Urteil des VG Freiburg vom 13.02.2014

form, unterbringung, haushalt, aufenthalt

VG Freiburg Urteil vom 13.2.2014, 4 K 2516/12
Leitsätze
Zulässigkeit einer (auf eine Geldzahlung gerichteten) allgemeinen Leistungsklage
ohne vorherige außergerichtliche Geltendmachung des Zahlungsanspruchs.
Enthält das Achte Buch Sozialgesetzbuch keine einschlägige spezielle
Kostenerstattungsregelung, so ist auf die allgemeinen Regelungen im Zehnten Buch
Sozialgesetzbuch (§§ 102 ff., insbesondere § 105 Abs. 1 Satz 1, SGB X) über die
Erstattungsansprüche von Leistungsträgern untereinander zurückzugreifen.
Zum Beginn einer neuen Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII.
Hier: - Übergang von sozialpädagogischer Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) auf intensive
sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) - keine neue Leistung;
- Übergang von intensiver sozialpädagogischer Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) auf
Erziehung/Betreuung in einer Tagesgruppe (§ 32 SGB VIII) - neue Leistung.
Eine kurzfristige Unterbrechung der Hilfeleistung von bis zu drei Monaten hat nach
den insoweit entsprechend anzuwendenden §§ 86 Abs. 7 Satz 4, 86a Abs. 4 Satz 2
und 86b Abs. 3 Satz 2 SGB VIII bei der Beurteilung, ob eine neue Leistung beginnt,
außer Betracht zu bleiben.
Der Verwaltungskostenzuschlag nach § 89c Abs. 2 SGB VIII entsteht nicht bei einem
Er-stattungsanspruch nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Er scheidet darüber hinaus
aus bei schwierig gelagerten Zuständigkeitsfragen.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.237,50 EUR zu bezahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Kosten, die sie in der
Zeit von August 2008 bis August 2011 für Maßnahmen der Jugendhilfe für den
Jugendlichen J. S. aufgewendet hat.
2 Mit Bescheid vom 15.06.2007 bewilligte der Beklagte für den am 17.05.1992
geborenen J. S. für die Dauer von sechs Monaten Hilfe zur Erziehung in Form der
sozialpädagogischen Familienhilfe gemäß den §§ 27, 31 SGB VIII, beginnend ab
dem 18.06.2007. J. lebte damals zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren
Schwester F. bei der Mutter P. S. in … . Das Sorgerecht für J. ist seit jeher bis zu
seiner Volljährigkeit gemeinsam von der Mutter und dem in … lebenden Vater Dr.
D. N. ausgeübt worden. Die sozialpädagogische Familienhilfe hatte zunächst
einen Umfang von drei Stunden pro Woche und wurde von dem Dipl.-Soz.-Päd. U.
R. erbracht. Nach einer Notiz einer Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes des
Beklagten vom 11.06.2007 sei es bei der Bewilligung der Hilfe zur Erziehung
darum gegangen, den Strukturierungsproblemen der Familie zu begegnen und
professionelle Unterstützung bei der Bewältigung der Konflikte zwischen der
Mutter, J. und der Schwester zu leisten.
3 Nach einer späteren Notiz der Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes des Beklagten
vom 19.11.2007 hätten sich die Konflikte zwischen J. und seiner Mutter zugespitzt,
dafür habe sich der Kontakt zum Vater verbessert. Deshalb werde ein Umzug von
J. zum Vater erwogen. Der Einsatz des sozialpädagogischen Familienhelfers sei
aber bereits ab sofort zu verstärken. Mit Bescheid vom 21.11.2007 bewilligte der
Beklagte daraufhin die Gewährung der sozialpädagogischen Familienhilfe um
weitere sechs Monate, beginnend ab dem 17.12.2007 (bis 16.06.2008). Die
sozialpädagogische Familienhilfe wurde bereits ab dem 12.11.2007 im Umfang
von sechs Stunden pro Woche gewährt und von dem bisher beauftragten
Familienhelfer erbracht.
4 In den Weihnachtsferien 2007 eskalierten die Konflikte zwischen der Mutter und J.
und J. zog in den Haushalt seines Vaters nach … um. Die von dem Beklagten bis
zum 16.06.2008 bewilligte sozialpädagogische Familienhilfe wurde bis zum Ende
des Bewilligungszeitraums tatsächlich nach Art und Umfang wie vor dem Umzug
von J. weiter gewährt.
5 Ab dem 15.08.2008 bewilligte die Klägerin auf Antrag der Eltern von J. für die
Dauer eines Jahres intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung für J. gemäß
den §§ 27, 35 SGB VIII. Diese Hilfe wurde durch die Vereinigung … und dort von
der sozialpädagogischen Fachkraft Herrn H. im Umfang von (ebenfalls) sechs
Stunden pro Woche erbracht.
6 Diese Leistungsbewilligung teilte die Klägerin dem Beklagten mit Schreiben vom
27.08.2008 mit. Sie äußerte darin die Auffassung, dass der Beklagte weiterhin für
die Jugendhilfe für J. zuständig sei, und bat um weitere Bearbeitung des Antrags
der Eltern von J. durch den Beklagten. Mit Schreiben vom 30.09.2008 widersprach
der Beklagte dieser Auffassung, weil aufgrund der Bewilligung der intensiven
sozialpädagogischen Einzelbetreuung durch die Klägerin und des Umzugs von J.
zum Vater nach … eine neue Leistung begonnen habe. Wenn die Klägerin von
einer Zuständigkeit des Beklagten ausgehe, hätte sie den Hilfeumfang nicht kraft
eigener Entscheidung erhöhen dürfen.
7 Mit Schreiben vom 04.11.2008 bekräftigte die Klägerin ihre Auffassung zum
Fortbestand des Hilfebedarfs bei J. und damit zur Zuständigkeit des Beklagten und
erklärte, dass sie bis zur Anerkennung der Zuständigkeit des Beklagten
Jugendhilfe für J. auf der Grundlage von § 86d SGB VIII bewillige und dass
demnächst teilstationäre Hilfe für J. erforderlich werde. Der Beklagte werde um
Anerkennung seiner örtlichen Zuständigkeit und seiner
Kostenerstattungsverpflichtung gebeten.
