen, das heißt u. a. auch von der Mutter und dem Familiengericht, als
förderlich angesehen wird und das trotz des Wegzugs der Mutter ins Ausland
tatsächlich im Bundesgebiet gelebt wird, wäre gefährdet, wenn nicht gar zerstört,
wenn der Antragsteller, wie nach dem angegriffenen Bescheid beabsichtigt,
Deutschland auf Dauer verlassen müsste. Ob ihm unter den gegebenen
Umständen von den Schweizer Behörden der Zuzug in die Schweiz erlaubt würde,
um sich dort, am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts seiner Kinder, aufhalten zu
können, ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand ungewiss. Tatsache ist, dass er
nach dem gemeinsamen gegenwärtigen Erziehungs- und Umgangskonzept von
Mutter und Familiengericht und dem Antragsteller selbst, den Umgang mit seinen
Kindern in Deutschland wahrnehmen kann und soll und das auch regelmäßig tut.
Bei dieser Sachlage spricht Vieles dafür, dass eine Unterbrechung dieser Vater-
Kind-Beziehung durch Vollzug der angegriffenen Verfügungen eine
außergewöhnliche Härte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG darstellt (zur
Annahme einer solchen außergewöhnlichen Härte in Fällen der Betroffenheit von
Art 6 GG und Art. 8 EMRK siehe BVerwG, Beschluss vom 08.02.2007, a.a.O.;
Dienelt, a.a.O., § 25 RdNrn. 73 ff., insbes. 79; Zeitler, a.a.O., Anm. 3 zu § 25 Abs. 4
Satz 2 AufenthG).
9 Hiernach besteht zumindest im vorliegenden Eilverfahren eine hinreichende
Wahrscheinlichkeit, dass eine Trennung sowohl das Recht des Antragstellers auf
Umgang mit seinen Kindern als auch - vor allem - das Recht der Kinder auf
Umgang mit ihrem Vater verletzen würde. Denn gerade im Hinblick auf das geringe
Alter der beiden drei und eineinhalb Jahre alten Kinder des Antragstellers wäre ein
mit der Vollziehung der Versagungsentscheidung verbundener Abbruch der
unmittelbaren persönlichen Kontakte zum Vater mit möglicherweise irreparablen
Folgen für deren Entwicklung verbunden (vgl. hierzu die oben zitierten Beschlüsse
des BVerfG's vom 08.12.2005 und vom 23.01.2006, jew. a.a.O.), zumal zum
gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abschätzbar ist, ob dem Antragsteller jemals der
Zuzug in die Schweiz ermöglicht würde und, wenn ja, wie lange er auf eine solche
Zuzugsgenehmigung warten müsste.
10 Das der Antragsgegnerin hiernach eröffnete Ermessen hat sie, da sie § 25 Abs. 4
Satz 2 AufenthG nach der Begründung des angegriffenen Bescheids und ihrem
Vortrag im gerichtlichen Verfahren ersichtlich nicht geprüft hat, gar nicht ausgeübt.
Schon ein solcher Ermessensfehler führt zur Rechtswidrigkeit der getroffenen
Entscheidung. Nichts anderes gilt im Hinblick auf die bei einer
Verlängerungsentscheidung nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG grundsätzlich
ebenfalls zu beachtenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs.
1 AufenthG (vgl. hierzu Zeitler, a.a.O., Anm. 4 zu § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG,
m.w.N.). Ob im vorliegenden Fall des voraussichtlichen Vorliegens einer
außergewöhnlichen Härte im zuvor genannten Sinne ein Ausnahmefall von den
Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG
angenommen werden müsste, hat die Antragsgegnerin ebenfalls keiner Prüfung
unterzogen, kann hier aber wohl auch dahingestellt bleiben. Denn nach § 5 Abs. 3
Satz 2 AufenthG kann die Ausländerbehörde bei Erteilung von humanitären
Aufenthaltserlaubnissen (nach §§ 22 ff. AufenthG) von der Anwendung des § 5
Abs. 1 AufenthG absehen. Auch das danach eingeräumte Ermessen hat die
Antragsgegnerin im Lichte des Vorliegens der Voraussetzungen von § 25 Abs. 4
Satz 2 AufenthG nicht ausgeübt.
11 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
beruht auf den §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 und 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.