Urteil des VG Freiburg vom 12.01.2016

kostenbeitrag, besondere härte, eltern, jugendamt

VG Freiburg Urteil vom 12.1.2016, 4 K 1932/15
Anwendbarkeit der Kürzungsregelung in Höhe des Kindergeldes auf den Kostenbeitrag
Leitsätze
Die Kürzungsregelung des § 94 Abs. 4 SGB VIII ist auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes gemäß
§ 94 Abs. 3 SGB VIII anwendbar
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 13.03.2014 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13.07.2015 werden
aufgehoben, soweit in ihnen ein Kostenbeitrag von mehr als 119,60 EUR monatlich festgesetzt ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Die Klägerin wendet sich gegen die Höhe eines Kostenbeitragsbescheides.
2 Der am … 1997 geborene Sohn der Klägerin N erhält seit dem 19.10.2012 stationäre Eingliederungshilfe
nach § 35a SGB VIII durch das Jugendamt der Beklagten.
3 Der Beklagte setzte zunächst nur gegenüber dem Ehemann der Klägerin und Kindsvater, D, Kostenbeiträge
fest: Mit Bescheid vom 23.05.2013 wurde ab 19.10.2012 ein Kostenbeitrag in Höhe von 1.400,00 EUR
monatlich festgesetzt, wobei bereits mit Blick auf die Zeiten, in denen sich N bei seinen Eltern aufhielt, eine
Kürzung des Beitrags erfolgt war. Nachdem der Ehemann der Klägerin Aufenthalte von N bei seinen Eltern in
höherem Umfang nachgewiesen hatte, wurde dieser Bescheid rückwirkend geändert durch Bescheid vom
14.06.2013 auf 1.137,50 EUR monatlich; der Berechnung zugrunde lag eine Kürzung des Kostenbeitrags um
35% entsprechend der Zahl der Abwesenheitstage von N von der Einrichtung. Mit Bescheid vom 13.03.2014
wurde der Kostenbeitrag ab 01.01.2014 mit Blick auf geänderte Einkommensverhältnisse auf 1.097,20 EUR
monatlich geändert.
4 Mit Bescheid vom13.03.2014 erließ der Beklagte - erstmals - gegenüber der Klägerin einen
Kostenbeitragsbescheid, in dem ihr Kostenbeitrag ab 01.03.2014 auf 184,00 EUR monatlich festgesetzt
wurde. Zur Begründung wurde auf § 94 Abs. 3 SGB VIII verwiesen.
5 Die Klägerin legte am 01.04.2014 Widerspruch ein, der damit begründet wurde, dass bei Berechnung des
Kostenbeitrags fälschlich § 94 Abs. 4 SGB VIII nicht berücksichtigt worden sei. Wie beim Ehemann sei auch
bei ihr der Kostenbeitrag um 35% auf dann 119,60 EUR zu kürzen.
6 Mit Widerspruchsbescheid vom 13.07.2015, zugestellt am 21.07.2015, wurde der Widerspruch der Klägerin
zurückgewiesen. Eine Heranziehung zu den Kosten der Jugendhilfe aus dem Arbeitseinkommen der Klägerin
sei nicht möglich. Ein Elternteil habe aber unabhängig hiervon nach §§ 1 bis 6 KostenbeitragsVO einen
Kostenbeitrag in Höhe des Kindergelds zu zahlen, wenn vollstationäre Leistungen erbracht würden, er
Kindergeld für den jungen Menschen beziehe und seine Heranziehung nicht nachrangig nach § 94 Abs. 1
Satz 3, 4 SGB VIII sei. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt. Das Kindergeld sei als „Sonderform“ des
Kostenbeitrags unabhängig vom Erwerbseinkommen zu betrachten und einzusetzen. So sei auch § 92 Abs. 5
SGB VIII beim Kindergeld nicht anwendbar. Beim Kindergeld handele es sich nicht um den aus der Tabelle
ermittelten Kostenbeitrag, welcher allein der Kürzung unterliege. Auch die Kostenbeitragsempfehlungen
Baden-Württemberg sähen keine Kürzung vor.
7 Die Klägerin hat am 17.08.2015 Klage erhoben. Zur Begründung verweist sie darauf, dass § 94 Abs. 4 SGB
VIII keine Einschränkung in Bezug auf den Kostenbeitrag in Form des Kindergeldes enthalte, so dass auch
dieser Beitrag anteilig zu kürzen sei. Denn wenn die Eltern während der Zeit des Aufenthaltes zuhause
Unterhaltsleistungen erbrächten, müsse der Kostenbeitrag entsprechend gekürzt werden. So sei es auch
Praxis der meisten Jugendämter.
