Urteil des VG Freiburg vom 07.11.2013

wohnung, antritt, familie, jugendhilfe

VG Freiburg Urteil vom 7.11.2013, 4 K 1340/12
Kostenerstattung zwischen Jugendhilfeträgern; gewöhnlicher Aufenthalt bei
Strafhaft
Leitsätze
Ein Zwangsaufenthalt in einer JVA begründet je nach den gesamten Umständen des
Einzelfalls nicht unbedingt einen (neuen) gewöhnlichen Aufenthalt.
Eine von Anfang an zeitlich überschaubare Restfreiheitsstrafe (hier von ca. sechs
bzw. sieben Monaten) unterbricht einen zuvor bestehenden gewöhnlichen Aufenthalt
nicht, wenn die Bindungen an die Familie am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts
bestehen bleiben und wenn zu keinem Zeitpunkt vor und während der Strafhaft zu
erwarten ist, dass der Inhaftierte nach der Strafhaft an einen anderen Ort zurückkehrt.
Für die Frage, ob vor Antritt der Strafhaft am Aufenthaltsort des Betreffenden ein
gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde, ist der Zwangsaufenthalt in der Strafhaft
quasi wegzudenken, wenn dieser Zwangsaufenthalt seinerseits keinen (neuen)
gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen vermag.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger in der Zeit vom 16.12.2009 bis zum
20.10.2010 entstandenen Kosten in Höhe von 66.402,78 EUR, die er für Maßnahmen
der Jugendhilfe für A., K. und C. G. aufgewendet hat, zuzüglich 5 % Zinsen über dem
Basiszinssatz ab dem 18.07.2012 zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger fordert von dem Beklagten die Erstattung von Kosten, die er für
Maßnahmen der Jugendhilfe aufgewendet hat.
2 Der Kläger bewilligte für die am 02.01.1992 geborene A. G., den am 24.09.1993
geborenen K. G. und die am 15.12.1998 geborene C. G. Hilfe zur Erziehung.
Konkret bewilligte er für A. G. Hilfe zur Erziehung in Form der sozialpädagogischen
Familienhilfe (§§ 27, 31 SGB VIII) in der Zeit von 01.08.2008 bis zum 31.12.2009,
für K. und C. G. jeweils Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung (§§ 27,
34 SGB VIII), für K. in der Zeit von 14.07.2007 bis zum 28.02.2011 und für C. in der
Zeit von 01.08.2008 bis zum 28.02.2011.
3 Für alle drei Kinder (A., K. und C.) besaß bzw. besitzt die Mutter, Frau S. G., geb.
am 15.01.1971, das alleinige Sorgerecht. Bis zum 24.06.2008 lebte Frau S. G. in
der Gemeinde S. im Landkreis N. Der Vater von A. und K. war bereits vor Beginn
der Leistungen verstorben, der Vater von C. lebt getrennt von der Familie in einem
anderen Ort (P.) im Landkreis N.
4 Am 24.06.2008 wurde Frau S. G. festgenommen und zum Vollzug der
Untersuchungshaft (U-Haft) in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Nürnberg inhaftiert.
Mit (Berufungs-)Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 16.12.2009 wurde
Frau S. G. (wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen) zu einer Freiheitsstrafe
von drei Jahren verurteilt. Unmittelbar nach der Berufungsverhandlung wurde Frau
S. G. (wegen fehlender Fluchtgefahr) aus der U-Haft entlassen. Sie musste jedoch
im Jahr 2010 jederzeit mit der Aufforderung zum Antritt der (restlichen) Strafhaft
rechnen. Wegen ihrer (während der U-Haft intensivierten) Beziehungen zu ihren in
L. lebenden Familienangehörigen beantragte sie, diese Strafhaft in einer JVA in
Baden-Württemberg, möglichst in der Nähe von L., abzuleisten.
5 Die Mutter und die Schwester der Frau S. G. lebten seit mehreren Jahren in L.
Bereits am 02.03.2009, noch während der U-Haft in der JVA Nürnberg, gab Frau S.
G. mit Hilfe ihrer Mutter ihre Wohnung in S. auf und meldete sich mit Wohnsitz bei
ihrer Mutter in L. an. Aufgrund dieser Ummeldung wurde das Kindergeld für die
Kinder von Frau S. G. nicht mehr von der Familienkasse R., sondern von der
Familienkasse L. geleistet.
