Urteil des VG Freiburg vom 17.10.2013

behandlung, alleinerziehende mutter, allein erziehende mutter, einstellung des verfahrens

VG Freiburg Urteil vom 17.10.2013, 4 K 2191/12
Tenor
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt
erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt 9/10, der Beklagte 1/10 der Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Die Klägerin wendet sich gegen die Anordnung ihrer erkennungsdienstlichen
Behandlung.
2 Die am … 1962 geborene Klägerin trat im Zeitraum 2003 bis 2012 mehrfach
polizeilich in Erscheinung. Nach zwei Verfahren wegen Körperverletzungsdelikten
wurden gegen die Klägerin seit dem Jahr 2005 insgesamt sieben
Ermittlungsverfahren wegen Ladendiebstahls durchgeführt. Die Klägerin räumte
die Taten - die entwendeten Gegenstände hatten einen Wert zwischen 25 und 127
Euro - der Sache nach ein und gab als Motiv jeweils finanzielle Gründe sowie ihre
schwierigen Lebensverhältnisse als alleinerziehende Mutter eines kranken Kindes
an. In drei Fällen wurden die Verfahren nach § 153 StPO bzw. § 153a StPO
eingestellt, in drei Fällen erfolgten Verurteilungen zu Geldstrafen. Das jüngste
Verfahren wurde im August 2012 aufgrund eines Vorfalls vom 10.08.2012
eingeleitet.
3 Mit Bescheid vom 28.08.2012 ordnete die Polizeidirektion X die
erkennungsdienstliche Behandlung der Klägerin bis spätestens zum 28.09.2012
an und drohte ihr für den Fall, dass sie dieser Verfügung nicht fristgerecht und
nach Bestandskraft nachkomme, ein Zwangsgeld i.H.v. 200,-- EUR an. Inhalt der
erkennungsdienstlichen Behandlung sollten die Anfertigung von Lichtbildern und
einer Personenbeschreibung sowie die Abnahme von Finger- und
Handflächenabdrücken sein. Zur Begründung wurde auf § 81b 2. Alt. StPO
verwiesen, der die Anfertigung und Aufbewahrung erkennungsdienstlicher
Unterlagen zum Zwecke der sachgerechten Wahrnehmung der polizeilichen
Aufgaben der Erforschung und Aufklärung von Straftaten ermögliche, wenn der
festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller
Umstände des Einzelfalls Anhaltspunkte für die Annahme biete, dass der
Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit guten Gründen als
Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden
strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die
erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen fördern
könnten. Diese Voraussetzungen lägen bei der Klägerin vor, da diese
Beschuldigte in einem Ermittlungsverfahren des Polizeipostens X wegen
Ladendiebstahls, begangen am 10.08.2012, sei; die Klägerin habe den Tatvorwurf,
in dem es um Waren im Gesamtwert von 69,31 EUR gegangen sei, eingeräumt.
Bereits im Mai 2012 und im Dezember 2011 sei die Klägerin mit Ladendiebstählen
in Erscheinung getreten, und in den Jahren 2005 bis 2008 seien insgesamt vier
Ermittlungsverfahren wegen Ladendiebstählen durchgeführt worden. Aus dem in
der Vergangenheit gezeigten Verhalten ergebe sich nach kriminalistischer
Erfahrung eine Wiederholungsgefahr. Es gebe hinreichende Gründe dafür, dass
die Klägerin als Verdächtige in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch
aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könne. Angesichts der
Häufung der Ermittlungsverfahren und der Höhe des Diebstahlschadens in den
einzelnen Fällen erscheine die erkennungsdienstliche Behandlung auch
verhältnismäßig.
4 Die Klägerin legte am 18.09.2012 Widerspruch ein und wies darauf hin, dass sie
den Widerspruch nach Abschluss des Strafverfahrens begründe.
5 Mit Strafbefehl des Amtsgerichts X vom 25.09.2012, rechtskräftig geworden am
11.10.2012, wurde die Klägerin wegen des am 10.08.2012 begangenen
Ladendiebstahls zu einer Geldstrafe in Höhe von 10 Tagessätzen zu 10,00 EUR
verurteilt.
6 Das Regierungspräsidium Freiburg - Landespolizeidirektion - wies den
Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2012 zurück. Zur
Begründung wurden die im Ausgangsbescheid genannten Gründe wiederholt und
vertieft und ergänzend vorgetragen, das Verhalten der Klägerin seit dem Jahr 2005
lasse den Rückschluss auf gewohnheitsmäßiges Handeln zu; insbesondere
hätten die bisherigen Verurteilungen sie nicht davon abgehalten, auch weiterhin
Straftaten zu begehen. Die Klägerin habe auf finanzielle Nöte als Motiv für die
Straftaten verwiesen. Sie sei alleinerziehende Mutter eines 7-jährigen Sohnes und
beziehe Sozialleistungen. An diesem Status könne sie erfahrungsgemäß in
absehbarer Zeit nichts ändern. Ihr bisher gezeigtes Verhalten wie auch ihre
finanziellen Verhältnisse sprächen schon für sich gegen eine günstige
Entwicklung, seien vielmehr als Indizien für eine Wiederholungsgefahr zu werten.