8 Die Klägerin beantragt, sachdienlich gefasst,
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den Bescheid des Beklagten vom 13.03.2014 und dessen Widerspruchsbescheid vom 13.07.2015
aufzuheben, soweit in ihnen ein Kostenbeitrag von mehr als 119,60 EUR monatlich festgesetzt ist.
10 Der Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Zur Begründung verweist er darauf, dass die vom Gesetzgeber eingeräumte Vergünstigung bereits vom
Ehemann der Klägerin in Anspruch genommen werde; dieser habe seinen einkommensabhängigen
Kostenbeitrag um monatlich 612,50 EUR kürzen können. Es sei im Rahmen des § 94 Abs. 4 SGB VIII
zwischen beiden Arten von Kostenbeiträgen - aus Einkommen bzw. in Höhe des Kindergelds - zu
differenzieren. So regelten es auch die Empfehlungen zur Kostenbeteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe in
Baden-Württemberg, und verwiesen darauf, dass das Kindergeld nun nicht mehr Bestandteil des
Einkommens sei und es nunmehr zwei Kostenbeiträge gebe. Dies ergebe sich auch aus der
Gesetzesbegründung.
13 Die Beteiligten haben auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (§ 101 Abs. 2 VwGO).
14 Dem Gericht haben die einschlägigen Verwaltungsakten (1 Bd.) vorgelegen. Hierauf sowie auf die
Gerichtsakten wird wegen der weiteren Einzelheiten ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe
15 Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2
VwGO).
16 Die Klage ist als (Teil-)Anfechtungsklage gemäß §§ 40, 42, 68 ff. VwGO zulässig.
17 Sie ist auch begründet. Denn der Bescheid des Beklagten vom 13.03.2014 und dessen
Widerspruchsbescheid vom 13.07.2015 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113
Abs. 1 VwGO), soweit ihr gegenüber ein monatlicher Kostenbeitrag von mehr als 119,60 EUR festgesetzt ist.
18 Gemäß § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in seiner hier einschlägigen, ab dem 03.12.2013 geltenden Fassung hat,
wenn Leistungen über Tag und Nacht außerhalb des Elternhauses erbracht werden und einer der Elternteile
Kindergeld für den jungen Menschen bezieht, dieser unabhängig von einer Heranziehung nach Absatz 1 der
Vorschrift - der die Heranziehung nach dem Einkommen der Betreffenden regelt - „[...] einen Kostenbeitrag
in Höhe des Kindergeldes zu zahlen“.
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1.
Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit darüber, dass die Voraussetzungen des § 94 Abs. 3 Satz 1
SGB VIII im Fall der Klägerin erfüllt sind, weil der Beklagte für ihren Sohn N, der aufgrund seiner seelischen
Behinderung im Internat untergebracht ist, vollstationäre Leistungen und damit Leistungen über Tag und
Nacht außerhalb des Elternhauses im Sinne von § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erbringt und die Klägerin für N
Kindergeld in Höhe von 184,00 EUR monatlich bezieht.
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2.
Einigkeit besteht weiter darüber, dass N sich nicht nur im Rahmen von Umgangskontakten bei seinen
Eltern aufhält mit der Folge, dass der Kostenbeitrag des Ehemannes der Klägerin und Vaters von N jeweils
gemäß § 94 Abs. 4 SGB VIII um 35% gekürzt worden ist, so zuletzt mit Bescheiden des Beklagten vom
14.08.2013 und vom 13.03.2014.
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3.
Streitig zwischen den Beteiligten ist allein, ob § 94 Abs. 4 SGB VIII auch auf den Kostenbeitrag in Höhe
des Kindergeldes anwendbar ist. Dies ist zur Überzeugung der Kammer der Fall.