8 Ab dem 03.11.2008 bewilligte die Klägerin Hilfe zur Erziehung für J. in einer
Tagesgruppe gemäß den §§ 27, 32 SGB VIII. Die Klägerin teilte dies dem
Beklagten mit Schreiben vom 14.11.2008 mit und bat gleichzeitig erneut um
Anerkennung der örtlichen Zuständigkeit und um Übernahme des Falls durch den
Beklagten sowie um Anerkennung seiner Kostenerstattungsverpflichtung. In der
vorausgehenden Fortschreibung des Hilfeplans der Klägerin vom 10.11.2008 ist
ausgeführt, dass sich eine problematische Entwicklung ergeben habe, nachdem J.
die Berufsfachschule abgebrochen habe, ohne dies dem Vater zu sagen, der
auswärtig berufstätig sei und deshalb während der Arbeitszeit keine Kontrolle über
seinen Sohn habe. Die bisher bewilligte intensive sozialpädagogische
Einzelbetreuung sei nicht mehr ausreichend. J. benötige eine klare Tagesstruktur
in Form der ganztägigen Unterbringung in einer Tagesgruppe, um seine
Fähigkeiten zu entwickeln.
9 Mit Schreiben vom 04.03.2009 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass nach
seiner Auffassung die Klägerin für die Entscheidung über die Bewilligung von
Jugendhilfeleistungen für J. S. zuständig sei. Denn die im vorliegenden Fall
bewilligte Leistung sei durch den Wohnsitzwechsel des Jugendlichen in den
Haushalt des Vaters in … unterbrochen worden. Der Beklagte habe über die
ursprünglich bis zum 20.06.2008 bewilligte Leistung in Form der
sozialpädagogischen Familienhilfe keine Leistungen mehr bewilligt. In Folgezeit
hätten die Berechtigten solche Leistungen bei der Klägerin beantragt und sie seien
auch von dieser bewilligt worden. Aus der Bewilligung von Hilfe zur Erziehung
nach den §§ 27, 32 SGB VIII ergebe sich, dass die Klägerin einen anderen
erzieherischen Bedarf gesehen habe. Das sei auch naheliegend, weil aufgrund
des neuen sozialen Umfelds und wegen des Wechsels der Hauptbezugsperson
neue Bedingungen gegeben seien. Damit habe sich auch der Lebensmittelpunkt
des Kindes und damit sein gewöhnlicher Aufenthalt beim Vater geändert.
10 In der Fortschreibung des Hilfeplans vom 19.06.2009 kamen die Beteiligten, u. a.
die Eltern von J. und eine Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes der Klägerin, zu dem
Ergebnis, dass auch die Unterbringung in einer Tagesgruppe nicht ausreichend
sei, um J. zu stabilisieren und zu fördern, und dass deshalb eine (vollstationäre)
Unterbringung in einer Wohngruppe erforderlich sei. Dementsprechend bewilligte
die Klägerin ab dem 17.06.2009 bis zum 16.05.2010 für J. Hilfe zur Erziehung in
Form der Heimerziehung gemäß den §§ 27, 34 SGB VIII.
11 In der Fortschreibung des Hilfeplans vom 05.05.2010 kamen die Beteiligten
überein, dass J. auch nach Erreichen der Volljährigkeit (am 17.05.2010)
erzieherischen Bedarf haben werde. Die derzeitige Hilfeform der Unterbringung in
einer Wohngruppe werde weiterhin als geeignet und erforderlich angesehen.
Demgemäß bewilligte die Klägerin auf Antrag von J. eine Fortsetzung der Hilfe,
jetzt als Hilfe für junge Volljährige, in Form der Heimerziehung gemäß den §§ 41,
34 SGB VIII vom 17.05.2010 bis zum 31.08.2010.
12 Nach einem erneuten Hilfeplangespräch am 27.08.2010 bewilligte die Klägerin für
J. für die Zeit vom 01.09.2010 bis zum 31.08.2011 Hilfe für junge Volljährige in
Form der Unterbringung in einer betreuten Wohnform zur Vorbereitung auf ein
selbständiges Leben gemäß den §§ 41, 34 SGB VIII.
13 Am 26.04.2011 verließ J. diese Einrichtung des betreuten Wohnens und kehrte in
den Haushalt des Vaters zurück. Ab dem 27.04.2011 bewilligte die Klägerin für J.
Hilfe für junge Volljährige durch einen Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer bis
Ende August 2011.
14 Am 21.12.2012 hat die Klägerin Klage gegen den Beklagten auf Erstattung der
aufgewendeten Kosten für die bewilligten Jugendhilfemaßnahmen für J. S.
erhoben. Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Ab dem
15.08.2008 habe sie für J. S. Hilfe zur Erziehung im Rahmen einer vorläufigen
Leistungsverpflichtung nach § 86d SGB VIII erbracht. Zuvor habe der Beklagte in
eigener Zuständigkeit solche Leitungen gewährt. Dass die Weiterbewilligung von
Hilfeleistungen notwendig gewesen sei, habe der Beklagte selbst nicht in Abrede
gestellt. Aus einer Stellungnahme des Sozialen Dienstes des Beklagten vom
10.06.2008 gehe hervor, dass ein Auslaufen der sozialpädagogischen
Familienhilfe für J. in der Übergangszeit sehr ungünstig sei. Dennoch habe der
Beklagte seine weitere Zuständigkeit in Abrede gestellt. Wegen der
fortbestehenden Zuständigkeit des Beklagten habe sie (die Klägerin) danach
gegen den Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 89c SGB VIII.
Entgegen der Auffassung des Beklagten habe eine Unterbrechung der Hilfe nicht
stattgefunden. Die hierfür erforderliche Unterbrechung von drei Monaten sei schon
nicht erreicht. Der Leistungsbegriff habe alle zur Deckung eines qualitativ
unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs zu
berücksichtigen. Der Wohnortwechsel des Hilfebedürftigen habe hier keine
zuständigkeitsverändernde Wirkung gehabt. Die für eine solche
Zuständigkeitsveränderung erforderlichen Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 SGB
VIII seien nicht gegeben. Sie (die Klägerin) habe ihre Leistungen nur nach
Maßgabe von § 86d SGB VIII erbracht. Demnach sei der Beklagte gemäß § 89c
SGB VIII verpflichtet, die Jugendhilfeaufwendungen in der geltend gemachten
Höhe zu erstatten. Hilfsweise ergebe sich der Anspruch aus § 105 SGB X. In
einem vergleichbaren Fall habe der Beklagte seine Zuständigkeit aus den von ihr
(der Klägerin) im vorliegenden Verfahren vorgebrachten Gründen abgelehnt. Der
Beklagte habe hiernach auch im Sinne von § 89a Abs. 2 SGB VIII pflichtwidrig
gehandelt und sei deshalb zur Zahlung auch des so gen.