6 Unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der U-Haft (am 16.12.2009) zog Frau S. G.
zu ihrer Mutter nach L. Dort lebte sie in deren Haushalt bis zum Antritt der Strafhaft
in der JVA Schwäbisch Gmünd am 12.03.2010. Ein zuvor, im Februar 2010,
vorgesehener Strafantritt in der JVA Waldshut scheiterte wegen Baumaßnahmen
in der dortigen JVA.
7 Mit Schreiben vom 16.12.2009 informierte der Kläger den Beklagten über die
Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe für K. und C. G. und über den
gewöhnlichen Aufenthalt von Frau S. G. in L. und bat den Beklagten um
Übernahme des Falls in eigener Zuständigkeit. Ferner meldete der Kläger für die
Zeit ab dem 16.12.2009 Kostenerstattung gemäß § 89c SGB VIII an.
8 Am 20.10.2010 wurde Frau S. G. nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer
Freiheitsstrafe aus der Strafhaft entlassen. Unmittelbar aus der JVA zog sie in die
Wohnung ihrer Mutter nach L. Seit dem 01.12.2010 wohnt Frau S. G. mit eigener
Wohnung in L.
9 Mit Schreiben vom 18.03.2011 erkannte der Beklagte seine Zuständigkeit für die
Hilfeleistungen für K. und C. G. ab dem 01.03.2011 und seine
Kostenerstattungsverpflichtung für Maßnahmen der Jugendhilfe für diese
Kinder/Jugendlichen ab dem 21.10.2010 gemäß § 89c SGB VIII an. Für die Zeit
vom 16.12.2009 bis zum 20.10.2010 lehnte der Beklagte die Kostenerstattung ab.
Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen aus: Frau S. G. sei bereits in
der Berufungsverhandlung am 16.12.2009 vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth
mitgeteilt worden, dass sie zum Strafantritt geladen werde, sobald eine JVA für den
Strafvollzug bestimmt sei. Bereits vorher habe sie einen Antrag auf Umverteilung in
eine JVA in Baden-Württemberg gestellt, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. In
der Zeit vom 12.03.2010 bis zum 20.10.2013 habe sie die Freiheitsstrafe in der
JVA Schwäbisch Gmünd verbüßt. Bei ihrer Entlassung aus der JVA Nürnberg und
ihrer Übersiedlung nach L. am 16.12.2009 sei Frau S. G. somit bekannt gewesen,
dass sie sich alsbald wieder in den Strafvollzug begeben müsse. Ihr Aufenthalt in
L. zwischen der Entlassung aus der U-Haft und dem Antritt der Strafhaft sei danach
nicht zukunftsoffen, sondern lediglich vorübergehend gewesen. Sie habe
demzufolge keinen gewöhnlichen Aufenthalt dort gehabt.
10 Mit Schreiben vom 21.04.2011 erwiderte der Kläger auf das Schreiben des
Beklagten: Frau S. G. sei bereits während der U-Haft nach L. umgezogen und
habe nach ihrer Entlassung aus der U-Haft ca. ein Vierteljahr dort auch tatsächlich
verbracht. Ihre Wohnung in S. habe sie schon am 15.03.2009 aufgegeben und
schon damals bekundet, künftig auf Dauer in L. leben zu wollen. Das habe sie
auch im Rahmen ihrer psychiatrischen Begutachtung so gesagt. Ihr Aufenthalt in L.
sei nicht nur vorübergehender Natur gewesen, sondern vielmehr nur durch den
Aufenthalt in der JVA Schwäbisch Gmünd unterbrochen gewesen.
11 Diesem Schreiben widersprach der Beklagte mit Schreiben vom 09.05.2011, in
dem der Beklagte vor allem darauf abstellte, dass Frau S. G., auch wenn sie es
gewollt haben sollte, in L. keinen gewöhnlichen Aufenthalt habe begründen
können, weil sie von Anfang an mit dem baldigen Antritt ihrer Strafhaft habe
rechnen müssen.
12 Am 18.07.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er im
Wesentlichen aus: Der Anspruch auf Kostenerstattung ergebe sich aus den §§ 89c
und 86 Abs. 2 SGB VIII. Danach komme es darauf an, wo die Kindsmutter, Frau S.