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3.1
Hierfür sprechen bereits Wortlaut und Aufbau der Vorschrift des § 94 SGB VIII:
23 § 94 SGB VIII in seiner aktuellen, durch das Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetz erfolgten und seit
dem 03.12.2013 geltenden Fassung kennt zwei Ausgestaltungen des Kostenbeitrags, nämlich den
Kostenbeitrag aus Einkommen, geregelt in den Absätzen 1 und 2, und - unabhängig davon - den
Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes, geregelt in Absatz 3. Dass es sich bei der Zahlung in Höhe des
Kindergeldes auch um einen Kostenbeitrag handelt - der lediglich nicht mehr als „Mindestkostenbeitrag“
tituliert wird -, ergibt sich nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut der Regelung selbst, sondern auch aus
der Gesetzesbegründung, die wiederholt davon spricht, mit der neuen Regelung werde künftig „neben dem
Kostenbeitrag aus dem Einkommen ein Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes erhoben“ (BT-Drs. 17/13023
vom 10.04.2013). Ein Kostenbeitragspflichtiger kann, abhängig davon, wie seine Einkommensverhältnisse
ausgestaltet sind und ob er Kindergeld für das untergebrachte Kind bezieht, nach aktueller Gesetzeslage
verpflichtet sein, nur einen der beiden Kostenbeiträge oder aber beide Kostenbeiträge zu zahlen.
24 Absatz 4 der Regelung spricht nun allgemein davon, dass die tatsächliche Betreuungsleistung, die ein
Kostenbeitragspflichtiger erbringt, „auf den Kostenbeitrag anzurechnen“ ist. Diese weite Formulierung, die
keine Änderung im Zuge des Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetzes erfahren hat und nicht
zwischen beiden Ausgestaltungen der Kostenbeiträge differenziert, legt es nahe, Absatz 4 unterschiedslos
auf beide Formen der Kostenbeiträge anzuwenden.
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3.2
Auch aus Sinn und Zweck der Regelungen ergibt sich, dass § 94 Abs. 4 SGB VIII auch auf den
Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes im Sinne von § 94 Abs. 3 SGB VIII anzuwenden ist.
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3.2.1
In diesem Zusammenhang ist, da der Beklagte zur Begründung seiner Rechtsauffassung vor allem auf
die Änderungen des § 94 Abs. 3 SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetz verweist,
zunächst ein Blick auf die Funktion des Kindergeldes wie auch auf die vor dem 03.12.2013 geltende
Rechtslage hilfreich:
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3.2.1.1
Kindergeld war nach § 1612b BGB in seiner bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung zwar als
Einkommen der Eltern anzusehen, wurde diesen aber zur Erleichterung der ihren Kindern gegenüber
bestehenden Unterhaltslast gewährt; infolge der Änderung des § 1612b BGB steht es zwischenzeitlich, auch
wenn es den Eltern zufließt, wirtschaftlich dem Kind zu, für das es in treuhänderischer Gebundenheit zu
verwenden ist. Kindergeld ist damit unterhaltsrechtlich zur Deckung des (Bar-)Bedarfs des jeweiligen Kindes
bestimmt (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 14.07.2011 - 1 BvR 932/10 -, juris; BVerwG, Urteil vom
12.05.2011 - 5 C 10/10 -, juris m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 25.07.2014 - 12 A 2071/12 -, juris;
jurisPK-BGB, 6. Aufl., § 1612b Rn. 18; jurisPK-SGB VIII, 1. Aufl., § 94 Rn. 16.1; Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand
08/15, § 94 Rn. 5).
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3.2.1.2
Die Einführung einer Verpflichtung des Kindergeld beziehenden Elternteiles zur Leistung eines
Kostenbeitrags mindestens in Höhe des Kindergeldes erfolgte durch Neufassung des § 94 Abs. 3 SGB VIII
zum 01.10.2005 vor dem Hintergrund einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts: Dieses hatte mit
Urteil vom 22.12.1998 (5 C 25/97) entschieden, Kindergeld sei keine mit Leistungen zum Lebensunterhalt
bei Hilfe zur Erziehung in einer betreuten Wohnform zweckgleiche Leistung mit der Folge, dass keine Pflicht
des kindergeldberechtigten Elternteils bestand, Mittel in Höhe des Kindergeldes gemäß § 93 Abs. 5 SGB VIII
neben dem Kostenbeitrag einzusetzen, wie es bis zu diesem Zeitpunkt der Behördenpraxis entsprach. Die
Konsequenz aus diesem Urteil - nämlich dass Eltern der Kindergeldvorteil belassen wird, obgleich das
Jugendamt den gesamten notwendigen Unterhalt von Kindern und Jugendlichen außerhalb des Elternhauses
sicherstellt - wurde als unbillig empfunden. Daher wurde mit § 94 Abs. 3 SGB VIII eine Möglichkeit zur
Abschöpfung des Kindergeldes geschaffen (Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 08/2015, § 94 Rn. 11; Kunkel, SGB
VIII, 4. Aufl., § 94 Rn. 10; Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 94 Rn. 23; BT-Drs. 15/3676 vom 08.09.2004;
vgl. dazu auch Bayer. VGH, Beschluss vom 22.05.2014 - 12 ZB 12.2509 -, juris).