Verwaltungskostendrittels verpflichtet.
15 Die Klägerin beantragt,
16 den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 130.128,77 EUR zu bezahlen.
17 Der Beklagte beantragt,
18 die Klage abzuweisen.
19 Zur Begründung führt der Beklagte aus: Die Weitergewährung von Hilfeleistungen
über den 20.06.2008 hinaus sei nicht erfolgt, weil J. S. bereits am 28.12.2007 in
den Haushalt des Vaters nach … verzogen sei. Die späteren Leistungen seien
dementsprechend auch allein von der Klägerin bewilligt worden. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei ein Neubeginn der Leistung
anzunehmen, wenn eine Gesamtmaßnahme beendet oder die
Leistungsgewährung eingestellt worden sei und sich später ein neuer Hilfebedarf
ergebe. Hier sei eine solche Leistungsunterbrechung eingetreten, weil die
gewährte sozialpädagogische Familienhilfe am 20.06.2008 geendet habe und die
Klägerin erst ab dem 15.08.2008 Leistungen nach den §§ 27, 35, 39 SGB VIII
erbracht habe. Diese Auffassung habe er (der Beklagte) der Klägerin mit Schreiben
vom 30.09.2008 und 04.03.2009 mitgeteilt. Hierauf habe die Klägerin erst mit der
Klageerhebung und nach Ergehen einer neuen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (vom 09.12.2010) reagiert. Allein das mache es
unverständlich, dass die Klägerin zusätzlich den Verwaltungskostenzuschlag
geltend mache. Der Beklagte habe sich an der früheren Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (vom 29.01.2004) orientiert. Dass die Klägerin nicht
früher geklagt habe, lasse darauf schließen, dass auch sie sich ursprünglich an
dieser früheren Rechtsprechung orientiert habe.
20 Der Kammer liegen die Akten der Klägerin (2 Hefte) und des Beklagten (1 Heft)
über die jugendhilferechtlichen Angelegenheiten des J. S. vor. Der Inhalt dieser
Akten und der Gerichtsakten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung;
hierauf wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
21
1.
Die auf Zahlung gerichtete Leistungsklage ist zulässig. Zwar hat die Klägerin
den Beklagten nach Lage der Akten zu keinem Zeitpunkt vor Klageerhebung am
21.12.2012 explizit zur Zahlung des klageweise geltend gemachten Anspruchs
aufgefordert und sie hat den Beklagten auch letztmals mit Schreiben vom
04.11.2008 um Anerkennung ihrer Kostenerstattungspflicht als örtlich zuständiger
Jugendhilfeträger gebeten. Doch ist zum einen streitig, ob ein vorheriges
außergerichtliches Geltendmachen einer Leistung unter dem Aspekt des
Rechtsschutzbedürfnisses überhaupt Sachurteilsvoraussetzung einer allgemeinen
Leistungsklage ist (vgl. hierzu Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl. 2011, § 17
RdNr. 11, und Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, Vorb. § 40 RdNr. 51, jew.
m.w.N.), und kommt zum anderen in diesem Fall hinzu, dass der Beklagte seine
örtliche Zuständigkeit und die daraus folgende Erstattungspflicht in Bezug auf die
nach dem 20.06.2008 zu treffenden jugendhilferechtlichen Entscheidung auf
mehrfache Bitten der Klägerin hin bestritten hat. Zuletzt hatte der Beklagte der
Klägerin mit Schreiben vom 04.03.2009 mitgeteilt, dass seit dem 20.06.2008 nach
seiner Auffassung allein die Klägerin für Entscheidungen über die Bewilligung von
Jugendhilfeleistungen für J. S. zuständig sei. Angesichts dieser klaren Aussage
des Beklagten durfte die Klägerin davon ausgehen, dass der Beklagte sich in der
Frage der örtlichen Zuständigkeit festgelegt hatte und eine daraus abgeleitete
Kostenerstattungspflicht (zur Verknüpfung von Zuständigkeit und Kostenerstattung
im Jugendhilferecht siehe u. a. BVerwG, Urteil vom 19.08.2010, NVwZ-RR 2011,
67) ebenso ablehnen würde. Das Bestehen auf einer vorgerichtlichen
Geltendmachung des Zahlungsanspruchs wäre in diesem Fall pure Förmelei,
zumal der Beklagte seiner Erstattungspflicht weiterhin auch im vorliegenden
Klageverfahren in der Sache entgegentritt (vgl. zu ähnlichen Überlegungen bei der
Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens u. a. BVerwG, Urteil vom 15.09.2010,
NVwZ 2011, 501, m.w.N.).
22
2.
Die Klage ist aber nur in dem aus der Urteilformel ersichtlichen (geringen)
Umfang von 2.237,50 EUR begründet, nämlich nur insoweit, als die Klägerin von
dem Beklagten Kostenerstattung für die vom 15.08.2008 bis Ende Oktober 2008
bewilligte und tatsächlich durchgeführte intensive sozialpädagogische
Einzelbetreuung fordert (2.1). Im Übrigen und damit ganz überwiegend ist die
Klage nicht begründet, da die Klägerin keinen Anspruch gegen den Beklagten auf
Erstattung der Aufwendungen für die vom 03.11.2008 bis August 2011 gewährten
Leistungen der Jugendhilfe in Form der Betreuung in einer Tagesgruppe, der
Unterbringung in einer Wohngruppe, der Unterbringung in einer betreuten
Wohnform und der Betreuung durch einen Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer
hat (2.2).
23
2.1
Für den von der Klägerin geltend gemachten Erstattungsanspruch findet sich
im Achten Buch Sozialgesetzbuch keine Anspruchsgrundlage.
24
2.1.1
Insbesondere der von der Klägerin vorrangig in Betracht gezogene § 89c
Abs. 1 Satz SGB VIII (in der hier maßgeblichen bis zum 31.12.2011 geltenden
Fassung; alle folgenden §§-Angaben des Achten Buchs Sozialgesetzbuch
betreffen diese Gesetzesfassung) scheidet als Rechtsgrundlage aus. Nach dieser
Vorschrift sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung
nach § 86d SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten,
dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a und
86b SGB VIII begründet wird. Nach § 86d SGB VIII ist dann, wenn die örtliche
Zuständigkeit nicht feststeht oder wenn der zuständige örtliche Träger nicht tätig
wird, der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich
sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige oder bei Leistungen
nach § 19 SGB VIII der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich
aufhält.