Dazu komme, dass der Klägerin in einem erst im Juni 2012 abgeschlossenen
Strafverfahren quasi als letzte Chance eine Ermahnung erteilt worden sei; bereits
sechs Wochen später habe sie erneut einen Ladendiebstahl begangen. Die
Anordnung zur erkennungsdienstlichen Behandlung sei auch mit höherrangigem
Recht zu vereinbaren, stelle insbesondere keinen unverhältnismäßigen Eingriff in
die Persönlichkeitsrechte der Klägerin dar. In der Aufrechterhaltung der Anordnung
liege auch kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, da die angegriffene
Anordnung keine verbindliche Aussage über Schuld und Unschuld impliziere,
sondern allein dazu dienen solle, der Polizei die Bekämpfung zukünftiger
Verbrechen oder Vergehen im Interesse eines wirksamen Schutzes der
Allgemeinheit zu erleichtern. Angesichts dessen sei es notwendig und erforderlich,
aktuelle Lichtbilder und eine Personenbeschreibung von der Klägerin zu fertigen,
denn dies ermögliche die Durchführung eines Wiedererkennungsverfahrens. Es
sei auch erforderlich, Hand- und Fingerabdruckspuren zu nehmen. Denn nach
kriminalistischer Erfahrung bestehe bei Ladendieben die Gefahr, sich des
Diebesguts als Beweismittel zu entledigen; durch die Fingerspuren könne das
Diebesgut zugeordnet werden.
7 Die Klägerin hat am 08.11.2012 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, sie
beteuere, künftig keine Straftaten mehr zu begehen. Sie sei Mutter des
siebenjährigen N..., dessen Wohlergehen ihr mehr als alles andere am Herzen
liege; sie versuche, ihr Leben bestmöglich zu meistern, stoße aber seit längerem
vor allem an ihre finanziellen Grenzen. Grund dafür sei hauptsächlich, dass sie
aufgrund der Krankenvorgeschichte ihres Sohnes mit insgesamt fünf Operationen
und mehreren längeren stationären Krankenhausaufenthalten und dem Umstand,
dass sie ganz alleinerziehend ohne familiäre Unterstützung sei, bislang nicht
wieder wie geplant beruflich habe Fuß fassen können. Sie sei gelernte
Reiseverkehrskauffrau und habe bis zur Schwangerschaft ihren Lebensunterhalt
gut bestreiten können. Sie sei mit 42 Jahren schwanger geworden; ihre Erwartung,
ihr Freund werde zum Lebensunterhalt beitragen, habe sich nicht erfüllt, die
Beziehung sei gescheitert und er habe noch nie Unterhalt gezahlt. Ihr Sohn sei
zwar noch in engmaschiger kinderurologischer Kontrolle, es stehe jedoch kein
Eingriff mehr an und es sei damit zum ersten Mal eine Situation eingetreten, dass
sie wieder arbeiten könne. Sie habe sich beworben und sei auch beim Job-Center
arbeitssuchend gemeldet. Sie sei ziemlich optimistisch, in den nächsten Wochen
Arbeit zu finden. Es sei richtig, dass sie im Jahr 2012 mit zwei Strafbefehlen belegt
worden sei. Sie habe sich damit auseinandergesetzt. Besonders schlimm sei für
sie gewesen, dass beim zweiten Mal ihr Sohn dabei gewesen sei und sie sich wie
ein Schwerverbrecher gefühlt habe. Sie sei völlig verzweifelt gewesen und ihr sei
klar geworden, dass sie ihrer Vorbildfunktion als Mutter und ihren eigenen
moralischen Ansprüchen nicht gerecht geworden sei. Sie habe wahnsinnige Angst
vor den Konsequenzen. Sie sei sich der Schuld durchaus bewusst, verstehe aber
nicht, dass sie behandelt werde wie jemand, der ein schweres Sexualdelikt oder
einen Raubüberfall begangen habe. Bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung
würden personenbezogene Daten gespeichert, was einen Eingriff in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung darstelle. Der Gedanke, dass sie sich inmitten
einer „Verbrecherdatei“ wiederfinden solle, fühle sich an wie eine Stigmatisierung
und belaste sie sehr. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei zu
berücksichtigen.
8 Die Klägerin beantragt,
9
den Bescheid der Beklagten vom 28.08.2012 und den Widerspruchsbescheid
des Regierungspräsidiums Freiburg vom 16.10.2012 aufzuheben.
10 Der Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Zur Begründung wird auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom
16.10.2012 verwiesen.
13 Mit Beschluss vom 13.03.2013, ergänzt durch Beschluss vom 08.04.2013, hat die
Kammer der Klägerin Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht bewilligt und Rechtsanwalt X, Freiburg, beigeordnet.
14 Der Beklagte hat mit Schreiben vom 20.03.2013 der Klägerin rechtliches Gehör
gewährt. In ihrem Schreiben vom 05.04.2013 wiederholt die Klägerin ihr Vorbringen
aus dem Verwaltungsverfahren insbesondere im Hinblick auf die Frage der
Notwendigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung.
15 Dem Gericht haben die einschlägigen Verwaltungsakten (1 Bd.) vorgelegen.
Hierauf sowie auf die Gerichtsakten wird wegen der weiteren Einzelheiten
verwiesen.
Entscheidungsgründe
A.
16 Soweit die Beteiligten - im Hinblick auf die Zwangsgeldandrohung - nach deren
Aufhebung durch den Beklagten den Rechtsstreit übereinstimmend insoweit für
erledigt erklärt haben, ist das Verfahren einzustellen.
B.
17 Im Übrigen ist die Klage gemäß §§ 40, 42, 68 ff. VwGO als Anfechtungsklage
gegen die als Verwaltungsakt i.S.d. § 35 LVwVfG zu qualifizierende (dazu VGH
Bad.-Württ., Urteil vom 18.12.2003 - 1 S 2211/12 -, juris) Anordnung der
erkennungsdienstlichen Behandlung zulässig. Die angefochtene, auf § 81b 2. Alt.