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3.2.1.3
Vor diesem Hintergrund ist auch das vom Beklagten zitierte Urteil der Kammer (VG Freiburg, Urteil
vom 26.06.2008 - 4 K 1466/06 -, juris) zu sehen, mit welchem die Kammer entschieden hatte, dass die
Forderung eines Kostenbeitrages in Höhe des Kindergeldes keine besondere Härte im Sinne von § 92 Abs. 5
Satz 1 SGB VIII darstelle. Dem Urteil nämlich lag die Erwägung zugrunde, dass das Kindergeld im weitesten
Sinne zur Deckung des Bedarfs des Kindes gedacht ist. Lebt das Kind nicht mehr im Haushalt des
Kostenbeitragspflichtigen und ist sein Bedarf vollständig anderweitig - nämlich durch das Jugendamt -
sichergestellt, kann ein Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes folglich keine besondere Härte darstellen
(vgl. dazu auch Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, Stand 2015, § 94 SGB VIII Rn. 12).
30 Diese Rechtsprechung ist folgerichtig nicht behilflich bei Beantwortung der Frage, ob nach alter Rechtslage
tatsächliche Betreuungsleistungen, die der das Kindergeld beziehende Elternteil erbringt, gemäß § 94 Abs. 4
SGB VIII auch auf den Mindestkostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes anzurechnen waren. Denn in dem
Moment, in dem der kindergeldberechtigte Elternteil selbst einen Teil der Betreuungsleistungen wahrnimmt,
der über die Ausübung des Umgangsrechts hinausgeht und damit unterhaltsrechtlich relevant ist (vgl. dazu
OVG RP, Urteil vom 21.08.2008 - 7 A 10443/08 -, juris; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar
SGB VIII, 7. Aufl., § 94 Rn. 13), stellt eben nicht mehr, was für die Kammer seinerzeit entscheidend war, das
Jugendamt den gesamten notwendigen Unterhalt des Kindes sicher. Die im Zusammenhang mit § 92 Abs. 5
SGB VIII vorgenommene Argumentation ist damit auf § 94 Abs. 4 SGB VIII nicht übertragbar.
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3.2.1.4
Sinn und Zweck der Regelung des § 94 Abs. 4 SGB VIII war und ist es zu vermeiden, dass die
Kostenbeitragspflichtigen in doppelter Weise, nämlich durch einen Kostenbeitrag in voller Höhe und
zusätzlich durch die durch den Aufenthalt des jungen Menschen im Haushalt tatsächlich entstehenden
unterhaltsrelevanten Kosten, belastet werden (jurisPK-SGB VIII, Stand 01/2015, § 94 Rn. 18; Hauck/Noftz,
SGB VIII, Stand 08/2015, § 94 Rn. 17). Zu dieser doppelten Belastung aber kommt es unabhängig davon, ob
Grundlage des Kostenbeitrags das Einkommen des Kostenbeitragspflichtigen ist oder das für dieses Kind
erhaltene Kindergeld. Für eine Ungleichbehandlung desjenigen, der aus seinem Einkommen einen
Kostenbeitrag zu leisten hat und bei tatsächlichen Betreuungsleistungen einen Anspruch auf entsprechende
Kürzung hat, weil er nun einen Teil des Betreuungsaufwands selbst übernimmt, und demjenigen, der
mangels entsprechender Einkünfte einen Kostenbeitrag (nur) in Höhe des Kindergeldes zu leisten hat, aber
ebenso selbst Betreuungsleistungen wahrnimmt, aber gibt es keinen sachlichen Grund.
32 Folgerichtig wurde die Kürzungsregelung des § 94 Abs. 4 SGB VIII durch die Rechtsprechung auf § 94 Abs. 3
SGB VIII in seiner vor dem 03.12.2013 geltenden Fassung ohne weiteren Begründungsaufwand angewendet
(vgl. etwa VG Berlin, Urteil vom 07.12.2011 - 18 K 204.09 -, juris; VG München, Urteil vom 27.07.2011 - M
18 K 10.4797 -, juris). Und auch in den „Empfehlungen zur Kostenbeteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe
Baden-Württemberg“ hieß es in der Fassung der Empfehlungen vom 01.01.2011 unter Ziff. 94.4 - anders als
in der Neufassung (Stand 01.01.2014), auf die sich der Beklagte beruft - explizit, die in § 94 Abs. 4 SGB VIII
vorgesehenen Abzüge seien „[...] auch beim Mindestkostenbeitrag [...]“ vorzunehmen.