25 Auf § 86d SGB VIII (und damit auch auf § 89 Abs. 1 Satz SGB VIII) könnte die
Klägerin sich aber nur dann berufen, wenn zum einen entweder die örtliche
Zuständigkeit nicht feststand oder der Beklagte als zuständiger örtlicher Träger
nicht tätig geworden ist, und wenn zum anderen J. S. sich vor Beginn der Leistung
tatsächlich im Zuständigkeitsbereich der Klägerin aufgehalten hat. Hier fehlt es
bereits an letzterer Voraussetzung. Die Klägerin beruft sich zur Begründung ihres
Erstattungsanspruchs gerade darauf, dass der Beklagte deshalb für die gesamten,
zum größten Teil von ihr (der Klägerin) bewilligten Hilfeleistungen örtlich zuständig
war, weil J. S. seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung am Ort des
gewöhnlichen Aufenthalts seiner Mutter in … und damit im Zuständigkeitsbereich
des Beklagten hatte. Damit wäre nur dann Raum für die Anwendung von § 86d
SGB VIII, wenn der gewöhnliche Aufenthalt von J. vor dem von der Klägerin
behaupteten Beginn der Leistung am 15.06.2007 in …, sein tatsächlicher
Aufenthalt aber in … gewesen wäre. Das ist aber nicht der Fall, vielmehr hielt sich
J. damals unstreitig auch tatsächlich im Haushalt seiner Mutter in … auf. Damit
scheidet ein Anspruch der Klägerin aus den §§ 89c Abs. 1 Satz 2 und 86d SGB
VIII aus (vgl. hierzu Bayer. VGH, Urteil vom 03.03.2009, NDV-RD 2009, 150, und
juris, m.w.N.). Entgegen der vom Vertreter der Klägerin in der mündlichen
Verhandlung geäußerten Auffassung ist der Beginn der Leistung in § 86d SGB VIII
nicht anders zu beurteilen als in den §§ 86 bis 86b SGB VIII (siehe hierzu unten
unter 2.1.2.2).
26 Ebenso wenig ergibt sich aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ein
Kostenerstattungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten. Danach sind
Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB
VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem
Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Nach § 86c Abs. 1
SGB VIII bleibt der bisher zuständige örtliche Träger, wenn die örtliche
Zuständigkeit für eine Leistung wechselt, so lange zur Gewährung der Leistung
verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt.
Dieser hat dafür Sorge zu tragen, dass der Hilfeprozess und die im Rahmen der
Hilfeplanung vereinbarten Hilfeziele durch den Zuständigkeitswechsel nicht
gefährdet werden. Diese Vorschriften kämen hier nur dann zur Anwendung, wenn
die Klägerin zunächst örtlich zuständig gewesen wäre, die örtliche Zuständigkeit
später aber auf den Beklagten übergegangen wäre. Der vorliegende Fall liegt
jedoch gerade umgekehrt. Die Klägerin hat nie als bisher zuständiger
Leistungsträger geleistet, sondern begehrt Kostenerstattung von dem nach ihrer
Auffassung von Anfang an durchgehend örtlich zuständigen Beklagten.
27 Die §§ 89c Abs. 3 und 89 SGB VIII, die eine Kostenerstattung durch den
überörtlichen Träger regeln, scheiden ebenfalls aus, da sowohl der Beklagte als
auch die Klägerin örtliche Träger der Jugendhilfe sind.
28
2.1.2
Als Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch der Klägerin
kommt hiernach allein die (allgemeine) Regelung in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X in
Betracht. Nach dieser Vorschrift ist der zuständige oder zuständig gewesene
Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger
Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1
SGB X vorliegen, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der
Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
29
2.1.2.1
Enthält das Achte Buch Sozialgesetzbuch keine einschlägige spezielle
Kostenerstattungsregelung, so ist auf die allgemeinen Regelungen im Zehnten
Buch Sozialgesetzbuch über die Erstattungsansprüche von Leistungsträgern
untereinander zurückzugreifen. Denn es ergäbe sich im Sinne von § 37 Satz 1
SGB I nur dann Abweichendes von den §§ 102 ff. SGB X, wenn diese Vorschriften
jeden weiteren Erstattungsanspruch auf der Grundlage anderer Sachverhalte
ausschlössen. Das ist aber nicht der Fall. Es war die erklärte Absicht des
Gesetzgebers, mit den §§ 89 ff. SGB VIII die Lücken des Erstattungsrechts im
Jugendhilferecht zu schließen, nicht war aber beabsichtigt, die allgemeinen
Erstattungsregelungen zu verdrängen. Demzufolge bleibt insbesondere § 105
SGB X zum Schutz des unzuständigen Leistungsträgers auch zwischen
Jugendhilfeträgern anwendbar (Bayer. VGH, Urteil vom 03.03.2009, a.a.O., m.w.N.;
Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, vor § 89 RdNr. 13, m.w.N.; Schindler, in:
Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, Vorbem. zu den §§ 89 bis 89h,
RdNr. 3, m.w.N.; vgl. hierzu auch BVerwG, Urteile vom 25.03.2010, NVwZ-RR
2010, 686, und vom 29.01.2004, NVwZ-RR 2004, 584; VG Düsseldorf, Urteil vom
05.11.2009 - 24 K 1012/09 -, juris, m.w.N.).
30 Der Anspruch auf Kostenerstattung aus § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X scheitert nicht
an § 102 Abs. 1 SGB X. Denn die Klägerin hat die Jugendhilfeleistungen nicht
„aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig erbracht“. Das hätte vorausgesetzt,
dass der Charakter der Erbringung einer vorläufigen Leistung (z. B. nach § 43 SGB
I) von Anfang an festgestanden hatte (Bayer. VGH, Urteil vom 03.03.2009, a.a.O.,
m.w.N.; BSG, Urteil vom 22.05.1985 - 1 RA 33/84 -, juris; Roos, in: von Wulffen,
SGB X, 7. Aufl. 2010, § 102 RdNr. 6, m.w.N.), was hier nicht der Fall war (siehe
hierzu auch unten unter 2.3).
31 Die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen hier jedoch nur für
den oben genannten Zeitraum vom 15.08.2008 bis Ende Oktober 2008 vor, das
heißt nur für den Zeitraum der Leistungsbewilligung durch die Klägerin in Form der
intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung gemäß den §§ 27, 35 SGB VIII.