StPO gestützte Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ist eine
Maßnahme der Strafverfolgungsvorsorge und steht nicht im Zusammenhang mit
einem konkreten Strafverfahren. Eine Klage gegen eine solche Anordnung ist eine
öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art, für die der
Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet ist (vgl. BVerwG,
Beschluss vom 18.05.2011 - 6 B 1/11-, juris; Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 29/79 -,
juris; OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf 141/11 -, juris; vgl. auch
Schenke, JZ 2007, 707; a.A. Hess. VGH, Beschluss vom 08.12.2010 - 8 E
1698/10 -, juris; Eisenberg/Puschke, JZ 2007, 729). Aus der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, nach der auch Maßnahmen, die sich auf künftige
Strafverfahren beziehen, der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74
Abs. 1 Nr. 1 GG unterfallen (vgl. BVerfG, Urteil vom 27.07.2005 - 1 BvR 668/04 -,
juris), ergibt sich insoweit nichts anderes, da Maßnahmen außerhalb eines
konkreten Strafverfahrens, selbst wenn sie der Strafrechtspflege dienen, jedenfalls
keine solchen auf dem Gebiet des Strafprozesses sind, wie es Voraussetzung für
die Anwendbarkeit von §§ 23 ff. EGGVG wäre (BVerwG, Beschluss vom
18.05.2011 - 6 B 1/11 -, juris).
C.
18 Die Klage hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Denn die angefochtene
Verfügung ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113
Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I.
19 Zunächst hat die Klage nicht bereits deshalb Erfolg, weil die Klägerin im
Verwaltungsverfahren unstreitig nicht, wie vom Gesetz verlangt, vom Beklagten
gemäß § 28 Abs. 1 LVwVfG angehört worden ist. Denn die Anhörung ist
zwischenzeitlich in rechtlich nicht zu beanstandender Weise außerhalb des
gerichtlichen Verfahrens nachgeholt worden, der Verfahrensfehler ist mithin gemäß
§ 45 Abs. 1 Nr. 3 LVwVfG geheilt.
II.
20 Auch aus materiell-rechtlichen Gründen bestehen im Ergebnis keine Bedenken an
der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides.
21
1.
Der Beklagte hat die hier im Streit stehenden erkennungsdienstlichen
Maßnahmen auf § 81b 2. Alt. StPO gestützt. Gemäß § 81b 2. Alt. StPO dürfen
Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen
aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen
werden, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Die
Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage waren allerdings zum maßgeblichen
Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides nicht gegeben.
22
1.1.
Voraussetzung der Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung auf
Grundlage des § 81b 2. Alt StPO wäre nämlich zunächst, dass der von der
Anordnung Betroffene „Beschuldigter“ ist. Beschuldigter ist ein Tatverdächtigter,
gegen den ein Straf- oder Ermittlungsverfahren als Beschuldigter betrieben wird;
nur während der Anhängigkeit eines solchen Verfahrens kann die Anordnung
ergehen (BVerwG, Urteil vom 23.11.2005 - 6 C 2/05 -, juris; Urteil vom 19.10.1982 -
1 C 29/79 -, juris; SächsOVG, Beschluss vom 10.10.2000 - 3 BS 53/00 -, NVwZ-
RR 2001, 238; BeckOK StPO, Stand 01/2013, § 81b Rn. 1).
23
1.2.
Die Rechtmäßigkeit der Anordnung einer erkennungsdienstlichen Maßnahme
nach § 81b 2. Alt StPO wird zwar nicht dadurch berührt, dass der Betroffene nach
Abschluss des Verwaltungsverfahrens, aber vor dem Vollzug der Anordnung die
Beschuldigteneigenschaft - durch Freispruch, Verurteilung oder Einstellung des
Verfahrens - verliert. Dies liegt darin begründet, dass im Rahmen des § 81b 2. Alt.
StPO Anfertigung, Aufbewahrung und systematische Zusammenstellung
erkennungsdienstlicher Unterlagen in kriminalpolizeilichen Sammlungen nicht für
die Zwecke eines konkreten Strafverfahrens erfolgen, sondern nach ihrer
gesetzlichen Zweckbestimmung der Strafverfolgungsvorsorge dienen, mit der
Folge, dass ein unmittelbarer Zweckzusammenhang zwischen der
Beschuldigteneigenschaft des Betroffenen und den gesetzlichen Zielen der
Aufnahme und Aufbewahrung der erkennungsdienstlichen Unterlagen nicht
besteht (BVerwG, Urteil vom 23.11.2005 - 6 C 2/05 -, juris; Urteil vom 19.10.1982 -
1 C 29/79 -, juris; OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf 141/11 -, juris;
Bayer. VGH, Beschluss vom 28.11.2012 - 10 ZB 12.1468 -, juris; Nieders. OVG,
Urteil vom 28.09.2006 - 11 LB 53/06 -, juris).
24
1.3.
Die Klägerin hat vorliegend ihre Beschuldigteneigenschaft jedoch nicht erst
nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens verloren. Vielmehr wurde gegen die
Klägerin in dem wegen des am 10.08.2012 begangenen Ladendiebstahls vor dem
Amtsgericht X durchgeführten Strafverfahrens, welches Anlass für den Erlass der
angefochtenen Anordnung war, am 25.09.2012 ein Strafbefehl verhängt, der am
11.10.2012 rechtskräftig wurde. Rechtskraft trat damit zwar nach Erlass der
Anordnung, aber vor Ergehen des Widerspruchsbescheids, der vom 16.10.2012
datiert, ein. Damit war die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheids am 16.10.2012 nicht mehr Beschuldigte i.S.d. § 81b 2. Alt.
StPO.
25
1.3.1.
Zwar wird in der Rechtsprechung unter Berufung auf Sinn und Zweck der
Regelung vertreten, die tatbestandliche Voraussetzung der
Beschuldigteneigenschaft habe im Rahmen des § 81b 2. Alt. StPO nur die
Bedeutung, dass erkennungsdienstliche Maßnahmen auf Fälle begrenzt seien, in
denen ein Betroffener in einer solchen Weise strafrechtlich in Erscheinung getreten
sei, dass gegen ihn als Beschuldiger ermittelt werde. Auch wenn die
Beschuldigteneigenschaft im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung wieder
entfallen sei, habe der Betroffene aber nach wie vor diese Schwelle des
Verwickeltseins in ein konkretes Strafverfahren erreicht; damit sei der Anlass für
eine erkennungsdienstliche Anordnung nach § 81b 2. Alt. StPO gegeben
(SächsOVG, Beschluss vom 10.10.2000 - 3 BS 53/00 -, NVwZ-RR 2001, 238).
