Urteil des VG Freiburg vom 18.11.2016

treu und glauben, jugendhilfe, eltern, anerkennung

VG Freiburg Urteil vom 18.11.2016, 4 K 2981/15
Erstattungsanspruch - Frist des § 111 S. 1 SGB 10
Leitsätze
§ 111 Satz 2 SGB X erfasst nicht den Fall, in dem die (Jugendhilfe )Leistungen, für die Kostenerstattung begehrt
wird, nicht von dem erstattungspflichtigen, sondern von dem erstattungsberechtigten Leistungsträger gewährt
wurden.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung für gewährte Hilfen zur Erziehung in der Zeit
vom 24.04.2012 bis zum 03.11.2012 und vom 20.11.2012 bis zum 26.01.2013 in Höhe von 25.530,50 EUR
zugunsten von L. J.
2 Beginnend mit dem 07.09.2009 bewilligte die Klägerin den (gemeinsam) sorgeberechtigten Eltern des am …
1997 geborenen L. J. Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII, die in der Folgezeit (zumindest) bis zu
Beginn des Jahres 2013 in unterschiedlichen Formen (u. a. Erziehung in Tagesgruppe, Heimerziehung) und
mit gelegentlichen Unterbrechungen bewilligt wurde. Zu Beginn der Leistung (am 07.09.2009) lebte L. im
Haushalt seiner Mutter in der Stadt F.; der Vater lebte (damals und zumindest bis zum Ende des
Bewilligungszeitraums), von der Mutter getrennt, in L. Am 01.01.2010 zog die Mutter von F. nach K. im
Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald um, wo sie zumindest bis zum Ende des Bewilligungszeitraums
gewohnt hat.
3 Mit Schreiben vom 21.07.2010 erklärte der Beklagte auf eine zuvor im Schreiben vom 14.01.2010
geäußerte Bitte der Klägerin um „Fallübernahme“ für L. und um Ersatz der Aufwendungen gemäß § 89c SGB
X, dass er den Jugendhilfefall ab dem 01.08.2010 übernehme und seine Pflicht zur Erstattung der von der
Klägerin aufgewendeten Kosten ab dem 01.01.2010 anerkenne.
4 Etwa ein Jahr später, mit Schreiben vom 06.07.2011, teilte der Beklagte der Klägerin mit: Auf der Grundlage
des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010 sei die Zuständigkeit im vorliegenden Fall
anders zu beurteilen. Er sei doch nicht zuständig geworden, vielmehr sei die Klägerin aufgrund von § 86
Abs. 5 Satz 2 SGB VIII durchgängig für L. zuständig gewesen. Unter Beachtung von § 111 SGB X nehme er
sein zuvor erklärtes Anerkenntnis der Kostentragungspflicht ab dem 06.07.2010 zurück.
5 Mit E-Mail-Schreiben vom 23.01.2012 erklärte ein Mitarbeiter der Klägerin gegenüber dem Beklagten, dass
der Fall von der Klägerin übernommen werde. Mit Schreiben vom 10.07.2012 erklärte die Klägerin in
Beantwortung des Schreibens des Beklagten vom 06.07.2011, dass sie die Pflicht zur Erstattung der vom
Beklagten aufgewendeten Kosten ab dem 06.07.2010 anerkenne.
6 In der Folge bewilligte die Klägerin den Eltern von L. weitere Hilfen zur Erziehung, insbesondere in den
Zeiten vom 24.04.2012 bis zum 03.11.2012 und vom 20.11.2012 bis zum 26.01.2013 in Form der
Heimerziehung/sonstigen betreuten Wohnform gemäß § 34 SGB VIII.
7 Etwa 19 Monate später, mit Schreiben vom 09.09.2014, teilte die Klägerin dem Beklagten mit: Nach
gewandelter neuerer Rechtsprechung bestimme sich die Zuständigkeit im vorliegenden Fall nach § 86 Abs. 2
SGB VIII. Sie (die Klägerin) sei nicht nach § 86 Abs. 5 SGB VIII zuständig gewesen. Sie widerrufe deshalb die
von ihr im Schreiben vom 10.07.2012 erklärte Anerkennung der Kostenerstattungspflicht und bitte
ihrerseits den Beklagten um Anerkennung seiner Kostenerstattungspflicht für die von ihr bewilligten
Leistungen der Heimerziehung/sonstigen betreuten Wohnform in den Zeiten vom 24.04.2012 bis zum
03.11.2012 und vom 20.11.2012 bis 26.01.2013.