Denn nur in diesem Zeitraum war noch der Beklagte für die geleistete Jugendhilfe
zuständig und die Klägerin unzuständig.
32
2.1.2.2
Die Frage nach der Zuständigkeit des Leistungsträgers im Sinne von § 105
Abs. 1 Satz 1 SGB X bestimmt sich nach dem jeweiligen Fachgesetz, hier nach
dem Achten Buch Sozialgesetzbuch. Im vorliegenden Fall beantwortet sich diese
Frage nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Danach richtet sich die Zuständigkeit,
wenn die Personensorge im Fall von § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, das heißt bei
verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten der Elternteile, den Eltern gemeinsam
zusteht, nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder
der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt
hatte.
33 Nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII war zunächst der Beklagte örtlich zuständiger
Jugendhilfeträger. Denn bei Beginn der Bewilligung jugendhilferechtlicher
Maßnahmen für J. am 15.06.2007 lebte dieser bei seiner (ebenso wie der in …
lebende Vater) sorgeberechtigten Mutter in …, also im Zuständigkeitsbereich des
Beklagten. Die damals von dem Beklagten bis Mitte Dezember 2007 bewilligte
sozialpädagogische Familienhilfe nach den §§ 27, 31 SGB VIII wurde noch im
November 2007 von drei auf sechs Stunden pro Woche erhöht und ab dem
17.12.2007 - ebenfalls noch von dem Beklagten - unter Beibehaltung von Art und
Umfang der Leistung bis zum 16.06.2008 verlängert. Der Umzug von J. Ende
Dezember 2007 zu seinem im Zuständigkeitsbereich der Klägerin lebenden Vater
führte nicht zu einer Beendigung dieser Leistung. Vielmehr wurde diese Leistung
am neuen Aufenthaltsort von J. sowohl nach ihrer rechtlichen
Bewilligungsgrundlage als auch in tatsächlicher Hinsicht unverändert (in
demselben Umfang und durch dieselbe Fachkraft, Herrn R.) wie vor dem Umzug
weitergeführt. Allein der Wechsel des (gewöhnlichen) Aufenthaltsorts von J. hat
deshalb, ohne dass das einer weitergehenden Begründung bedürfte, keinen
neuen Leistungsbeginn bewirkt. Das wird zumindest bis zum Ende der von dem
Beklagten bewilligten sozialpädagogischen Familienhilfe am 20.06.2008 auch von
keinem der Prozessbeteiligten behauptet.
34 Entgegen der Auffassung des Beklagten ist aber auch in der Bewilligung einer
weiteren Jugendhilfeleistung in Form der intensiven sozialpädagogischen
Einzelbetreuung ab dem 15.08.2008 durch die Klägerin noch keine neue Leistung
im Sinne von § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zu sehen.
35 Nach der zu verschiedenen Regelungen innerhalb des § 86 SGB VIII ergangenen
Rechtsprechung (vgl. zum Folgenden u. a. BVerwG, Urteile vom 19.10.2011,
NVwZ-RR 2012, 111, vom 19.08.2010, a.a.O., und vom 29.01.2004, a.a.O.;
ebenso Nieders. OVG, Beschluss vom 14.03.2012 - 4 LV 143/09 -, juris; OVG
NRW, Beschluss vom 28.02.2012 - 12 A 1263/11 -, juris; Bayer. VGH, Urteil vom
03.03.2009, a.a.O.; siehe hierzu auch Urteil der Kammer vom 28.11.2013 - 4 K
657/13 -) sind unter dem Begriff der „Leistung“, an deren Beginn auch § 86 Abs. 2
Satz 2 SGB VIII für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit anknüpft,
unabhängig von der Hilfeart und Hilfeform, alle im Rahmen einer
Gesamtbetrachtung zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche
Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und
Hilfen anzusehen, sofern sie ohne Unterbrechung gewährt worden sind, und zwar
auch dann, wenn sich bei einem auf einen längeren Zeitraum angelegten
Hilfeprozess die Schwerpunkte innerhalb des Hilfebedarfs verschieben und für die
Ausgestaltung der Hilfe Modifikationen, Änderungen oder Ergänzungen bis hin zu
einem Wechsel der Hilfeart erforderlich werden. Es kommt insofern auch nicht
darauf an, ob die gegenwärtig benötigte Jugendhilfeleistung einer anderen
Nummer des § 2 Abs. 2 SGB VIII unterfällt oder innerhalb des Achten Buchs
Sozialgesetzbuch nach einer anderen Rechtsgrundlage zu gewähren ist als die
bisherige Leistung, sondern allein darauf, ob sich die Hilfegewährung ungeachtet
aller Modifikationen, Ergänzungen und Änderungen als Fortsetzung der
ursprünglichen Leistung darstellt oder ob sie der Deckung eines andersartigen,
neu entstandenen Bedarfs dient.
36 Die Frage, ob unterschiedliche jugendhilferechtliche Maßnahmen als eine einzige
„Leistung“ im Sinne von § 86 SGB VIII anzusehen sind oder nicht, lässt sich vor
dem Hintergrund dieser Rechtsprechung nicht durch einen Vergleich der Inhalte
der verschiedenen Hilfen miteinander beantworten. Entscheidend ist nicht, ob
diese verschiedenen Jugendhilfemaßnahmen qualitativ vergleichbar sind, etwa
demselben Leistungsempfänger zustehen und eine ähnliche Eingriffsintensität
haben, insbesondere in vergleichbarem Maß in den Alltag des Kindes bzw.
Jugendlichen hineinreichen und diesen beeinflussen. Wäre vorliegend ein
Vergleich der jugendhilferechtlichen Maßnahmen vorzunehmen, wäre es unter
Umständen begründbar, dass die ab dem 15.08.2008 von der Klägerin bewilligte
Betreuung von J. S. durch eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung für
ihn eine andere Qualität gehabt und stärker in seine Lebensbereiche eingegriffen
habe als die zuvor vom Beklagten bewilligte sozialpädagogische Familienhilfe.
Dies aber ist nicht der Maßstab. Sind der jugendhilferechtliche Bedarf des
Betroffenen wie auch seine Lebenssituation qualitativ unverändert, können selbst
so unterschiedliche Maßnahmen wie sozialpädagogische Familienhilfe und die
später bewilligte Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung oder - wie hier
zunächst - intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung eine einheitliche
„Leistung“ im Sinne von § 86 SGB VIII darstellen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom
19.10.2011, a.a.O.), ebenso wie umgekehrt auch Hilfen, die auf der gleichen
Rechtsgrundlage erfolgen, im Einzelfall einem qualitativ andersartigen
jugendhilferechtlichen Bedarf dienen können (vgl. dazu OVG NRW, Beschluss
vom 28.02.2012, a.a.O.).