26
1.3.2.
Dieser Auffassung steht jedoch entgegen, dass bei einer Anfechtungsklage
für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich auf den Zeitpunkt der
Widerspruchsentscheidung abzustellen ist. Das Ausgangsverfahren bildet mit dem
Widerspruchsverfahren eine verfahrensmäßige Einheit und wird erst mit dem
Widerspruchsbescheid abgeschlossen (vgl. zum Folgenden allgemein BVerwG,
Beschluss vom 03.11.2006 - 10 B 19/06 -, juris; Urteil vom 01.12.1989 - 8 C 14/88 -
, juris; jew. m.w.N.; speziell zu § 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG VGH Bad.-Württ., Urteil vom
07.03.2007 - 1 S 1170/05 -). Die Widerspruchsbehörde hat dabei die
Ausgangsentscheidung in vollem Umfang zu überprüfen und eine eigene
Sachentscheidung zu treffen, in deren Rahmen sie auch befugt ist, ursprüngliche
Fehler des Ausgangsbescheides zu beheben, indem sie etwa die
erkennungsdienstlichen Maßnahmen nachträglich konkretisiert oder
Ermessenserwägungen anstellt; dabei hat sie grundsätzlich eine gegenüber dem
Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides eingetretene Änderung der
Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen, sofern sich aus dem materiellen Recht
nicht etwas Abweichendes ergibt. Erst der Widerspruchsbescheid gibt dem
Ausgangsverwaltungsakt seine endgültige, für den Verwaltungsprozess
maßgebliche Gestalt. Dies gilt auch für die Anordnung von erkennungsdienstlichen
Maßnahmen. Die Anordnung erhält erst durch den Widerspruchsbescheid ihre
entscheidungserhebliche, gerichtlich überprüfbare Gestalt.
27 Dieser Grundsatz der verfahrensmäßigen Einheit von Ausgangs- und
Widerspruchsbescheid wird durch den Wortlaut der Regelung des § 81b 2. Alt.
StPO nicht in Frage gestellt. Der Umstand, dass § 81b 2. Alt. StPO die Anordnung
erkennungsdienstlicher Maßnahmen tatbestandlich mit der
Beschuldigteneigenschaft des Betroffenen verknüpft, spricht vielmehr dafür, dass
diese Verknüpfung auch von der Widerspruchsbehörde zu prüfen ist; nur wenn im
Zeitpunkt ihrer Entscheidung der Betroffene noch Beschuldigter ist, lassen sich
erkennungsdienstliche Maßnahmen auf § 81b 2. Alt. StPO stützen (VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 -; Bayer. VGH, Urteil vom 09.02.2004 -
24 B 03.695 -, juris; OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf 141/11 -, juris;
offen gelassen von BVerwG, Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 29/79 -, juris).
28 Das Abstellen auf den Erlass des Widerspruchsbescheides als dem maßgeblichen
Zeitpunkt für das Vorliegen der Beschuldigteneigenschaft führt auch nicht zu
unzweckmäßigen Ergebnissen. Zwar können auf Grundlage des § 81b 2. Alt.
StPO keine Maßnahmen mehr angeordnet werden, wenn die
Beschuldigteneigenschaft während des Widerspruchsverfahrens wegfällt. Doch ist
dies keine Folge, die dem Gesetzeszweck zuwiderläuft. Vielmehr nimmt die
Regelung durch die in § 81b 2. Alt. StPO vorgegebene Verknüpfung von Anlass
und Maßnahme ohnehin in Kauf, dass andere Personen als Beschuldigte nicht
erkennungsdienstlich behandelt werden können, obwohl auch bei solchen
Personen - wie etwa bei einem kurz vor Erlass des Ausgangsbescheids
rechtskräftig Verurteilten - ebenfalls ein Bedürfnis für eine erkennungsdienstliche
Behandlung vorliegen kann (OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf 141/11 -,
juris).
29
2.
Die angefochtene Verfügung lässt sich jedoch auf § 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG
stützen.
30
2.1.
Ein derartiger Austausch der Rechtsgrundlage ist dem Verwaltungsgericht
nicht verwehrt. Vielmehr hat das Gericht bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines
Verwaltungsakts nach Maßgabe des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO alle einschlägigen
Rechtsvorschriften und - nach Maßgabe der Sachaufklärungspflicht gemäß § 86
Abs. 1 VwGO - alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, gleichgültig,
ob die Normen und Tatsachen von der erlassenden Behörde zur Begründung des
Verwaltungsaktes angeführt worden sind oder nicht. Ein Auswechseln der
Rechtsgrundlage durch das Gericht ist nur dann ausgeschlossen, wenn die
anderweitige rechtliche Begründung zu einer Wesensveränderung des
angefochtenen Bescheides führte, m.a.W. wenn dadurch die Grenzen
überschritten würden, die der Zulässigkeit des sogenannten Nachschiebens von
Gründen gezogen sind (BVerwG, Urteil vom 21.11.1989 - 9 C 28/89 -, juris; vgl. für
den Bereich des § 81b 2. Alt. StPO: OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf
141/11 -, juris; OVG Saarland, Beschluss vom 07.08.2013 - 3 A 295/13 -, juris;
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 -).
31 Auch der Umstand, dass es sich sowohl bei § 81b 2. Alt. VwGO als auch bei § 36
Abs. 1 Nr. 2 PolG um ermessenseröffnende Normen handelt, steht einem
Austausch der Rechtsgrundlage nicht von vornherein entgegen, sofern beide
Normen demselben Zweck dienen und die Ermessenserwägungen des Beklagten
auch die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung auf Grundlage des
§ 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG tragen (zum Auswechseln einer Rechtsgrundlage bei
Ermessensentscheidungen vgl. BVerwG, Urteil vom 30.06.1989 - 4 C 40/88 -,
juris).