G., in der Zeit vom 16.12.2009 bis zum 20.10.2010 ihren gewöhnlichen Aufenthalt
im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I gehabt habe. Dieser sei in L. gewesen.
Frau S. G. habe bereits in Ihrer U-Haft einen Umverteilungsantrag in eine JVA in
der Nähe ihrer Familie gestellt. Da eine solche JVA im Zeitpunkt der
Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth am 16.12.2009 noch
nicht habe benannt werden können, andererseits aber auch keine Fluchtgefahr
bestanden habe, sei Frau S. G. am 16.12.2009 aus der U-Haft entlassen worden.
Umgehend nach dieser Entlassung sei sie zu ihrer Mutter nach L. gezogen und
habe sich dort etwa ein Vierteljahr aufgehalten. Laut einem psychiatrischen
Gutachten vom 02.09.2010 habe sie den Willen dazu bereits in der U-Haft gehabt.
Ihre bisherige Wohnung in S. habe sie aufgegeben. Eine Rückkehr in den
Landkreis N. sei für sie nicht mehr in Betracht gekommen. Die Strafhaft vom
12.03.2010 bis zum 21.10.2010 sei nur eine Unterbrechung dieses Aufenthalts
gewesen. Sie habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in L. dadurch nicht aufgegeben.
Ihr Aufenthalt dort sei zukunftsoffen gewesen, da sie nach ihrer Haftentlassung in
L. habe wohnhaft bleiben wollen und dies auch verwirklicht habe. Während der Zeit
vom 16.12.2009 bis zum 20.10.2010 seien die Jugendhilfeleistungen weiterhin
erbracht worden und dadurch Kosten in Höhe der geltend gemachten Forderung
entstanden.
13 Der Kläger beantragt (sachdienlich),
14 den Beklagten zu verurteilen, die dem Kläger in der Zeit vom 16.12.2009 bis zum
20.10.2010 entstandenen Kosten in Höhe von 66.402,78 EUR, die er für
Maßnahmen der Jugendhilfe für A., K. und C. G. aufgewendet hat, zuzüglich 5 %
Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem 18.07.2012 zu erstatten.
15 Der Beklagte beantragt,
16 die Klage abzuweisen.
17 Zur Begründung führt der Beklagte im Wesentlichen aus: Für die Kinder K. und A.,
deren Vater bereits vor Beginn der Jugendhilfeleistungen gestorben sei, habe sich
die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII nach dem gewöhnlichen
Aufenthalt der Mutter, S. G., gerichtet. Für C., deren Vater ebenso wie deren Mutter
den gewöhnlichen Aufenthalt zwar in verschiedenen Gemeinden, aber innerhalb
des Zuständigkeitsbereichs desselben Jugendhilfeträgers, des Klägers, gehabt
hätten, habe sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gerichtet.
Nach ihrer Entlassung aus der U-Haft am 16.12.2009 sei die Mutter, S. G., zwar
nach L. gezogen, doch sei ihr Aufenthalt dort nur vorübergehend gewesen, da sie
von Anfang an damit gerechnet hätte, in Kürze ihre Strafhaft antreten zu müssen.
Deshalb sei es ausgeschlossen gewesen, in L. einen gewöhnlichen Aufenthalt
gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zu begründen, da sie die Dauer ihres Aufenthalts
bis auf Weiteres im Sinn eines zukunftsoffenen Verbleibs selbst nicht habe
bestimmen können. Das habe sich erst nach ihrer endgültigen Haftentlassung am
21.10.2010 geändert.
18 Der Kammer liegen die Akten des Klägers über die Jugendhilfe für A., K. und C. G.
(3 Hefte) und die entsprechenden Akten des Beklagten (3 Hefte) vor. Der Inhalt
dieser Akten und der Gerichtsakten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung;
hierauf wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
19 Die Kammer konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl für den
Kläger niemand in der mündlichen Verhandlung erschienen ist, da auf diese
Möglichkeit in der ordnungsmäßigen Terminsladung hingewiesen wurde (§ 102
Abs. 2 VwGO).