37 Danach kommt es allein darauf an, ob sich der spezifische jugendhilferechtliche
Bedarf von J. S. nach Auslaufen der sozialpädagogischen Familienhilfe qualitativ
geändert hat und ob die (knapp zwei Monate dauernde) Unterbrechung zwischen
der Beendigung der sozialpädagogischen Familienhilfe am 20.06.2008 und der
Neubewilligung der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung am
15.08.2008 zum Beginn einer neuen Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII geführt
hat.
38 Das ist nicht der Fall. Denn allein der Umstand, dass J. S. seit Weihnachten 2007
im Haushalt seines Vaters lebte, führte im konkreten Fall noch nicht zu einer
Änderung der gewährten Hilfe in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe
(siehe zu einem vergleichbaren Fall auch Bayer. VGH, Urteil vom 03.03.2009,
a.a.O.). Auch der Umfang dieser Hilfe von sechs Stunden pro Woche und die
Person des Familienhelfers blieben nach dem Umzug von J. dieselben. Nach dem
Auslaufen der sozialpädagogischen Familienhilfe befürworteten die Sozialen
Dienste sowohl des Beklagten als auch der Klägerin ausdrücklich eine Fortsetzung
der Hilfegewährung für J. Nach einem Schreiben des Sozialen Dienstes des
Beklagten an die entsprechende Organisationseinheit der Klägerin vom
10.06.2008 wurde das Auslaufen der sozialpädagogischen Familienhilfe als sehr
ungünstig beurteilt und es wurde sehr begrüßt, „wenn eine Fortsetzung der Hilfe
auch nach dem Wechsel der Zuständigkeiten möglich wäre“; daneben wurde eine
bereits eingeleitete Begleitung von J. durch einen Kinder- und
Jugendpsychotherapeuten zusätzlich als sinnvoll erachtet. Dem entspricht die von
der Klägerin eingeholte fachpsychotherapeutische Stellungnahme des Herrn S.
vom 02.07.2008, derzufolge eine weitere engmaschige sozialpädagogische
Betreuung von J. als sehr dringlich erachtet wurde. Auch der bis zum 20.06.2008
im vorliegenden Fall tätige Familienhelfer R. kommt in seinem schriftlichen Bericht
vom 02.04.2008 zu dem Ergebnis, dass J. weiterhin Unterstützung in seiner
Tagesstruktur brauche und dass auch sein Vater bei Krisen- und
Konfliktsituationen Unterstützung brauche. Alles das spricht dafür, dass der
jugendhilferechtliche Bedarf von J. nach dem Ende der sozialpädagogischen
Familienhilfe qualitativ derselbe war wie zuvor. Dass dieser Bedarf fortan, ab dem
15.08.2008, durch eine andere Maßnahme, nämlich durch eine intensive
sozialpädagogische Einzelbetreuung nach den §§ 2 Abs. 2 Nr. 4, 35 SGB VIII
anstelle einer sozialpädagogischen Familienhilfe nach den §§ 2 Abs. 2 Nr. 4, 31
SGB VIII (zu den unterschiedlichen Inhalten, Zielen und Schwerpunkten beider
Maßnahmen siehe u. a. Wiesner, a.a.O., § 31 RdNrn. 3 bis 18 und § 35 RdNrn. 11
bis 21), gedeckt wurde, ändert nichts am Fortbestand des im Wesentlichen
gleichen jugendhilferechtlichen Bedarfs und damit an der Qualifizierung dieser
Maßnahme als „eine“ Leistung im Sinne von § 86 SGB VIII. Bezeichnenderweise
hat auch der Vater von J. die neue von Herrn H. von der Vereinigung … ab dem
15.08.2008 erbrachte Hilfeleistung in ihrer Andersartigkeit gar nicht
wahrgenommen, was darin zum Ausdruck kommt, dass er in seinem Schreiben an
die Klägerin vom 21.01.2008 die Betreuung durch Herrn H. weiterhin als „SPFH“,
das heißt als sozialpädagogische Familienhilfe, bezeichnet.
39 Dieser sich aus den Akten der Beteiligten ergebende Befund hat sich durch die
Angaben der sozialpädagogischen Fachkräfte des Sozialen Dienstes der Klägerin
und des Beklagten in der mündlichen Gerichtsverhandlung bestätigt. Zwischen
ihnen bestand im Kern Einigkeit darin, dass die vom 15.06.2007 bis Ende Oktober
2008 gewährten Hilfen, das heißt sowohl die von dem Beklagten bewilligte
sozialpädagogische Familienhilfe als auch die von der Klägerin später bewilligte
sozialpädagogische Einzelbetreuung, den Zwecken dienten, zum einen die
Probleme von J. aufgrund seiner nachlässigen Einstellung zu seinen Pflichten
gegenüber der Schule als auch gegenüber seinem familiären Umfeld zu
bearbeiten und zum anderen auch den jeweiligen familiären Bezugspersonen, in
… vor allem der Mutter und nach dem Umzug nach … dem Vater, Hilfestellung zu
geben. Aufgrund des Umzugs von J. zum Vater hat sich nach den Darstellungen
der beiden Fachkräfte lediglich eine andere Akzentuierung dieser Hilfen in der
Weise ergeben, dass der Fokus nunmehr (noch) stärker auf J. selbst gerichtet war.
Aber gleichzeitig bestätigten beide Fachkräfte, dass der jeweilige Hilfeleistende,
zunächst Herr R., danach Herr H., wie früher der Mutter nun auch dem Vater mit
Rat und Tat zur Seite stehen sollte und stand. Die zuvor beschriebene geänderte
Akzentuierung ergab sich bereits während des Laufs der bis zum 20.06.2008
bewilligten sozialpädagogischen Familienhilfe und nicht erst mit Aufnahme der
sozialpädagogischen Einzelbetreuung am 15.08.2008. Dass die Person des
Hilfeleistenden überhaupt wechselte, hat nach den übereinstimmenden Aussagen
aller Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ebenfalls nichts mit einer
geänderten Bedarfslage zu tun, sondern vielmehr damit, dass die Klägerin
aufgrund arbeitsvertraglicher Bindungen einem anderen (sozialpädagogischen)
Dienstleister verpflichtet war; in der Sache und von der persönlichen Qualifikation
her hätte es auch für die Durchführung der sozialpädagogischen Einzelbetreuung
bei Herrn R. als dem bisherigen Hilfeleistenden bleiben können (aus diesen
Gründen ist der vorliegende Fall nicht mit dem Fall vergleichbar, der dem
Beschluss des OVG NRW vom 28.02.2012, a.a.O., zugrunde lag, in welchem in
dem Umzug eines Kindes von einem Elternteil zum anderen eine grundlegend
neue Lebenssituation gesehen und deshalb ein Neubeginn der Leistung
angenommen wurde).
