Urteil des VG Freiburg vom 24.07.2007

VG Freiburg (ausweisung, freiburg, rechtskräftiges urteil, gegen die guten sitten, rücknahme, befristung, treu und glauben, vollstreckung der strafe, schutz des familienlebens, emrk)

VG Freiburg Urteil vom 24.7.2007, 1 K 1505/06
Ausweisung einer assoziationsbegünstigten Türkin
Leitsätze
Aus dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann sich im Einzelfall ein
Anspruch auf sofortige Befristung der Sperrwirkung einer Ausweisung ergeben.
Tenor
Ziffer 2 des Bescheids des RP Freiburg vom 4.8.2006 wird aufgehoben. Das beklagte Land - RP Freiburg - wird
verpflichtet, die Sperrwirkung der Ausweisung vom 8.10.1999 mit sofortiger (d.h. ab Bekanntgabe des Bescheids
eintretender) Wirkung zu befristen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin und das beklagte Land jeweils 1/2.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Aufhebung einer unanfechtbaren Ausweisung, hilfsweise die Befristung deren
Sperrwirkung.
2
Die am 14.3.1968 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Ihren Nachnamen trägt sie seit einer am
24.8.2000 geschlossenen und am 22.1.2004 geschiedenen (kinderlosen) Ehe mit einem deutschen
Staatsangehörigen. Sie hält sich seit Oktober 1973, als sie mit ihren Eltern einreiste, in Deutschland auf.
Erstmals unter dem 24.4.1984 erhielt sie als damals 16-jährige eine Aufenthaltserlaubnis, die in der Folgezeit
regelmäßig verlängert wurde und zuletzt bis zum 1.7.1999 befristet war. Die Klägerin ist Mutter von fünf
Kindern. Die drei ältesten Kinder (Sohn S., geboren 1985, sowie Zwillingssöhne O. und L., geboren 1988)
stammen aus einer am 21.6.1984 mit einem türkischen Landsmann geschlossenen und im März 1993
geschiedenen Ehe und leben beim Vater, der das Sorgerecht für sie hat. Zwei weitere Kinder, die
ausschließlich in Deutschland aufgewachsen sind, entstammen einer (nicht-ehelichen) Beziehung zu einem
anderen Landsmann und wurden am 17.12.1989 (Tochter Si.) bzw. am 8.12.1996 (Sohn A.) geboren. Die
ursprünglich von der Klägerin für diese beiden Kinder ausgeübte elterliche Sorge wurde zunächst mit
Beschluss des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen vom 16.2.2004 auf die Mutter der Klägerin übertragen
und später mit Beschluss des Amtsgerichts Singen vom 30.5.2006 auf sie zurückübertragen.
3
Strafrechtlich ist die Klägerin mehrfach in Erscheinung getreten, und zwar u.a. wie folgt:
4
Rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Konstanz vom 12.8.1999
5
Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten wegen Beihilfe zum Erwerb von Betäubungsmitteln (Heroin)
in Tateinheit mit Handeltreiben, wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit
mit Handeltreiben, wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Handeltreiben in zwei Fällen, wegen
Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen, davon siebenmal in Tateinheit mit
Handeltreiben, wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in acht Fällen, wegen Erwerbs von
Betäubungsmitteln in drei Fällen, davon zweimal in Tateinheit mit Handeltreiben ( Tatzeitpunkte: Ende 1996 bis
Mitte 1998 ). Die seit Sommer 1997 betäubungsmittelabhängige Klägerin befand sich wegen dieser Taten
zunächst vom 4.8.1998 bis 14.10.1998 in U-Haft. Es folgte eine dreiwöchige Mutter-Kind-Kur, in deren
Anschluss sie einen Drogenrückfall erlitt. Deshalb wurde sie am 23.4.1999 wieder in U-Haft genommen, ab
16.8.1999 in Strafhaft. Ab 25.8.1999 stellte die Staatsanwaltschaft Konstanz die Vollstreckung der Strafe
zurück, damit die Klägerin sich in eine Therapieeinrichtung zur Behandlung ihrer Abhängigkeit begeben konnte.