20 Die auf Zahlung gerichtete, als solche zulässige allgemeine Leistungsklage ist
auch begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung
der ihm in der Zeit vom 16.12.2009 bis zum 20.10.2010 für A., K. und C. G. (dem
Grund und der Höhe nach unstreitig) aufgewandten Jugendhilfekosten in Höhe
von 66.402,78 EUR zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem
18.07.2012, dem Tag der Klageerhebung.
21
1.
Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch des Klägers ist § 89c Abs. 1 SGB
VIII. Nach dieser Vorschrift sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner
Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu
erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden
ist. Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86d
SGB VIII aufgewendet hat, sind von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen
Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a und 86b SGB
VIII begründet wird. Nach § 86c Abs. 1 SGB VIII bleibt der bisher zuständige
örtliche Träger, wenn die örtliche Zuständigkeit für eine Leistung wechselt, so
lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige
örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Dieser hat dafür Sorge zu tragen, dass der
Hilfeprozess und die im Rahmen der Hilfeplanung vereinbarten Hilfeziele durch
den Zuständigkeitswechsel nicht gefährdet werden.
22 Die Voraussetzungen dieser zuvor genannten Vorschriften sind im vorliegenden
Fall erfüllt. Der danach erforderliche Wechsel der örtlichen Zuständigkeit ist erfolgt.
Während bis zum 16.12.2009 der Kläger für Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung
nach den §§ 27 ff. SGB VIII für die Kinder bzw. Jugendlichen A., K. und C. G.
zuständig war, ist seit dem 16.12.2009 der Beklagte insoweit zuständig geworden.
Die örtliche Zuständigkeit des Klägers bis zum 16.12.2009 folgt im Fall von A. und
K. G. aus § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII, da ihr Vater bereits vor Leistungsbeginn
verstorben ist und die allein sorgeberechtigte Mutter, S. G., im
Zuständigkeitsbereich des Klägers ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte; im Fall der
C. G. ergab sich diese Zuständigkeit aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, da sowohl
der Vater, U. H., als auch die auch insoweit allein sorgeberechtigte Mutter, S. G.,
ihren gewöhnlichen Aufenthalt während des gesamten Leistungszeitraums im
Zuständigkeitsbereich des Klägers (wenngleich in verschiedenen Gemeinden)
hatten (vgl. hierzu Eschelbach/Schindler, in: Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7.
Aufl. 2013, § 86 RdNr. 6, m.w.N.). Diese Zuständigkeit wechselte gemäß § 86 Abs.
2 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 SGB VIII durch den Wechsel des gewöhnlichen
Aufenthalts der für alle drei Kinder allein sorgeberechtigten Mutter, S. G., am
16.12.2009 in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten.
23 Maßgeblich kommt es im vorliegenden Fall also darauf an, wo Frau S. G. ab dem
16.12.2009 ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach der gemäß § 37 Satz 1
SGB I mangels entsprechender Sonderregelung im Achten Buch
Sozialgesetzbuch für das dortige Kostenerstattungsrecht geltenden Legaldefinition
des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo
er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder
in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich dafür ist, ob der
Betreffende sich an dem fraglichen Ort „bis auf Weiteres“ im Sinne eines
zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen hat. Daraus folgt zugleich, dass jemand seinen gewöhnlichen
Aufenthalt aufgibt bzw. verliert, wenn er seinen Aufenthaltsort tatsächlich wechselt
und die konkreten Umstände erkennen lassen, dass er am bisherigen
Aufenthaltsort nicht mehr bis auf Weiteres verbleiben und nicht mehr den
Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben wird (BVerwG, Urteil vom
29.09.2010, NVwZ-RR 2011, 21, m.w.N.). Für die Beurteilung von
Aufenthaltsverhältnissen ist eine gegenwartsbezogene, vorausschauende Sicht
maßgebend, bei der alle für die Beurteilung der künftigen Entwicklung bei Beginn
eines streitigen Zeitraums erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind.