8 Mit Schreiben vom 12.06.2015 erwiderte der Beklagte: Es sei zutreffend, dass nach aktueller
Rechtsprechung die Zuständigkeit im vorliegenden Fall anders zu beurteilen sei als nach bisheriger
Rechtsauffassung und dass er (der Beklagte) nach § 86 Abs. 2 SGB VIII seit dem 01.01.2010 durchgängig
zuständig gewesen sei. Grundsätzlich sei deshalb das Kostenerstattungsbegehren der Klägerin nach § 105
SGB X begründet. Doch stehe der Geltendmachung dieses Anspruchs die Ausschlussfrist des § 111 SGB X
entgegen. Die Hilfegewährung der Klägerin für L. habe am 26.01.2013 geendet. Die mit Schreiben vom
09.09.2014 beanspruchte Kostenerstattung sei damit nicht innerhalb von zwölf Monaten nach Beendigung
der Jugendhilfeleistung worden und damit verfristet.
9 Dem hielt die Klägerin im Schreiben vom 10.11.2015 entgegen: Die Ausschlussfrist des § 111 Satz 2 SGB X
beginne erst mit objektiver Kenntnis des Kostenerstattungsanspruchs. Die die neue Rechtslage darstellende
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (5 C 34/12) stamme vom 14.11.2013. Die Jahresfrist des §
111 SGB X laufe damit erst ab diesem Zeitpunkt mit der Folge, dass sie ihren Anspruch mit Schreiben vom
09.09.2014 noch rechtzeitig geltend gemacht habe.
10 Am 23.12.2015 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor: Die Einrede des Beklagten
hänge im Wesentlichen davon ab, ob Satz 2 von § 111 SGB X im Bereich der Jugendhilfe Anwendung finde.
Die Neufassung von § 111 SGB X (vom 01.01.2001) habe einer gerechteren Lastenverteilung zwischen den
Sozialleistungsträgern dienen sollen. Zwar laufe die Vorschrift des § 111 Satz 2 SGB X nach Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts leer, wenn es keiner Entscheidung des erstattungsberechtigten Trägers
gegenüber dem Leistungsberechtigten mehr bedürfe. Doch schließe das die Anwendbarkeit dieser Vorschrift
im Licht der Intention des Gesetzgebers nicht aus. Danach sei eine Leistungspflicht des Beklagten erst mit
der klarstellenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.11.2013 entstanden. Sie (die
Klägerin) habe im streitgegenständlichen Zeitraum auch nicht als unzuständige Behörde gehandelt. Denn
sowohl sie als auch der Beklagte seien aufgrund der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom
09.12.2010 von ihrer Zuständigkeit (der Klägerin) auch über dem 01.01.2010 hinaus ausgegangen. Da sie
zu diesem Zeitpunkt bereits Leistungen bewilligt habe, sei sie nach § 86c SGB VIII zur fortdauernden
Leistung verpflichtet gewesen. Erst die erwähnte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom
14.11.2013 habe zweifelsfrei ergeben, dass im vorliegenden Fall der Beklagte zuständig gewesen wäre, was
sie (die Klägerin) jedoch gemäß § 86c SGB VIII nicht von der Leistungsverpflichtung entbunden habe. Auf
eine Verfristung des mit Schreiben vom 09.09.2014 geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs könne
sich der Beklagte auch deshalb nicht berufen, weil dieser Anspruch bereits mit Schreiben vom 14.01.2010
geltend gemacht worden sei.
11 Die Klägerin beantragt (sachdienlich),
12 den Beklagten zu verurteilen, die der Klägerin vom 24.04.2012 bis zum 03.11.2012 und vom 20.11.2012
bis zum 26.01.2013 entstandenen Kosten in Höhe von 25.530,50 EUR, die sie für Maßnahmen der
Jugendhilfe zugunsten von L. J. aufgewendet hat, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über
dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 23.12.2015 zu bezahlen.