40 Der Umstand, dass die von dem Beklagten bewilligte sozialpädagogische
Familienhilfe bereits am 20.06.2008 endete und die von der Klägerin bewilligte
intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung erst wieder am 15.08.2008, also
knapp zwei Monate später, einsetzte, bedeutet keine zur Beendigung der
Hilfeleistung führende Unterbrechung. Denn, wie zuvor ausgeführt, wurde die ab
dem 15.08.2008 wieder einsetzende Hilfeleistung von allen Beteiligten als
notwendige Fortsetzung der früheren Hilfeleistung angesehen. Allen Beteiligten
war bereits im Juni 2008 klar, dass die Hilfe im August 2008, spätestens mit Beginn
des neuen Schuljahrs, fortgesetzt werden musste. Die Unterbrechung hatte ihren
Grund allein in dem Ende des zunächst bestimmten Bewilligungszeitraums sowie
in den Tatsachen des von J. absolvierten Schulabschlusses und der
bevorstehenden Sommerferien. Im Übrigen hätte in diesem Zusammenhang eine
kurzfristige Unterbrechung der Hilfeleistung von bis zu drei Monaten nach den
insoweit entsprechend anzuwendenden §§ 86 Abs. 7 Satz 4, 86a Abs. 4 Satz 2
und 86b Abs. 3 Satz 2 SGB VIII ohnehin außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerwG,
Urteil vom 29.01.2004, a.a.O.; Nieders. OVG, Beschluss vom 14.03.2012, a.a.O.).
41
2.2
Demgegenüber liegen die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X
für einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin ab der (vorzeitigen und
abrupten) Beendigung der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung Ende
Oktober 2008 und der Änderung der Hilfeleistung durch Bewilligung der Erziehung
von J. in einer Tagesgruppe ab dem 03.11.2008 nicht mehr vor. Denn mit dieser
Hilfeänderung reagierte die Klägerin auf eine von ihr in dieser Zeit festgestellte
qualitative Änderung des bei J. bestehenden jugendhilferechtlichen Bedarfs, da es
sich nun herausstellte, dass J. an den Werk- und damit auch an den Schultagen
wegen der berufsbedingten Abwesenheit des Vaters von den frühen
Morgenstunden bis zum Abend allein auf sich gestellt und nicht in der Lage war,
diese Freiheiten gemäß den Vorgaben seines Vaters und des Einzelbetreuers
ohne Schaden für seine weitere Entwicklung zu gestalten. Manifest rückte diese
Problemlage in den Vordergrund, als J. den Besuch der Berufsfachschule zu
Beginn des Schuljahres 2008/2009 von sich aus nach drei Tagen abbrach, ohne
seinem Vater oder dem Betreuer etwas davon zu sagen, und während der
Schulzeit einfach allein zu Hause blieb. Es stellte sich ferner heraus, dass J. nicht
in der Lage war, sich während der Abwesenheit seines Vaters in dessen Haushalt
selbst zu versorgen, seinem Tagesablauf eine sinnvolle Struktur zu geben und den
selbstgefährdenden Umgang mit Computerspielen zu begrenzen (siehe
Fortschreibung des Hilfeplans vom 10.11.2008 sowie Stellungnahme von Herrn H.
vom 17.10.2008 und Schreiben des Vaters von J., Dr. N., vom 21.10.2008). Um J.
diese Tagesstruktur und damit auch den Rahmen für eine erfolgversprechende
schulische Entwicklung zu geben, bewilligte die Klägerin ab dem 03.11.2008 die
Aufnahme von J. in der Tagesgruppe der Einrichtung „W.“. Damit reagierte die
Klägerin auf einen neuen, von ihr selbst, aber auch von dem Beklagten zuvor nicht
so eingeschätzten Bedarf. Hierbei handelte es sich qualitativ um einen
andersartigen Bedarf und nicht etwa (nur) um einen gesteigerten, in der Sache
aber gleichbleibenden Hilfebedarf. Fortan ging es nicht mehr wie bisher vorrangig
um die Bewältigung von Krisensituationen innerhalb der jeweiligen Familie - bis
Ende 2007 im Haushalt der Mutter, danach im Haushalt des Vaters - und die
soziale Unterstützung aller Akteure innerhalb des jeweiligen Beziehungsgeflechts,
vielmehr ging es von da an vor allem darum, für J. einen Ort außerhalb der
Wohnung von Vater oder Mutter zu finden, an dem er sich tagsüber aufhalten
kann, ohne weiteren Schaden in seiner Entwicklung zu nehmen, und an dem ihm
umfassende, zeitlich lückenlose Unterstützung bei der Strukturierung seines
Tagesablaufs und der dabei zu bewältigenden schulischen und sonstigen
Aufgaben gegeben wird.
42 Danach begann mit der Bewilligung der Erziehung von J. in einer Tagesgruppe ab
dem 03.11.2008 eine neue, auf einen anderen jugendhilferechtlichen Bedarf
gerichtete Leistung. Dem steht nicht entgegen, dass die Unterbringung außerhalb
der Familie schon seit langem im Raum stand und dass auch die Mutter schon
während des Aufenthalts von J. bei ihr den Wunsch hatte, ihn außerhalb der
Familie unterzubringen. Denn dieser Wunsch entsprang ersichtlich ihrer
Überforderung im Umgang mit J. und in ihren Schwierigkeiten, ihm Grenzen zu
setzen und ihn zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Ihr lag dementsprechend
auch nicht an einem anderen sozialpädagogischen Erziehungskonzept, sondern
vor allen Dingen daran, sich selbst und ihre Tochter von den täglichen
aufreibenden Auseinandersetzungen mit J. zu entlasten. Deshalb war es auch im
Sinne der Mutter und entsprach ihren Bedürfnissen, dass J. im Dezember 2007
zum Vater nach … zog. Dass dort beim Vater zunächst der Bedarf von J. nach
auswärtiger teilstationärer Unterbringung und Betreuung tatsächlich nicht erkannt
worden und dementsprechend auch nicht Inhalt der bewilligten Hilfeleistung war,
zeigt sich daran, dass die bisherigen Hilfen (mit geringfügig veränderter
Akzentuierung [siehe oben unter 2.1.2.1]) über zehn Monate hinweg fortgesetzt
wurden, ohne dass ernsthaft in Betracht gezogen wurde, dass er während der
langen Abwesenheiten seines Vaters fremder Aufsicht und Betreuung bedürfte.