Abgesehen von einem zeitlich unbedeutenden oder von vornherein nur kurz
befristeten Verweilen, wie es für einen Besuch oder die Durchreise typisch ist, oder
einem ziellosen Reisen von Ort zu Ort setzt die Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthalts also keine bestimmte Verweildauer, keinen längeren oder gar
dauerhaften Aufenthalt voraus (BVerwG, Urteil vom 18.03.1999, NVwZ-RR 1999,
583, m.w.N.), sondern kann gegebenenfalls schon vom ersten Tag der
Aufenthaltnahme an anzunehmen sein. Erforderlich ist lediglich eine gewisse
Verfestigung der Lebensverhältnisse an einem bestimmten Ort. Dementsprechend
steht der Annahme einer derartigen Verfestigung grundsätzlich nicht entgegen,
dass dem Aufenthalt die Merkmale einer selbstbestimmten, auf Dauer
eingerichteten Häuslichkeit fehlen. Bei Streitigkeiten, ob eine Person an einem
bestimmten Ort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, gelten die Grundsätze der
objektiven Beweis- bzw. Feststellungslast mit der Folge, dass derjenige
beweisbelastet ist, der sich auf eine Tatsache beruft, die den geltend gemachten
Anspruch begründet; kann sich das Gericht von der anspruchsbegründenden
Tatsache nicht überzeugen, ist die Klage abzuweisen (OVG NRW, Beschluss vom
18.03.2002, JAmt 2002, 256, und juris; siehe zum Ganzen Urteil der Kammer vom
16.05.2013 - 4 K 2358/12 -, m.w.N.).
24 Nach diesen Grundsätzen hat Frau S. G., die Mutter der drei Kinder, für die der
Kläger Leistungen der Jugendhilfe erbracht hat, mit dem Umzug nach L. am
16.12.2009 dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Dass sie den Willen
hatte, nach ihrer Haftentlassung auf Dauer in der Nähe ihrer Familie zu wohnen,
das heißt bei ihrer Mutter und Schwester, die beide in L. wohnten, wird auch von
dem Beklagten nicht bestritten. Dafür spricht auch, dass sie bereits mehrere
Monate vor ihrer Entlassung aus der U-Haft, im September 2009, mit Hilfe ihrer
Mutter und Schwester ihre Wohnung im Bezirk des Klägers aufgelöst und sich mit
Wohnsitz in L. angemeldet hatte. Bei der Exploration im Rahmen ihrer
psychiatrischen Begutachtung am 02.09.2010 (vor ihrer endgültigen Entlassung
aus der Strafhaft) habe sie laut Gutachten gegenüber dem Sachverständigen u. a.
gesagt: Noch während der Untersuchungshaft hätten Mutter und Schwester ihren
Umzug nach L. gemacht, dies sei wichtig, da sie dort vollständig neu anfangen
wolle. Nach der Entlassung sei sie etwa ein Vierteljahr in Freiheit gewesen und
habe diese Zeit bei der Familie in L. verbracht. … Sie wolle ein völlig neues Leben
beginnen und deshalb nach L. ziehen. Auch gegenüber dem Beklagten hat Frau
S. G. am 25.01.2011 laut einer Aktennotiz vom selben Tag u. a. angegeben: Ca.
im Januar 2009 habe sich der Entschluss verfestigt, die Verbindungen zu ihrem
bisherigen Wohnort S. zu beenden und bei ihrer Familie in L. wieder neu zu
begründen; es habe Planungen zur Aufgabe und Räumung ihrer Wohnung in S.
gegeben. Bereits am 15.03.2009 sei diese Wohnung endgültig aufgegeben
worden. Sie sei dann von ihrer Schwester auf dem Meldeamt der Stadt L.
angemeldet worden. … Bei der Verhandlung am 16.12.2009 sei ihr bereits bekannt
gewesen, dass sie eine Strafhaft antreten müsse - ein Antrag auf Umverteilung in
eine JVA in Baden-Württemberg (Nähe der Familie) sei bereits gestellt worden. Da
eine JVA in Baden-Württemberg zum Strafvollzug noch nicht habe benannt
werden können und ein milderes Urteil gesprochen worden sei, sei der Haftbefehl
aufgehoben worden und sie habe sich am 16.12.2009 in den Haushalt ihrer Mutter
in L. begeben.