13 Der Beklagte beantragt,
14 die Klage abzuweisen.
15 Zur Begründung trägt der Beklagte vor: Ein möglicher Kostenerstattungsanspruch der Klägerin sei gemäß §
111 SGB X verfristet. Die Maßnahme, für die Kostenerstattung begehrt werde, habe am 26.01.2013
geendet, so dass ein daraus resultierender Kostenerstattungsanspruch bis spätestens zum 26.01.2014
geltend zu machen gewesen wäre. Tatsächlich habe die Klägerin den Kostenerstattungsanspruch erstmals
am 09.09.2014 - und damit verspätet - geltend gemacht. Mit ihrem Schreiben vom 14.01.2010 habe die
Klägerin lediglich eine Kostenerstattung für die bis dahin gewährten Leistungen begehrt. Eine Aufforderung
zur Erstattung weiterer - nach Fallübernahme möglicherweise in der Zukunft entstehender - Aufwendungen
der Klägerin sei darin nicht zu sehen. Der Lauf der zwölfmonatigen Ausschlussfrist des § 111 SGB X beginne
auch nicht gemäß § 111 Satz 2 SGB X erst mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom
14.11.2013 zu laufen. Es komme nicht auf die Kenntnis der Rechtslage, sondern auf die Kenntnis der
Klägerin von der Entscheidung des Beklagten über seine Leistungspflicht an. Diese Entscheidung habe er
bereits im Jahr 2012 getroffen und die Klägerin habe auch bereits damals davon Kenntnis gehabt. Das
Bundesverwaltungsgericht schaffe kein Recht, sondern erkenne das Recht nur. Aus dem besagten Urteil vom
14.11.2013 ergebe sich die heute, aber auch schon früher maßgebliche Rechtsansicht, dass er (der Beklagte)
im hier streitgegenständlichen Zeitraum zuständiger Jugendhilfeträger gewesen sei. Demgegenüber habe er
aufgrund einer nach heutiger Erkenntnis falschen Rechtsansicht mit Schreiben vom 06.07.2011 der Klägerin
die Entscheidung über seine Unzuständigkeit mitgeteilt und um Übernahme des Falls durch die Klägerin
gebeten. Dass diese Entscheidung nicht der aktuellen Rechtsauslegung entspreche, ändere nichts an der
Entscheidung als solcher. Von dieser Entscheidung habe die Klägerin Kenntnis gehabt, diese mitgetragen und
dementsprechend in der Folge die hier in Streit stehenden Kosten eigenverantwortlich aufgewandt. Eine
weitere Entscheidung über seine Leistungsverpflichtung für den streitgegenständlichen Zeitraum, habe er
(der Beklagte) nicht getroffen. Damit bleibe es für den Fristbeginn bei dem letzten Tag, für den die Leistung
der Klägerin erbracht worden sei, und damit bei einer Verfristung des Kostenerstattungsanspruchs der
Klägerin.
16 Der Kammer liegen die Jugendhilfeakten über L. J. der Klägerin und des Beklagten (jew. 2 Hefte) vor. Der
Inhalt dieser Akten und der Gerichtsakten war Gegenstand der Kammerberatung und -entscheidung; hierauf
wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
17 Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO durch Urteil ohne
mündliche Verhandlung.
18 Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch
gegen den Beklagten auf Erstattung der Kosten für Leistungen der Hilfe zur Erziehung, die sie in der Zeit
vom 24.04.2012 bis zum 03.11.2012 und vom 20.11.2012 bis zum 26.01.2013 in Höhe von 25.530,50 EUR
zugunsten von L. J. erbracht hat.
19
1.