Die stationäre Behandlung erfolgte bis zum 24.2.2000
6
Rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen vom 15.11.2002
7
Freiheitsstrafe von 2 Monaten zur Bewährung wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (Heroin);
Tatzeitpunkt: März/April 2001.
8
Rechtskräftiges Urteil des Amtsgericht Villingen-Schwenningen vom 30.9.2004
9
Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren zur Bewährung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln (Heroin) in nicht
geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln sowie Handeltreiben mit
Betäubungsmitteln in sieben Fällen, in drei Fällen in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln, in vier
Fällen in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Hehlerei ( Tatzeitpunkt: 2003 ). Betreffend die Aussetzung der
Strafvollstreckung führte das Strafgericht aus, diese sei „trotz erheblicher Bedenken“, die sich aus dem
zweimaligen Bewährungsbruch ergäben, ausgesetzt worden.
10 In weiteren Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz sah die
Staatsanwaltschaft Konstanz von einer Verfolgung ab (Verfügung vom 28.1.2003) bzw. stellte das Verfahren
gem. § 154 d Satz 3 StPO ein (Verfügung vom 14.12.2004).
11 Am 29.6.2006 wurde die Klägerin unerlaubt in der Schweiz angetroffen. Ein Drug-Wipe-Test verlief positiv auf
Opiate/Heroin. Die Klägerin ließ sich dahin ein, sie habe einmalig in Zürich Heroin im Wege einer Aufnahme
durch die Nase konsumiert.
12 Wegen der Straftaten, die dem vorgenannten Strafurteil vom 12.8.1999 zu Grunde lagen, wurde die Klägerin mit
Verfügung des RP Freiburg vom 8.10.1999 - gestützt auf die Vorschriften der Ist-Ausweisung (§ 47 Abs. 1
AuslG) und unter Verneinung besonderen Ausweisungsschutzes - unbefristet ausgewiesen. Ferner wurde sie
zur Ausreise aufgefordert und die Abschiebung in die Türkei angedroht. Vorläufiger Rechtsschutz gegen diese
Entscheidung blieb ebenso erfolglos (Beschluss VG Freiburg vom 1.12.1999 - 9 K 2442/99), wie die
Anfechtungsklage, die im März 2001 zurückgenommen wurde; ein weiterer Eilantrag, die Abschiebung
auszusetzen, war davor erneut durch das VG Freiburg (Beschluss vom 29.6.2000 - 9 K 1230/00) abgelehnt
worden. Gleichwohl kam es nicht zu einer - auf den 31.3.2000 vorgesehenen - Abschiebung der Klägerin und
ihrer beiden jüngsten Kinder, weil diese nicht aufzufinden waren. Ein am 13.7.2000 für sich und die beiden
Kinder gestellter Asylantrag blieb sowohl vor dem Bundesamt (ou-Ablehnung vom 20.7.2000) als auch im
asylrechtlichen Eil- und Klageverfahren vor dem VG Freiburg erfolglos. Am 24.8.2000 erfolgte die Heirat des
deutschen Staatsangehörigen H. M.. Die Klägerin erhielt in der Folgezeit - bedingt durch diese Verheiratung,
durch Ablauf und erforderliche Verlängerung ihrer Personalpapiere, ferner spätere strafrechtliche Ermittlungen
sowie einen Härtefallantrag - bis heute Duldungen.