25 Diesen (subjektiven) Entschluss zu einem Neuanfang in L., der für die Begründung
eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts allein nicht ausreicht (vgl. BVerwG, Urteil
vom 29.09.2010, a.a.O., m.w.N.; vgl. hierzu Eschelbach/Schindler, a.a.O., § 86
RdNr. 3, m.w.N.), hat Frau S. G. auch tatsächlich umgesetzt, indem sie am
16.12.2009 nach L. gezogen ist und danach zunächst, das heißt bis zu ihrem
Strafantritt am 12.03.2010 und unmittelbar nach ihrer endgültigen Haftentlassung
am 20.10.2010, im Haushalt ihrer Mutter, sowie ab dem 01.12.2010 in eigener
Wohnung gelebt hat. Damit hatte Frau S. G. ab dem 16.12.2009 ihren
Lebensmittelpunkt in L. und ihr Aufenthalt dort war nicht nur vorübergehend,
sondern zukunftsoffen, das heißt, er war sowohl von ihren subjektiven
Vorstellungen her als auch aufgrund der objektiven Gegebenheiten auf Dauer in L.
angelegt.
26 Dass dieser Aufenthalt in L. in der Zeit vom 12.03.2010 bis zum 20.10.2010, also
für etwas mehr als sieben Monate, von einer Strafhaft unterbrochen war und dass
diese Unterbrechung von Anfang an feststand, ändert nichts daran, dass der
gewöhnliche Aufenthalt von S. G. seit dem 16.12.2009 in L. war. Denn der
Zwangsaufenthalt in der JVA Schwäbisch Gmünd begründete aufgrund der
gesamten Umstände des vorliegenden Falls keinen neuen gewöhnlichen
Aufenthalt von Frau S. G. Zwar kann auch ein Zwangsaufenthalt in einer
Justizvollzugsanstalt grundsätzlich einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen,
wenn sich aus den Umständen des Einzelfalls (wie etwa der voraussichtlichen
Dauer der Strafhaft und den sonstigen Lebensumständen des Untergebrachten)
ergibt, dass der Betreffende sich dort nicht nur vorübergehend aufhält, sondern
nunmehr bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs den
Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urteile vom 29.09.2010,
a.a.O., und vom 04.06.1997, NVwZ-RR 1997, 751). Doch musste Frau S. G. nach
ihrer knapp ein Jahr und sechs Monate dauernden Untersuchungshaft in der JVA
Nürnberg allenfalls noch mit einer zeitlich überschaubaren Restfreiheitsstrafe von
ca. sechs Monaten rechnen, da eine zeitige Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB
bei Vorliegen von in dieser Vorschrift bezeichneten Voraussetzungen nach
Vollstreckung von zwei Dritteln der verhängten Strafe zur Bewährung ausgesetzt
wird. Im vorliegenden Fall war Frau S. G. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
verurteilt worden. Da die Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 StGB
grundsätzlich auf die Verbüßung der Freiheitsstrafe anzurechnen ist, konnte Frau
S. G. damit rechnen, dass ihre Strafhaft allenfalls noch etwas mehr als sechs
Monate dauern würde. Tatsächlich dauerte die Strafhaft letztlich etwas mehr als
sieben Monate (vom 12.03.2010 bis zum 20.10.2010), weil sich die Erstellung
eines kriminalprognostischen Gutachtens (über das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB) und seine Bewertung durch das
Landgericht Ellwangen hinauszogen. Diese Strafdauer hielt sich damit insgesamt
noch in einem überschaubaren Rahmen und rechtfertigte nicht die Annahme, dass
sich die Perspektiven von Frau S. G. auf eine Fortsetzung ihrer
Lebensbeziehungen in L. verändert hatten (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom
04.06.1997, a.a.O., wonach sogar eine Strafhaft von zwei Jahren und drei
Monaten bei Verbüßung der vollen Strafe bzw. von einem Jahr und sechs
Monaten bei Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe nicht zum Verlust des vor
Strafantritt bestehenden gewöhnlichen Aufenthalts des Inhaftierten geführt hat; vgl.
auch OVG Saarl., Beschluss vom 03.09.2007, JAmt 2008, 543, und juris; VG
Bayreuth, Urteil vom 11.02.2013 - B 3 K 12.353 -, juris; unklar: VG Lüneburg,
Gerichtsbescheid vom 12.02.2004 - 6 A 38/02 -, juris). Die Bindungen zu ihrer in L.