Einem etwaigen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin steht im vorliegenden Fall die Vorschrift des §
111 Satz 1 SGB X entgegen. Diese Vorschrift gilt über die Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff. SGB X
hinaus für alle Erstattungsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern, insbesondere auch für die
(jugendhilferechtlichen) Erstattungsansprüche nach den §§ 89 ff. SGB VIII (
vgl. Böttiger, in: Diering/Timme,
Sozialgesetzbuch X, 4. Aufl. 2016, § 111 RdNr. 3, m.w.N.; Roller, in: von Wulffen, SGB X, 7. Auf. 2010, § 111
RdNr. 4, m.w.N.). Aus diesem Grund kann es hier dahingestellt bleiben, ob der Kostenerstattungsanspruch
der Klägerin materiell seine Rechtsgrundlage in dem hier möglicherweise in Betracht kommenden § 89c SGB
VIII oder in § 105 SGB X hat (
zum Verhältnis dieser Vorschriften zueinander siehe Urteil der Kammer vom
13.02.2014 - 4 K 2516/12 -, juris, m.w.N.). Jedenfalls ist die Anwendung von § 111 SGB X nicht deshalb
ausgeschlossen, weil der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch ein Rückerstattungsanspruch im
Sinne von § 112 SGB X wäre, für den § 111 SGB X anerkanntermaßen nicht gilt (
Böttiger, a.a.O., § 111
RdNr. 3, m.w.N.). Denn § 112 SGB X setzt einen bereits tatsächlich durchgeführten Erstattungsvorgang
voraus (
Böttiger, a.a.O., § 112 RdNr. 2, m.w.N.), der zwischen den Beteiligten hier nicht stattgefunden hat.
20 Nach § 111 Satz 1 SGB X ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte
ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde,
geltend macht. Der letzte Tag, an dem die Klägerin Leistungen für L. J. (besser: für seine Eltern) erbracht
hat, war auch nach ihrem eigenen Vortrag der 26.01.2013. Damit endete gemäß § 26 Abs. 2 SGB X die Frist
mit Ablauf des Januar 2014, ohne dass es hier auf ein genaues Datum ankäme, da jedenfalls die erstmalige
Geltendmachung mit Schreiben der Klägerin vom 09.09.2014 deutlich mehr als ein Jahr später und damit
verspätet erfolgt ist.
21 Entgegen ihrer Auffassung kann die Klägerin sich nicht auf ihr erstmaliges Erstattungsbegehren im
Schreiben an den Beklagten vom 14.01.2010 berufen. Zwar kann ein Erstattungsanspruch grundsätzlich
auch schon für erst in der Zukunft entstehende Ansprüche geltend gemacht werden mit der Folge, dass
insoweit die Frist des § 111 SGB X gewahrt wird. Doch müssen dieser Anspruch und die für seine
Entstehung maßgeblichen Umstände konkret absehbar sein (
Böttiger, a.a.O., § 111 RdNr. 5, m.w.N.; Roller,
a.a.O., § 111 RdNrn. 13 und 15, m.w.N.), so dass der in Anspruch genommene Leistungsträger die
Berechtigung der Forderung sowie den Zeitraum, für den die Erstattung begehrt wird, beurteilen kann
(
Becker, in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand: Dez. 2013, § 111 RdNrn. 39 f., m.w.N.; Mutschler, in: jurisPK-SGB X,
Stand: 11.05.2016, § 111 RdNr. 17, m.w.N.). Hiernach kann das Schreiben der Klägerin vom 14.01.2010
nicht als Geltendmachung einer Erstattung für die erst ab dem Jahr 2012 entstehenden Aufwendungen für
Hilfen zur Erziehung zugunsten von L. J. in Betracht kommen. Das ergibt sich auch, worauf der Beklagte zu
Recht hinweist, aus dem Kontext des Schreibens vom 14.01.2010, mit dem ersichtlich nur eine
Kostenerstattung für Aufwendungen begehrt wurde, die bis zur Fallübernahme durch den Beklagten
angefallen sind und noch anfallen. Nach der im Schreiben vom 21.07.2010 erklärten Übernahme des
Jugendhilfefalls durch den Beklagten mit Wirkung vom 01.08.2010 und Anerkennung der
Kostenerstattungspflicht für die Zeit ab 01.01.2010 hatte sich das Begehren im Schreiben der Klägerin vom
14.01.2010 erledigt, da beide Seite zunächst übereinstimmend der Meinung waren, dass fortan der Beklagte
für die jugendhilferechtlichen Maßnahmen zugunsten von L. J. zuständig sei. Soweit der Beklagte später
(aufgrund einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010) seine Meinung änderte und
dies mit Schreiben vom 06.07.2011 gegenüber der Klägerin kundtat, bestand auch insoweit kein Dissens
zwischen den Beteiligten; vielmehr stimmte die Klägerin der Auffassung des Beklagten mit E-Mail-Schreiben
vom 23.01.2012 und (normalem) Schreiben vom 10.07.2012 zu und erkannte ihre Kostenerstattungspflicht,
wenngleich erst ab dem 06.07.2010, an. Bei der Bestimmung des 06.07.2010 als Datum der rückwirkenden
Anerkennung ihrer Kostenerstattungspflicht, die sich nach damaliger Rechtsauffassung beider Beteiligter auf
den gesamten Zeitraum nach dem 01.01.2010 erstreckte, kam der Klägerin die Regelung in § 111 Satz 1
SGB X - ebenso wie im Hinblick auf den in diesem Verfahren streitigen Kostenerstattungsanspruch dem
Beklagten - zugute.