13 Einen Antrag, die Sperrwirkung der Ausweisung zu befristen, stellte die Klägerin am 11.3.2003. Das RP
Freiburg stellte eine Entscheidung bis zum Nachweis über die freiwillige Ausreise zurück. Vom 7.9.2004 bis
7.6.2005 befand sich die Klägerin erneut in einer stationären Entwöhnungsbehandlung. Mit Schreiben vom
7.12.2005 kündigte das RP Freiburg der Klägerin, deren Härtefallantrag zuvor abgelehnt worden war, die
Abschiebung an und gab ihr Gelegenheit, bis 23.12.2005 freiwillig auszureisen. Unter dem 11.1.2006 ließ die
Klägerin anwaltlich erklären, sie sei zur freiwilligen Ausreise bereit, wenn ihr, in Verbindung mit einer Befristung
der Ausweisungswirkungen, ein Recht auf spätere Familienzusammenführung zu ihren Kindern zugesichert
werde. Am 26.1.2006 beantragte sie, mit Blick auf eine geänderte Rechtslage das Ausweisungsverfahren
wiederaufzugreifen und die Ausweisung zurückzunehmen bzw. hilfsweise zu widerrufen. Zur Begründung gab
sie an, im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des
Bundesverwaltungsgerichts sei die Ausweisung aus dem Jahr 1999 rechtswidrig, weil sie nicht als
Ermessensentscheidung ergangen sei und weil gegen die Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie
64/221/EWG verstoßen worden sei. Da in der Folgezeit keine Entscheidung getroffen wurde, erhob die Klägerin
am 29.5.2006 Untätigkeitsklage (1 K 1026/06). Dieses Verfahren wurde auf Grund übereinstimmender
Erledigungserklärungen mit Beschluss des Berichterstatters vom 30.8.2006 eingestellt.
14 Mit vorliegend streitgegenständlichem (und Grund für die Erledigung der zuvor genannten Untätigkeitsklage
bildenden) Bescheid vom 4.8.2006 (zugestellt am 10.8.2006) lehnte das RP Freiburg das Wiederaufgreifen des
Verfahrens und eine Rücknahme der Ausweisungsentscheidung vom 8.10.1999 ab (Ziff. 1). Ferner wurden die
Wirkungen der genannten Ausweisung nachträglich auf 5 Jahre und 6 Monate ab Ausreise der Klägerin befristet
(Ziff. 2). Zur Begründung wurde angeführt, ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinne
gemäß § 51 LVwVfG bestehe nicht. Eine Änderung der Rechtsprechung stelle keine Änderung der Rechtslage
dar. Über ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne sei nach Ermessen zu entscheiden. Eine
Ermessensreduzierung auf Null liege im Fall der Klägerin nicht vor, weil die Aufrechterhaltung der Ausweisung
nicht schlechthin unerträglich sei. Die Klägerin sei bis heute ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen. Auch
nach der Ausweisung sei sie erneut einschlägig straffällig geworden und wegen Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden. Ferner habe sie sich zweimal unerlaubt in der Schweiz aufgehalten.
Dass sie ihre Drogensucht tatsächlich erfolgreich überwunden habe, sei nicht ersichtlich. Immer wieder sei sie
rückfällig geworden, zuletzt habe sie nach eigenen Angaben am 28.6.2006 in Zürich Heroin konsumiert. Daraus
ergebe sich aber, dass weitere schwere Straftaten konkret zu befürchten seien. Gegen eine Rücknahme
spreche auch, dass die Klägerin es versäumt habe, die Ausweisungsverfügung gerichtlich überprüfen zu
lassen. Ferner sei für den Fall eines Wegfalls der Wiederholungsgefahr das Befristungsverfahren
spezialgesetzlich vorrangig vor demjenigen eines Widerrufs. Im Übrigen hätte auch damals angesichts der
tatsächlichen Umstände eine Ermessensausweisung ergehen können. Im Hinblick auf das hohe Rechtsgut der
Rechtssicherheit könne das Vorliegen eines formellen Fehlers nicht zur Durchbrechung der Bestandskraft
führen. Auch die Entscheidung über eine Rücknahme liege im Ermessen und setze, solle ausnahmsweise eine
Reduzierung auf Null erfolgen, voraus, dass die Aufrechterhaltung mit Blick auf die materielle Gerechtigkeit
schlechthin unerträglich sei. Ferner verlange Gemeinschaftsrecht grundsätzlich nicht, eine bestandskräftige
Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. Bei Berücksichtigung aller Einzelfallumstände sei bedeutsam,