32
2.2.
Nach Auffassung der Kammer führt der Austausch der Rechtsgrundlagen
vorliegend nicht zu einer Wesensänderung des Bescheides, tragen insbesondere
die vom Beklagten im Rahmen des § 81b 2. Alt. StPO angestellten
Ermessenserwägungen auch die Anordnung einer erkennungsdienstlichen
Behandlung auf Grundlage von § 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG.
33
2.2.1.
Aus der Begründung des Ausgangsbescheids vom 28.08.2012 wie auch
des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2012 ergibt sich, dass die angeordneten
erkennungsdienstlichen Maßnahmen - Lichtbilder, Personenbeschreibung, Finger-
und Handflächenabdrücke - dazu dienen sollen, die Klägerin, bei der, so der
Beklagte, nach kriminalistischer Erfahrung eine Wiederholungsgefahr bestehe,
zukünftig eines Ladendiebstahls überführen bzw. sie diesbezüglich entlasten zu
können. Es müsse, so der Beklagte, allein aufgrund der erhobenen Daten möglich
sein, eventuell von der Klägerin künftig verübte Straftaten aufzuklären und einen
entsprechenden Opferschutz zu gewährleisten. Hierfür seien die Erhebung einer
genauen Personenbeschreibung und die Fertigung von Lichtbildern für Zwecke
der Durchführung eines Wiedererkennungsverfahrens mit geschädigten Personen
sowie die Abnahme von Hand- und Fingerabdrücken mit dem Ziel der Zuordnung
von Fingerspuren an weggeworfenem Diebesgut, geeignet und erforderlich. Die
angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahmen sollen folglich in allererster
Linie der sog. Strafverfolgungsvorsorge - der Förderung zukünftiger Ermittlungen -
dienen. Der Aspekt der Verbrechensvorbeugung - der Verhinderung der Begehung
von Straftaten - klingt in der mehrseitigen Begründung im Widerspruchsbescheid
allenfalls an einer einzigen Stelle (Seite 6 2. Absatz) an.
34
2.2.2.
§ 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG dient jedoch ebenso wie § 81b 2. Alt. StPO als
Rechtsgrundlage für Maßnahmen der Strafverfolgungsvorsorge.
35
2.2.2.1.
Dem steht zunächst Bundesrecht nicht entgegen. Zwar ist eine Vorschrift,
die der Beweisbeschaffung für ein - sei es auch zukünftiges - Strafverfahren dient,
dem Strafverfahrensrecht zuzuordnen und unterliegt damit der konkurrierenden
Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 GG (ganz h.M., vgl. nur BVerfG,
Urteil vom 27.07.2005 - 1 BvR 668/04 -, juris; BVerwG, Urteil vom 23.11.2005 - 6 C
2/05 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 -; Schenke,
Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl., Rn. 11, 30, m.w.N.; Lisken/Denninger,
Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., E Rn. 417). In einem zur
Telekommunikationsüberwachung ergangenen Urteil (vom 27.07.2005 - 1 BvR
668/04 -, juris) hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, der
Bundesgesetzgeber habe abschließend von seiner konkurrierenden
Gesetzgebungsbefugnis aus Art 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, die Verfolgung von Straftaten
durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zu regeln, Gebrauch
gemacht mit der Folge, dass die Länder nicht befugt seien, die Polizei zur
Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Vorsorge für die Verfolgung
von Straftaten zu ermächtigen. Allerdings lässt sich aus dieser Entscheidung nicht
schlussfolgern, der Bereich der Strafverfolgungsvorsorge sei in toto aufgrund
abschließender Regelungen durch den Bund der landesrechtlichen Gesetzgebung
generell entzogen (so i.Erg. aber Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und
Ordnungsrecht, 7. Aufl., § 14 Rn. 58; OVG Niedersachsen, Beschluss vom
16.09.2009 - 11 ME 402/09 -, juris; unklar Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6.
Aufl., Rn. 30, 126). Inwieweit bundesgesetzliche Regelungen erschöpfend sind,
kann nicht allgemein, sondern nur anhand der einschlägigen Bestimmungen und
des jeweiligen Sachbereichs festgestellt werden. Der Eintritt einer Sperrwirkung zu
Lasten der Länder setzt insbesondere voraus, dass der Gebrauch der Kompetenz
durch den Bund bei Gesamtwürdigung des Normenkomplexes unter Rückgriff auf
den hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck, die
Gesetzgebungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien hinreichend erkennbar ist
(BVerfG, Urteil vom 27.07.2005, a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 25.01.2012 - 6 C 9/11 -
, juris; jew. m.w.N.).
36 Dies ist bezogen auf § 81b 2. Alt. StPO zwar im Hinblick auf die Frage der Fall,
welche erkennungsdienstlichen Maßnahmen gegen einen Beschuldigten zulässig
sind; in Bezug auf diesen Personenkreis besteht eine Gesetzkompetenz der
Länder nicht mehr (OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf 141/11 -, juris;
OVG RP, Beschluss vom 17.11.2000 - 11 B 11859/00 -, NVwZ-RR 2001, 238;
OVG NRW, Beschluss vom 13.01.1999 - 5 B 2562/98 -, juris). Hinsichtlich des
möglichen Adressatenkreises der Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen
hat § 81b 2. Alt. StPO jedoch keinen abschließenden Charakter (vgl. zum
Folgenden OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf 141/11 -, juris, m.w.N.;
Schenke, JZ 2007, 707; vgl. auch Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts,
5. Aufl., E Rn. 419). Weder dem Wortlaut der Regelung selbst noch der
systematischen Betrachtung weiterer Regelungen in der StPO zu
erkennungsdienstlichen Maßnahmen wie § 163b StPO lässt sich entnehmen, §
81b 2. Alt. StPO sei in Bezug auf den Adressatenkreis als abschließend
anzusehen. Aus der Gesetzgebungsgeschichte lässt sich ebenfalls nicht
schließen, dass der Gesetzgeber insoweit eine abschließende Regelung habe
treffen wollen. Sinn und Zweck der Regelung schließlich, nämlich die Durchführung
der Strafverfolgung in Bezug auf mögliche spätere Straftaten zu erleichtern, wird
durch eine Erweiterung des Kreises möglicher Adressaten der Anordnung einer
erkennungsdienstlichen Behandlung nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil
unterstützt.