22
2.
§ 111 Satz 2 SGB X führt hier zu keinem anderen Ergebnis. Nach dieser Vorschrift beginnt der Lauf der
Frist frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der
Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat.
Dieser Bestimmung liegt die Fallkonstellation zugrunde, dass verschiedene miteinander konkurrierende
Leistungsträger zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegenüber dem Leistungsberechtigten über ihre
Leistungspflicht entscheiden (
vgl. Entwurf der Bundesregierung des 4. Euro-Einführungsgesetzes, BT-Drs.
14/4375, 60). Diese Fallkonstellation entspricht nicht derjenigen im vorliegenden Fall. Denn hier sind die
Leistungen, für die Kostenerstattung begehrt wird, von der Klägerin, also dem erstattungsberechtigten
Leistungsträger im Sinne von § 111 Satz 2 SGB X, gewährt worden. Der Beklagte als der
erstattungspflichtige Leistungsträger im Sinne von § 111 Satz 2 SGB X hat hier, das heißt im Hinblick auf
die in den Zeiten vom 24.04.2012 bis zum 03.11.2012 und vom 20.11.2012 bis zum 26.01.2013 gewährten
Leistungen, gerade keine Entscheidung über seine Leistungspflicht getroffen. Das unterscheidet den
vorliegenden Fall von dem Fall, der der Neuregelung in § 111 Satz 2 SGB X zugrunde lag und in dem der
vorrangig leistungspflichtige (zuständige) Träger eine Leistung, die der nachrangig leistungspflichtige
(unzuständige) Träger zuvor gewährt hatte, zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend bewilligt hat (
vgl.
hierzu BT-Drs. 14/4375, 60; Becker, a.a.O., § 111 RdNr. 48). Mit dem Begriff „Leistungspflicht“ in § 111 Satz
2 SGB X ist die Pflicht im Verhältnis zwischen dem erstattungspflichtigen Leistungsträger (hier dem
Beklagten) und der leistungsberechtigten Person (hier den Eltern von L. J.) gemeint (
BVerwG, Urteil vom
19.08.2010, NVwZ-RR 2011, 67; Becker, a.a.O., § 111 RdNr. 51; Böttiger, a.a.O.; § 111 RdNr. 25, m.w.N.;
Mutschler, a.a.O., § 111 RdNrn. 32 ff., m.w.N.; Roller, a.a.O., § 111 RdNrn. 7 f.; siehe auch - zu einem
vergleichbaren Fall, in dem der Kostenerstattungsanspruch materiell-rechtlich auf § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB
VIII beruhte - Bayer. VGH, Urteil vom 21.05.2010 - 12 BV 09.1973 -, juris, m.w.N.). In diesem Sinne hat der
Beklagte letztmals zu Beginn des Jahres 2012, vor der Fallübernahme durch die Klägerin am 23.01.2012,
eine Entscheidung über seine Leistungspflicht getroffen, von der die Klägerin ebenfalls spätestens zu Beginn
des Jahres 2012 Kenntnis erlangt hat.