dass die Klägerin ihre Klage gegen die Ausweisung Entscheidung zurückgenommen habe. Ferner müsse, wie
bereits dargelegt, auch weiterhin von einer Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Auch wegen weiterer
Ermessenserwägungen könne auf obige Ausführungen verwiesen werden, sodass kein Anlass bestehe, die
Ausweisungsentscheidung zurückzunehmen. Bei der Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung sei die noch
zu § 8 Abs. 2 AuslG ergangene Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums vom 25.1.2002 entsprechend
heranzuziehen gewesen. Da die Klägerin nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung hätte ausgewiesen
werden dürfen, sei folglich Ziff. 1.3.1 einschlägig. Ausgehend von der verhängten Strafe von zwei Jahren und
sechs Monaten liege ein Regelfall von fünf Jahren und sechs Monaten vor. Dabei sei berücksichtigt worden,
dass die Ausweisung bereits längere Zeit zurückliege. Allerdings habe sich die Gefahrenprognose nicht zu
Gunsten der Klägerin verändert, weil sie erneut einschlägig verurteilt worden und weitere Ermittlungsverfahren
nur im Hinblick auf diese Verurteilungen eingestellt worden seien. Die Aussetzung der späteren Freiheitsstrafen
zur Bewährung sei trotz erheblichen Bedenken ergangen und ohne die Stellung einer positiven Sozialprognose
erfolgt. Absolvierte Drogentherapien seien angesichts von Rückfällen nicht erfolgreich gewesen. Auch der
Umstand, dass die Klägerin im Mai 2006 das Sorgerecht für ihre beiden jüngsten Kinder wieder zurückerhalten
habe, stehe nicht entgegen. Die Kinder seien türkische Staatsangehörige und könnten jederzeit mit
zurückkehren. Da sie in einer türkischen Großfamilie aufgewachsen seien, müssten sie mit der türkischen
Sprache vertraut sein. Andererseits gebe es auch keine Hinweise, dass die Kinder auf eine dauernde
Anwesenheit der Klägerin in Deutschland angewiesen seien. Während ihrer Inhaftierung und Drogentherapie
hätten sie nämlich nicht zusammengelebt. Vielmehr seien sie von Schwester bzw. Mutter der Klägerin
aufgezogen worden. Auch während des unerlaubten Aufenthalts in der Schweiz seien die Kinder bei
Verwandten zurückgelassen worden. Am 24.7.2006 habe die Klägerin noch erklärt, sie wolle nicht nach Singen
zu ihren Kindern umverteilt werden, sondern im Raum Villingen-Schwenningen bleiben.
15 Die Klägerin hat am 23.8.2006 Klage erhoben. Sie wiederholt ihren Vortrag zur formellen und materiellen
Rechtswidrigkeit der Ausweisung und weist ergänzend darauf hin, gerade durch die Aufrechterhaltung der
Ausweisung werde es ihr äußerst schwer gemacht, sich hier zur resozialisieren. Ohne Aufenthaltstitel und nur
mit einer Duldung sei sie als Alleinerziehende mit zwei Kindern ungeheuer belastet. Das RP Freiburg verkenne
gerade auch die assoziationsrechtlichen Maßgaben, wonach die Begünstigten nur aufgrund einer
Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürften und ein deutliches Überwiegen öffentlicher Interessen zu
verlangen sei. Betrachte man die Tatsache, dass bislang sieben Jahre vom Vollzug der Ausweisung
abgesehen worden sei, und dass sie, die Klägerin, für zwei hier im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene
Kinder das alleinige Sorgerecht habe, so überwögen jedoch die privaten Interesse deutlich. Ferner würden die
Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK verletzt, weil die beiden Kinder keinerlei Bezug zur Türkei hätten und
einen Trennung unverhältnismäßig sei. Schließlich stelle auch die erfolgte Befristungsentscheidung aufgrund
der langen Dauer eine unzumutbare Beeinträchtigung dar.
16 Die Klägerin beantragt sinngemäß,
17
den Bescheid des RP Freiburg vom 4.8.2006 aufzuheben und das beklagte Land - RP Freiburg - zu
verpflichten die unter dem 8.10.1999 verfügte Ausweisung aufzuheben;
18
hilfsweise unter Aufhebung der Ziff. 2 des Bescheids des RP Freiburg vom 4.8.2006 das beklagte Land -
RP Freiburg - zu verpflichten die Sperrwirkung der Ausweisung vom 8.10.1999 mit sofortiger Wirkung zu
befristen.