37 Vor diesem Hintergrund ist mit der ganz überwiegenden obergerichtlichen
Rechtsprechung (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.12.2003 - 1 S 2211/12 -
, juris; Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 -; OVG Saarland, Beschluss vom
07.08.2013 - 3 A 295/13 -, juris; OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2013 - 4 Bf
141/11 -, juris; OVG RP, Beschluss vom 17.11.2000 - 11 B 11859/00 -, NVwZ-RR
2001, 238; OVG NRW, Beschluss vom 13.01.1999 - 5 B 2562/98 -, juris; Bayer.
VGH; Beschluss vom 17.11.2008 - 10 C 08.2872 -, juris; jew. m.w.N.; vgl. auch
BVerwG, Urteil vom 25.01.2012 - 6 C 9/11 -, juris) davon auszugehen, dass es
dem Landesgesetzgeber unbenommen bleibt, den Adressatenkreis
erkennungsdienstlicher Anordnungen über Beschuldigte i.S.v. § 81b 2. Alt. StPO
hinaus zu erweitern etwa auf rechtskräftig Verurteilte oder Schuldunfähige.
Entsprechende landesrechtliche Vorschriften sind allerdings jedenfalls
verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ihr Anwendungsbereich auf
Maßnahmen beschränkt ist, die nicht dem Anwendungsbereich des § 81b 2. Alt.
StPO unterfallen.
38
2.2.2.2.
§ 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG ist dahingehend auszulegen, dass er nicht nur
Maßnahmen mit dem Ziel der Verhütung von Straftaten - folglich Maßnahmen, die
drohende Rechtsgutverletzungen von vornherein und in einem Stadium verhindern
sollen, in dem es noch nicht zu strafwürdigem Unrecht gekommen ist - erfasst,
sondern auch Maßnahmen mit dem Ziel der Vorsorge für die Verfolgung in
ungewisser Zukunft bevorstehender Straftaten, d.h. mit dem Ziel der
Beweisbeschaffung zur Verwendung in künftigen Strafverfahren (zu den
Begrifflichkeiten ausführlich BVerfG, Urteil vom 27.07.2005 - 1 BvR 668/04 -, juris).
39 Dies ist zwar dem Wortlaut der Regelung des § 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG nicht klar zu
entnehmen. Wenn dort von der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ die
Rede ist, könnte dies auch im Sinne einer reinen Verhinderung zukünftiger
Straftaten verstanden werden, denn durch die nachträglich erleichterte Aufklärung
einer Straftat wird ihrer Begehung nicht Einhalt geboten, wird ihre Begehung nicht
„bekämpft“.
40 Tatsächlich aber wird der Begriff der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten
ganz überwiegend nicht in diesem engen Sinn verstanden. Vielmehr enthalten die
Polizeigesetze einer Reihe von Bundesländern eine Legaldefinition des Begriffs
der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten, die neben der Verhütung zu
erwartender Straftaten ausdrücklich auch die Vorsorge für die Verfolgung künftiger
Straftaten erfasst (so etwa § 1 Abs. 4 HSOG, § 1 Abs. 1 Nr. 1 PolDVG HA, § 1 Abs.
3 ASOG Bln, § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG M-V, § 2 Abs. 1 Thür.PAG; wohl auch § 1 Abs.
1 Satz 2 MEPolG 1986, vgl. Götz, NVwZ 1994, 652 Fn. 57; zu den
unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen Kugelmann, Polizei- und
Ordnungsrecht, 2. Aufl., S. 113 ff.). Auch in Literatur und Rechtsprechung in
Baden-Württemberg wird auf die Reichweite des Begriffs der vorbeugenden
Bekämpfung von Straftaten entweder gar nicht näher eingegangen
(Beltz/Mußmann, PolG BW, 7. Aufl., § 36 Rn. 7 ff.) oder der Bereich der
Strafverfolgungsvorsorge wird - meist ohne nähere Begründung - unter den Begriff
der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten subsumiert (vgl. Stephan/Deger,
PolG BW, 6. Aufl., § 36 Rn. 11; wohl auch Ruder/Schmitt, Polizeirecht BW, 7. Aufl.,
Rn. 649; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 -; vgl. auch Urteil
vom 29.05.2008 - 1 S 1503/07 -, juris; ausdrücklich a.A. für § 36 Abs. 1 Satz 2
PolG BW Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl., Rn. 30).
41 Zwar verwundert der Umstand, dass die Strafverfolgungsvorsorge oft ohne nähere
Begründung in den polizeirechtlichen Begriff der vorbeugenden Bekämpfung
einbezogen wird. Denn immerhin ist hier ein stärker strafprozessualer Bezug
gegeben; auch wenn die Verfolgungsvorsorge in zeitlicher Hinsicht präventiv
erfolgt, betrifft sie gegenständlich doch das - künftige - repressiv ausgerichtete
Strafverfahren (BVerfG, Urteil vom 27.07.2005 - 1 BvR 668/04 -, juris). Anders als
bei der Vorsorge für die Verhütung von Straftaten handelt es sich bei der Vorsorge
für die Strafverfolgung eben gerade um keine reine Aufgabe der Gefahrenabwehr
(dazu Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht BW, 6. Aufl., Rn. 181; Schenke,
Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl., Rn. 12; Lisken/Denninger, Handbuch des
Polizeirechts, 5. Aufl., E Rn. 417 f.). Diese Zwitterstellung der
Strafverfolgungsvorsorge führt auch dazu, dass ihr bisweilen eine Rechtsnatur sui
generis zugeschrieben wird (vgl. etwa Bock, ZIS 2007, 129). Dieser Umstand ließe
es als naheliegend erscheinen, dass ein Landesgesetzgeber, der eine Kompetenz
zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen auch zum Zwecke der
Strafverfolgungsvorsorge schaffen möchte, dies ausdrücklich tut und hier nicht den
wenig spezifischen Begriff der vorsorglichen Bekämpfung von Straftaten wählt.