23 Eine Auslegung der Vorschrift dahin, dass als Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über
seine Leistungspflicht auch die Ablehnung der Erstattungspflicht gegenüber dem Erstattungsberechtigten
anzusehen ist, stünde nicht im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut, demzufolge es einer Entscheidung über
die „Leistungspflicht“ bedarf, während es hier um eine Kostenerstattungspflicht geht. Zudem führte eine
solche Auslegung zu dem widersinnigen Ergebnis, dass die Ausschlussfrist für die Geltendmachung des
Kostenerstattungsanspruchs erst nach dessen Geltendmachung zu laufen begänne, weil die Entscheidung
des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Pflicht zur Kostenerstattung notwendig voraussetzt,
dass ein solcher Anspruch zuvor geltend gemacht wurde (
so Bayer. VGH, Urteil vom 21.05.2010, a.a.O.,
m.w.N.; zur Unanwendbarkeit von § 111 Satz 2 SGB X auf vergleichbare Fälle wie hier siehe auch VG
Augsburg, Urteil vom 12.06.2012 - Au 3 K 11.1665 -, juris).
24 Hiernach verbleibt es bezüglich des Beginns des Fristlaufs allein bei der Regelung in § 111 Satz 1 SGB X
(
siehe oben zu 1.).
25
3.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Ausschlussregelung in § 111 SGB X nicht lediglich im Wege
der Einrede geltend zu machen, vielmehr führt der Ausschluss nach dieser Vorschrift zu einem materiellen,
von Amts wegen zu beachtenden Verlust des Kostenerstattungsanspruchs. Auch eine Wiedereinsetzung in
diese Frist kommt somit nach § 27 Abs. 5 SGB X nicht in Betracht. Dem steht dementsprechend auch
entgegen, dem Erstattungsverpflichteten, hier dem Beklagten, den Einwand der unzulässigen
Rechtsausübung entgegenzuhalten, wenn er sich auf § 111 SGB X beruft (
vgl. zum Ganzen u. a. Mutschler,
a.a.O., § 111 RdNrn. 41 ff., m.w.N.). Für einen solchen Einwand ist ebenso wie für andere Berufungen auf
den Grundsatz von Treu und Glauben gerade im vorliegenden Fall auch deshalb kein Raum, weil der
Beklagte im maßgeblichen Zeitraum in gleichem Maße wie die Klägerin (gutgläubig) der Auffassung war,
dass die Klägerin der für L. J. zuständige Jugendhilfeträger sei. Dass diese Auffassung (voraussichtlich) auf
einem Rechtsirrtum beruhte, ist ohne Bedeutung, da es für die rechtlichen Wirkungen des § 111 SGB X
weder auf ein Verschulden noch auf die Frage ankommt, wem die Folgen des Urteils des
Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010 - 5 C 17/09 - (
NVwZ-RR 2011, 203), das später in einem für
die Frage der Zuständigkeit im vorliegenden Jugendhilfefall maßgeblichen Punkt durch Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 14.11.2013 - 5 C 34/12 - (
NVwZ-RR 2014, 306) korrigiert wurde,
zuzurechnen sind.
26 Dementsprechend war es rechtlich nicht zu beanstanden und ist vom Beklagten auch nicht beanstandet
worden, dass die Klägerin früher, als die bis dahin einvernehmlich angenommene Zuständigkeit des
Beklagten für den vorliegenden Jugendhilfefall aufgrund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom
09.12.2010 (
a.a.O.) vermeintlich auf die Klägerin übergegangen war, ihrerseits von der Ausschlussfrist des §
111 Satz 1 SGB X profitiert hatte und dem Beklagten erst ab dem 06.07.2010 Kostenerstattung leisten
musste, obwohl ein solcher Anspruch (nach damaliger Rechtsauffassung beider Beteiligter) materiell-
rechtlich bereits ab dem 01.01.2010 gegeben war und es durchaus nicht so klar war wie im vorliegenden
Fall, ob damals im Hinblick auf die seinerzeit durchgehend gewährten Leistungen der Jugendhilfe für L.
Jungfleisch überhaupt die Voraussetzungen der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X vorgelegen hatten.
27 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und § 188 Satz 2, Halbsatz 2 VwGO.
28 Gründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom Verwaltungsgericht zuzulassen
wäre, sind nicht gegeben.