33
3.2.2
Durch die Neufassung des § 94 Abs. 3 SGB VIII mit Wirkung vom 03.12.2013 aber änderte sich dessen
Zielsetzung - nämlich den Kindergeldvorteil nicht beim Elternteil zu belassen, obgleich das Jugendamt den
Unterhalt des Kindes sicherstellt - nicht. Die Änderung des § 94 Abs. 3 SGB VIII - Erhebung zweier
voneinander unabhängiger Kostenbeiträge - erfolgte vielmehr allein vor dem Hintergrund, dass nach der
bisherigen Regelung die Kindergeldbezieher gegenüber den Nichtkindergeldbeziehern privilegiert waren, da
sie ihrer Kostenbeitragsverpflichtung zu einem Teil durch Zahlung des Kindergeldes nachkommen konnten
und damit insgesamt weniger aus ihrem Einkommen bezahlen mussten (vgl. BR-Drs. 93/13 vom 08.02.2013;
BT-Drs. 17/13023 vom 10.04.2013). Demgemäß hat die Neufassung des § 94 Abs. 3 SGB VIII für den
kindergeldberechtigten Elternteil, der keinen Kostenbeitrag aus seinem Einkommen zu leisten hat, auch
keine finanziellen Auswirkungen; wie bisher auch hat er einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes zu
leisten. Eine Änderung ergibt sich lediglich für denjenigen Kindergeldberechtigten, der zusätzlich aus seinem
Einkommen zu den Kosten heranzuziehen ist; er zahlte früher einen einheitlichen Kostenbeitrag, der sich
aus dem um das Kindergeld erhöhten Einkommen errechnete, und muss zukünftig zwei Kostenbeiträge
zahlen, nämlich einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes und einen weiteren Kostenbeitrag, der sich
aus seinem - nicht mehr durch Kindergeld erhöhten (vgl. § 93 Abs. 1 SGB VIII Satz 4 n.F.) - Einkommen
berechnet (vgl. dazu VG Augsburg, Urteil vom 26.10.2015 - Au 3 K 15.341 -, juris).
34 Vor diesem Hintergrund der Zielsetzung der zum 03.12.2013 erfolgten Änderung des § 94 Abs. 3 SGB VIII
aber besteht keine Veranlassung, den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes im Hinblick auf die
Kürzungsregelung des Absatzes 4 zukünftig anders zu behandeln als den Mindestkostenbeitrag nach altem
Recht und damit auch anders als den aus Einkommen errechneten Kostenbeitrag.
35 Die in den Empfehlungen zur Kostenbeteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe Baden-Württemberg vom
01.01.2014, auf die sich der Beklagte beruft, geäußerte gegenteilige Rechtsauffassung überzeugt nicht. In
den Empfehlungen wird unter Ziff. 94.4 bestimmt, die Regelung des § 94 Abs. 4 gelte „[...] nicht für den
Kostenbeitrag in Höhe von Kindergeld“. In der in Fußnote 56 erfolgten Erläuterung dieses Satzes heißt es:
„Kindergeld ist nicht mehr Bestandteil des Einkommens, sondern neben einem Kostenbeitrag aus Einkommen
separat einzusetzen. § 94 SGB VIII a.F. regelte ausschließlich den Umfang der Heranziehung aus
Einkommen. Den Kostenbeitrag 'mindestens in Höhe des Kindergeldes' gibt es nicht mehr.“ Ungeachtet des
Umstands, dass diesen Empfehlungen eine irgendwie geartete Bindungswirkung für das Gericht nicht
zukommt, sind diese nach Auffassung der Kammer weder inhaltlich zutreffend noch weiterführend. Richtig
ist zunächst, dass das Kindergeld zukünftig nicht mehr als Einkommen zu berücksichtigen ist, wie sich aus §
93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII ergibt. Unzutreffend ist aber bereits, dass § 94 SGB VIII in seiner bis zum
03.12.2013 geltenden Fassung nur den Umfang der Heranziehung aus Einkommen geregelt habe; vielmehr
regelte § 94 Abs. 3 SGB VIII auch bisher schon „einen Kostenbeitrag mindestens in Höhe des Kindergeldes“,
der gerade einkommensunabhängig war. Auch die Aussage, dass es einen Kostenbeitrag „mindestens in