lebenden Mutter und ihrer Schwester blieben erhalten und waren der Grund dafür,
dass der Strafvollzug in Baden-Württemberg und nicht, wie zunächst zu erwarten,
in Bayern erfolgte; dass sie die Strafhaft dennoch in dem von L. weit entfernten
Schwäbisch Gmünd verbüßen musste, beruhte allein auf dem für die Betroffene
unglücklichen Umstand, dass der zunächst in der JVA Waldshut avisierte
Strafvollzug wegen dort anstehender Baumaßnahmen nicht realisiert werden
konnte. Von Anfang an war beabsichtigt, dass Frau S. G. nach Verbüßung der
Strafhaft in den Haushalt ihrer Mutter zurückkehren würde. Zu keinem Zeitpunkt
vor und während der Strafhaft gab es Anhaltspunkte für eine sachlich begründbare
Erwartung, dass Frau S. G. an irgendeinen anderen Ort als nach L. zurückkehrt.
27 Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts durch Frau S. G. bereits ab dem
16.12.2009 kann der Beklagte nicht entgegenhalten, dass Frau S. G. schon bei
ihrem Umzug nach L. jederzeit, das heißt im (konkret wenig wahrscheinlichen)
Extremfall sogar nach nur einem Tag ihres Aufenthalts in L., mit der Aufforderung
zum Antritt der Reststrafhaft in einer außerhalb von L. gelegenen JVA rechnen
musste. Zwar unterscheidet sich der vorliegende Fall insoweit von dem Fall, der
dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 04.06.1997 (a.a.O.) zugrunde lag,
als das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts vor Antritt der Freiheitsstrafe in
jenem Fall feststand, während dies im vorliegenden Fall gerade streitig ist. Doch ist
eine zeitlich begrenzte Strafhaft unter den Umständen, wie sie im vorstehenden
Absatz beschrieben sind, nicht geeignet, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt zu
begründen, und deshalb für die Beurteilung eines gewöhnlichen Aufenthalts in der
Zeit davor ohne Bedeutung, das heißt quasi wegzudenken. Dabei ist es ohne
Bedeutung, wie lange der Aufenthalt, der nach den sonstigen Kriterien als
gewöhnlicher Aufenthalt anzusehen ist (wie hier), vor Antritt der Strafhaft
bestanden hat. Denn die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts setzt keine
bestimmte Verweildauer, keinen längeren oder gar dauerhaften Aufenthalt voraus,
sondern kann gegebenenfalls schon vom ersten Tag der Aufenthaltnahme an
anzunehmen sein (siehe oben).
28 Bei dieser Sachlage hatte Frau S. G. ihren gewöhnlichen Aufenthalt bereits seit
dem 16.12.2009 - und nicht erst, wie der Beklagte meint, ab der Entlassung aus
der Strafhaft am 20.10.2010 - in L. und damit im Zuständigkeitsbereich des
Beklagten mit der Folge, dass der Beklagte seitdem für jugendhilferechtliche
Maßnahmen für die Kinder von Frau S. G. zuständig war.
29
2.
Der Kläger hat auch einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung von
Prozesszinsen. Nach § 291 BGB hat der Schuldner von dem Eintritt der
Rechtshängigkeit an eine Geldschuld zu verzinsen, und zwar auch dann, wenn er
nicht in Verzug ist. § 291 BGB ist sinngemäß auch auf öffentlich-rechtliche
Geldforderungen anwendbar, wenn das einschlägige Fachrecht - wie hier das
Sozialrecht - keine abweichende Regelung trifft (BVerwG, Urteil vom 18.05.2000,
DVBl 2000, 1691; Urteil der Kammer vom 16.05.2013, a.a.O., m.w.N.). Der Beginn
der Verzinsung beginnt mit Klageerhebung bei Gericht, hier also am 18.07.2012,
der Zinssatz für Prozesszinsen beträgt 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz
(§§ 291 Satz 2 BGB und § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB).
30 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kammer sieht
davon ab, die Entscheidung hinsichtlich der Kosten für vorläufig für vollstreckbar zu
erklären (§ 167 Abs. 2 VwGO).
31 Gründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom
Verwaltungsgericht zuzulassen wäre, sind nicht gegeben.
32
Beschluss vom 7. November 2013
33 Der Streitwert für das Verfahren wird nach den §§ 43 Abs. 1, 52 Abs. 3 und 63 Abs.
2 GKG auf
66.402,78 EUR
festgesetzt.
34 Wegen der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68
Abs. 1 GKG verwiesen.