Und auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem zur
Telekommunikationsüberwachung ergangenen Urteil (vom 27.07.2005 - 1 BvR
668/04 -, juris) den Begriff der Bekämpfung von Straftaten nur auf den Aspekt ihrer
Verhütung, ausdrücklich nicht auch auf ihre Aufklärung bezogen (hierauf
verweisend auch Stephan, VBlBW 2005, 410).
42 Im Ergebnis sind jedoch auch Maßnahmen der Strafverfolgungsvorsorge dem
präventiven Aufgabenfeld der Polizei zuzurechnen, so dass gegen ihre
Einbeziehung in den Begriff der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten i.S.d. §
36 Abs. 1 Satz 2 PolG keine rechtlichen Bedenken bestehen; eine solche
Einbeziehung ist darüber hinaus sachgerecht. Denn die Verfolgungsvorsorge
gehört zu einem historisch gewachsenen Aufgabenfeld der Gefahrenabwehr,
welches nur punktuell abschließend durch Bundesgesetz geregelt worden ist (vgl.
dazu Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in BW, 6. Aufl., Rn. 181). Ihre
Einbeziehung in den Begriff der Bekämpfung von Straftaten wird dem Umstand
gerecht, dass erkennungsdienstliche Maßnahmen der Polizei tatsächlich
regelmäßig sowohl Aspekten der Verhütung als auch der erleichterten Aufklärung
zukünftiger Straftaten dienen dürften und eine strikte Trennung zwischen beiden
Zielen kaum handhabbar sein dürfte (dazu Stephan, VBlBW 2005, 410).
43
2.3.
Knüpft mithin die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung auf
Grundlage des § 81b 2. Alt. StPO wie auch auf Grundlage des § 36 Abs. 1 Nr. 2
PolG mit Ausnahme der Beschuldigteneigenschaft an dieselben
Tatbestandsvoraussetzungen an und orientiert sich das Ermessen, das die
Behörde auszuüben hat, an denselben Maßstäben, so steht einer Auswechslung
der Ermächtigungsgrundlage nichts entgegen.
44
3.
Die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG sind vorliegend auch erfüllt.
Nach dieser Vorschrift kann der Polizeivollzugsdienst erkennungsdienstliche
Maßnahmen ohne Einwilligung des Betroffenen vornehmen, wenn dies zur
vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist, weil der Betroffene
verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben, und die Umstände des
Einzelfalles die Annahme rechtfertigen, dass er zukünftig eine Straftat begehen
werde.
45
3.1.
Die Klägerin ist zunächst der Begehung einer Straftat, nämlich eines
Ladendiebstahls am 10.08.2012, „verdächtig“ i.S.d. § 36 Abs. 1 Nr. 2 PolG. Dem
steht nicht entgegen, dass sie wegen dieser Straftat zwischenzeitlich sogar
rechtskräftig verurteilt worden ist. Vielmehr ist die Regelung so zu verstehen, dass
der Betroffene mindestens einer Straftat verdächtig sein muss; sollte er deswegen
sogar verurteilt worden sein, ergibt sich die Notwendigkeit einer
erkennungsdienstlichen Behandlung in ungleich höherem Maße.
46
3.2.
Die Erforderlichkeit der Anfertigung und Aufbewahrung von
erkennungsdienstlichen Unterlagen bemisst sich danach, ob der anlässlich des
gegen den Betroffenen gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach
kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls -
insbesondere angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem
Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seiner
Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er
strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist - Anhaltspunkte für die
Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit
guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch
aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die
erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen - den
Betroffenen schließlich überführend oder entlastend - fördern könnten (st. Rspr.,
vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 114/79 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil
vom 18.12.2003 - 1 S 2211/02 -, juris; Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 -; jew.
m.w.N.). Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Erforderlichkeit“ unterliegt hierbei der
vollen Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte. Lediglich das der polizeilichen
Prognose über das künftige Verhalten des Betroffenen zugrundeliegende
Wahrscheinlichkeitsurteil ist einer Kontrolle nur begrenzt zugänglich; diese
erstreckt sich lediglich darauf, ob die Prognose auf zutreffender
Tatsachengrundlage beruht und ob sie nach gegebenem Erkenntnisstand unter
Einbeziehung des kriminalistischen Erfahrungswissens sachgerecht und vertretbar
ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.12.2003 - 1 S 2211/02 -, juris (zu § 81b StPO);
Urteil vom 07.03.2007 - 1 S 1170/05 - (den Begriff der „Notwendigkeit“
verwendend)). Für die Beurteilung der Erforderlichkeit kommt es im Falle von - wie
hier - nicht vollzogenen Anordnungen auf die Sachlage im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung an (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.03.2007 - 1 S
1170/05 -).
47 An diesem Maßstab gemessen kann die Einschätzung der Beklagten, es sei
davon auszugehen, dass die Klägerin bei künftigen noch aufzuklärenden
Straftaten mit guten Gründen in den Kreis möglicher Tatverdächtiger einbezogen
werden könnte, nicht beanstandet werden. Denn die Klägerin trat im Zeitraum 2003
bis 2012 wiederholt polizeilich in Erscheinung. Nach zwei Verfahren wegen
Körperverletzungsdelikten wurden gegen die Klägerin seit dem Jahr 2005
insgesamt sieben Ermittlungsverfahren wegen Ladendiebstahls durchgeführt. In
drei Fällen wurden die Verfahren nach § 153 StPO bzw. § 153a StPO eingestellt, in
mittlerweile vier Fällen erfolgten Verurteilungen zu Geldstrafen.