Höhe des Kindergeldes“ nicht mehr gebe, ist zwar begrifflich richtig; in § 94 Abs. 3 SGB VIII findet sich in der
Tat das Wort „mindestens“ nicht mehr, was konsequent ist, da, wie gesehen, nach aktueller Rechtslage der
kindergeldberechtigte Elternteil für den Fall, dass er über hinreichendes Einkommen verfügt, nicht mehr
einen einzigen Kostenbeitragsbescheid erhält, der betragsmäßig das Kindergeld übersteigt, sondern zwei
Bescheide, von denen einer einen Betrag in Höhe des Kindergeldes, der andere den sich aus seinem
Einkommen ausgenommen Kindergeld ergebenden Betrag festsetzt. Dies ändert aber nichts daran, dass es
nach wie vor der Sache nach einen „Mindestkostenbeitrag“ in Höhe des Kindergeldes gibt, den alle
kindergeldbeziehenden Elternteile unabhängig von ihrem Einkommen zu zahlen haben. Im Übrigen
erschließt sich der Kammer nicht, weshalb der Wegfall des Mindestkostenbeitrags die Nichtanwendbarkeit
des § 94 Abs. 4 SGB VIII zur Folge haben sollte. Denn die strukturellen Änderungen in der Form der
Kostenbeitragserhebung ändern Sinn und Zweck der Regelungen des § 94 Abs. 3 und Abs. 4 SGB VIII, wie
gesehen, nicht, und die Neufassung der Regelung, die auf die Bezeichnung des Kostenbeitrags aus
Kindergeld als „
Mindestkostenbeitrag“ verzichtet, lässt eher noch weniger als die Vorgängerfassung eine
Interpretation dahingehend zu, der Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes stelle eine nicht der Kürzung
unterliegende Mindestverpflichtung dar.
36 Nach wie vor ist daher § 94 Abs. 4 SGB VIII auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes im Sinne
von § 93 Abs. 3 SGB VIII anzuwenden (so ohne weitere Begründung auch Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand
08/2015, § 94 Rn. 17; Gemeinsame Empfehlungen für die Heranziehung zu den Kosten nach §§ 90 ff. SGB
VIII, Stand 17.11.2014, Ziff. 17; so offenbar auch VG Augsburg, Urteil vom 26.10.2015 - Au 3 K 15.341 -,
juris).
37
3.3
Einer Anwendung des § 94 Abs. 4 SGB VIII steht schließlich im konkreten Falle auch nicht entgegen,
dass, worauf der Beklagte verweist, die Familie der Klägerin bereits die Kürzungsregelung des § 94 Abs. 4
SGB VIII für sich in Anspruch nehme, weil der Kostenbeitrag des Kindsvaters um 35% gekürzt worden sei.
Denn weder aus § 94 SGB VIII noch aus anderen Regelungen des SGB VIII ergibt sich, dass in dem Fall, in
dem beide Elternteile in einem gemeinsamen Haushalt leben und jeweils zu einem eigenen Kostenbeitrag
veranschlagt werden, nur einer von ihnen von der Anrechnungsregelung des § 94 Abs. 4 SGB VIII profitieren
könnte.
38
3.4
Da zwischen den Beteiligten unstreitig ist, dass N sich in einem Umfang von 35% im Haushalt seiner
Eltern aufhält, ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig, soweit er diese Kürzung nicht berücksichtigt. Die
Klägerin ist gemäß § 94 Abs. 3, 4 SGB VIII verpflichtet, nicht, wie festgesetzt, einen Kostenbeitrag in Höhe
von 184,00 EUR monatlich zu leisten, sondern nur in Höhe von 119,60 EUR.
39
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Das Gericht sieht im Rahmen des
ihm eingeräumten Ermessens davon ab, das Urteil hinsichtlich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu
erklären.
40
5.
Die Zulassung der Berufung ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache geboten, denn die
Frage, ob die Kürzungsregelung des § 94 Abs. 4 SGB VIII auch auf den Kostenbeitrag in Höhe des
Kindergeldes im Sinne von § 94 Abs. 3 SGB VIII n.F. anwendbar ist, ist in der obergerichtlichen
Rechtsprechung nicht geklärt und stellt sich in einer Vielzahl von Fällen.