Erst durch die eigenmächtige Aufgabe der Berufsfachschule von J. im Herbst 2008
rückte dieser Bedarf, wie dargestellt, unweigerlich in den Fokus aller Beteiligten.
Dadurch offenbarte sich ein qualitativ anderer jugendhilferechtlicher Bedarf, dem
die Klägerin auch mit einem abrupten Abbruch der bisherigen Hilfeleistung und
dem Beginn einer völlig andersartigen Leistung mit dem Schwerpunkt auf eine
zumindest teilweise auswärtige Unterbringung und Betreuung ab dem 03.11.2008
begegnete.
43 Vor Beginn dieser neuen Leistung (am 03.11.2008) hatte J. seinen gewöhnlichen
Aufenthalt beim Vater in …, so dass nach Maßgabe von § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB
VIII von da an die Klägerin der zuständige örtliche Jugendhilfeträger war. Das gilt
auch für die später bewilligten weiteren jugendhilferechtlichen Leistungen für J. als
Jugendlichen und als jungem Volljährigen in Form der Unterbringung in einer
Wohngruppe (ab dem 27.06.2009), der Unterbringung in einer betreuten Wohnform
(ab dem 01.09.2010) und der Betreuung durch einen
Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer (ab dem 27.04.2011).
44 Aus diesem Grund scheidet für die nach dem 03.11.2008 gewährten
jugendhilferechtlichen Leistungen eine Kostenerstattung durch den Beklagten auf
der Grundlage von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X aus.
45
2.3
Zu dem gleichen Ergebnis gelangte man im Übrigen auch, wenn man in
Abweichung von der hier (siehe oben unter 2.1.2) vertretenen Auffassung § 102
Abs. 1 SGB X anstelle von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X für anwendbar hielte, weil
die Klägerin die von ihr bewilligten Leistungen auf Grund gesetzlicher Leistungen
(nur) vorläufig erbracht habe. Denn die Frage, ob der Beklagte ein zur Leistung
verpflichteter Leistungsträger war, beurteilt sich nach dieser Vorschrift genauso,
das heißt nach denselben Zuständigkeitsregelungen, wie im Fall der Anwendung
des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X.
46
3.
Soweit der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin begründet ist (siehe oben
unter 2.1), steht dem nicht die Vorschrift des § 111 SGB X entgegen. Nach Satz 1
dieser Vorschrift - Satz 2 ist in Fällen der vorliegenden Art nicht anzuwenden (siehe
VG Regenburg, Urteil vom 24.10.2013 - RO 7 K 13.218 -, juris, m.w.N.) - ist der
Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn
nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung
erbracht wurde, geltend macht. An eine solche Erklärung sind keine besonderen
formalen oder inhaltlichen Anforderungen zu stellen (BVerwG, Urteil vom
19.08.2010, a.a.O.). Es reicht, wenn der Erstattungspflichtige anhand der Erklärung
erkennen kann, ob er mit einer Erstattungspflicht zu rechnen hat (vgl. hierzu Roller,
in: von Wulffen, a.a.O., § 111 RdNr. 13, m.w.N.). Diesen Anforderungen genügten
die beiden zeitlich unmittelbar nach Ablauf der kostenerstattungspflichtigen
Leistungen an den Beklagten versandten Schreiben der Klägerin vom 04.11.2008
und 14.11.2008, in denen der Beklagte jeweils um Anerkennung seiner
Kostenerstattungspflicht gebeten wurde.
47
4.
Die Höhe der der Klägerin zustehenden Kostenerstattung beläuft sich danach
auf lediglich 2.237,50 EUR, das heißt auf die Kosten in Höhe der an die
sozialpädagogische Fachkraft gezahlten Vergütung für die bewilligte intensive
sozialpädagogische Einzelbetreuung von jeweils 895 EUR für die vollen Monate
September und Oktober 2008 sowie von 447,50 EUR für den halben Monat
August 2008.
48
5.
Soweit die Klage auch darauf gerichtet ist, den Beklagten zur Zahlung eines
Verwaltungskostenzuschlags in Höhe eines Drittels der von der Klägerin
aufgewendeten Kosten zu verurteilen, ist die Klage ebenfalls unbegründet. Ein
solcher Anspruch könnte allein auf § 89c Abs. 2 SGB VIII gestützt werden und
setzt die vorherige Bejahung eines Anspruchs nach § 89c Abs. 1 SGB VIII voraus.
Schon deshalb, das heißt, weil sich ein Anspruch der Klägerin (in geringem
Umfang) allein aus § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X ergibt, scheidet ein solcher
Anspruch der Klägerin hier bereits aus Rechtsgründen aus (siehe oben unter
2.1.1). Außerdem handelt es sich hier um schwierig gelagerte, von Wertungen im
konkreten Fall abhängige Zuständigkeitsfragen, bei denen ein solcher
Verwaltungskostenzuschlag nicht in Betracht kommt (vgl. Wiesner, a.a.O., § 89c
RdNr. 8, m.w.N.); die Schwierigkeiten der Bestimmung des zuständigen örtlichen
Jugendhilfeträgers beim Wechsel von der bis zum 20.06.2008 bewilligten
sozialpädagogischen Familienhilfe zur sozialpädagogischen Einzelbetreuung am
15.08.2008 werden u. a. auch belegt durch einen in den Akten der Klägerin
befindlichen Vermerk einer Mitarbeiterin / eines Mitarbeiters des Sachgebiets
„Wirtschaftliche Erziehungshilfe“ der Klägerin vom 11.07.2008, wonach die
Klägerin nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig sei.
49 Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Kammer sieht
davon ab, die Entscheidung hinsichtlich der Kosten für vorläufig für vollstreckbar zu
erklären (§ 167 Abs. 2 VwGO).
50 Gründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom
Verwaltungsgericht zuzulassen wäre, sind nicht gegeben.