48 Die Anzahl der gegen die Klägerin durchgeführten Strafverfahren und die
strukturelle Vergleichbarkeit der Taten - seit 2005 ausschließlich Ladendiebstähle,
bei denen sie Gegenstände in einem Gesamtwert von (je Diebstahl) 25 bis 127
EUR entwendete - lassen die Prognoseentscheidung des Beklagten jedenfalls als
vertretbar erscheinen. Auch wenn die Klägerin in der mündlichen Verhandlung
eindrücklich und nachvollziehbar erklärte, sie habe die Geschäfte nicht in der
Absicht, einen Diebstahl zu begehen, betreten, und ihre Tatbegehung sei
mitnichten professionell, sondern spontan und unüberlegt erfolgt, hat die Kammer
doch bei einer Gesamtschau den Eindruck gewonnen, bei der Klägerin bestehe -
möglicherweise im Zusammenhang mit ihrer schlechten Einkommenssituation
sowie dem besonderen Stress, dem sie als allein erziehende Mutter eines kranken
Kindes ausgesetzt ist - eine gewisse Neigung zur Begehung von
Ladendiebstählen. Die Kammer hat keinen Zweifel daran, dass sich die Klägerin
die für sie als Bedrohung erlebte Aussicht, erkennungsdienstlich behandelt zu
werden, sehr zu Herzen nimmt. Auch nimmt die Kammer der Klägerin ihre
Beteuerung, sie wisse sehr wohl um den Unrechtsgehalt ihrer Taten und könne
zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden, ebenso ab wie den ernsthaften guten
Willen, zukünftig keine Straftaten zu begehen und ihrem Sohn ein gutes Vorbild zu
sein. Wenn sie aber schildert, sie könne sich die Begehung des letzten Diebstahls
im „P B“, den sie nur gut zwei Monate nach dem vorangegangenen Diebstahl und
wenige Wochen nach der deshalb erfolgten Verurteilung begangen hat, nicht
erklären, es sei wie ein „Blackout“ gewesen, so konnte sie die Kammer nicht davon
überzeugen, woher sie nunmehr die Sicherheit nehmen möchte, dass es nicht in
Zukunft wieder zu einer Situation kommt, in der sie vom plötzlichen Wunsch,
Waren ohne Bezahlung mitzunehmen, übermannt wird. Dies umso mehr, als sich
in der mündlichen Verhandlung nicht feststellen ließ, dass sich die Lebenssituation
der Klägerin, insbesondere ihre finanzielle Lage, maßgeblich gebessert haben
könnte; denn die Klägerin ist nach wie vor vollumfänglich von Sozialleistungen
abhängig und hat gegenwärtig allenfalls vage Aussichten auf einen Wiedereinstieg
in ihren Beruf.
49 Die Kammer hält ferner die Anfertigung erkennungsdienstlicher Unterlagen und die
Speicherung entsprechender Daten nicht nur dem Grunde nach für gerechtfertigt;
vielmehr hat die Prüfung ergeben, dass auch die konkret angeordneten
erkennungsdienstlichen Maßnahmen - Lichtbilder, Personenbeschreibung, Finger-
und Handflächenabdrücke - ihrem Umfang nach notwendig sind. Insoweit hat die
Rechtsprechung als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips das Erfordernis
formuliert, dass die angefertigten Unterlagen bzw. die gespeicherten Daten gerade
für die Aufklärung solcher Straftaten geeignet und erforderlich sein müssen, für die
im konkreten Fall eine Wiederholungsgefahr begründet werden kann. Dies setzt
einen hinreichenden Zusammenhang zwischen der Art der erhobenen Daten und
der Art und Begehungsweise der zu besorgenden Straftaten voraus (VGH Bad.-
Württ., Urteil vom 18.12.2003 - 1 S 2211/02 -, juris). Ein derartiger Zusammenhang
ist vorliegend jedoch zu bejahen. Nachdem die Klägerin mehrfach wegen
Ladendiebstählen auffällig geworden ist, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass
Lichtbilder sowie eine genaue Personenbeschreibung von der Klägerin künftige
Ermittlungsverfahren im Bereich von Ladendiebstählen fördern können. Gleiches
gilt - mit Blick auf Diebesgut, dessen sich der Ladendieb entledigt - für Finger- und
Handabdrücke. Dabei begegnet die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen unter dem
Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit auch deshalb keinen durchgreifenden
Bedenken, weil zum einen die von der Klägerin begangenen Diebstahlsdelikte, bei
denen Waren gestohlen wurden, deren Gesamtwert überwiegend die
Geringfügigkeitsschwelle (dazu Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 248a Rn. 8
ff.) überstiegen hat, keinen Bagatellcharakter haben (vgl. die Strafdrohung in § 242
StGB von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe), und zum anderen die angeordneten
Maßnahmen nicht mit gravierenden Beeinträchtigungen ihrer grundrechtlich
geschützten Belange verbunden sind.
D.
50 Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben,
ist über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung
des bisherigen Sach- und Streitstands zu entscheiden (§ 161 Abs. 2 VwGO). Dem
entspricht es, dass der Beklagte die Kosten trägt. Denn er hat sich durch
Aufhebung der angefochtenen Zwangsgeldandrohung freiwillig in die Rolle des
Unterlegenen begeben.
51 Die Kostenentscheidung im Übrigen folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gericht
sieht im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens davon ab, das Urteil
hinsichtlich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
52 Gründe, die Berufung durch das Verwaltungsgericht zuzulassen, bestehen nicht.