19 Das beklagte Land beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21 Es bezieht sich auf die angefochtene Entscheidung und fügt ergänzend hinzu, selbst wenn man die
Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.4.2004 auf Assoziationsbegünstigte bejahe, so sei sie auf die
Ausweisung der Klägerin mangels Rückwirkung nicht anzuwenden. Für geänderte materielle Anforderungen
stelle folglich das Befristungsverfahren eine vorrangige Spezialregelung dar. Laut Mitteilung des
Polizeipräsidiums Stuttgart vom 12.6.2007 sei derzeit ein Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin wegen
Wechselfallenschwindels anhängig.
22 Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den
Akteninhalt (6 Hefte des RP Freiburg, ein Heft Gerichtsakten der erledigten Untätigkeitsklage 1 K 1026/06)
Bezug genommen. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne
mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
23 I. Der zulässige Hauptantrag, der auf eine Aufhebung der bestandskräftigen Ausweisung zielt (vgl. dazu, dass
die Wirkungen von Ausweisungen, die vor diesem Zeitpunkt gegenüber nach dem ARB 1/80 privilegierten
türkischen Staatsangehörigen verfügt und bestandskräftig geworden sind, mit dem Inkrafttreten des AufenthG
am 1.1.2005 nicht entfallen sind: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.1.2007 - 13 S 451/06 - InfAuslR 2007, 182;
Beschl. v. 13.4.2006 - 1 S 734/06 - VENSA), ist unbegründet. Die Ziff. 1 der Entscheidung des RP Freiburg
vom 4.8.2006 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
24 Einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinne gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG
sowie eine daran anschließende (positive) Sachentscheidung (zur Verfahrens- und Entscheidungsstruktur im
Rahmen des § 51 LVwVfG vgl. für die bundesrechtliche Regelung: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6.
Auflage 2001, § 51 Rnrn. 22 ff.: eigenständige Neubescheidung ohne Bezug zu §§ 48, 49 VwVfG) hat das RP
Freiburg zu Recht abgelehnt. Die geltend gemachte Änderung der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts stellt keine neue Rechtslage dar. Wegen Einzelheiten kann insoweit auf den
Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 29.3.2007 (11 S 2147/06 dort Entsch.-Seiten 5/6) im
Beschwerdeverfahren, welches das PKH-Begehren der Klägerin im erledigten Verfahren 1 K 1026/06 betraf,
Bezug genommen werden.
25 Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rücknahme oder Widerruf der Ausweisung. Wie sich aus § 51 Abs.
5 LVwVfG ergibt, sind die Verfahren nach § 51 Abs. 1 bis 4 LVwVfG (sog. Wiederaufgreifen im engeren Sinne)
und diejenigen der Rücknahme und des Widerrufs - sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne - nicht identisch. §
51 Abs. 5 LVwVfG stellt - in Entsprechung zur bundesrechtlichen Rechtslage - klar, dass mit der Schaffung
des § 51 Abs. 1 LVwVfG nichts daran geändert wird, dass auf Antrag des Betroffenen eine
Ermessensentscheidung auf der Grundlage der §§ 48, 49 LVwVfG zu ergehen hat (vgl. zu §§ 51, 48, 49
VwVfG: Sachs, a.a.O., Rnr. 141 f.). Soweit dem RP Freiburg (zu dessen Zuständigkeit vgl. §§ 48 Abs. 5, 49
Abs. 5 LVwVfG i.V.m. § 12 Abs. 3 AAZuVO) folglich ein Ermessensspielraum bei der Frage der erneuten
Überprüfung und Aufhebung der bestandskräftigen Ausweisung blieb, hat es in seinem Bescheid
rechtsfehlerfrei entschieden, die Ausweisung nicht aufzuheben. Mit Blick auf einen Widerruf gemäß § 49
LVwVfG folgt dies bereits daraus, dass dieser spezialgesetzlich durch das Institut der Befristung i. S. v. § 11
Abs. 1 Satz 3 AufenthG jedenfalls insoweit ausgeschlossen ist, als es um für den Fortbestand des
Ausweisungszwecks erhebliche Sachverhaltsänderungen geht. Im übrigen ist nur die Rücknahme einschlägig,
weil es sich bei der Ausweisung um einen (siehe sogleich) rechtswidrigen Verwaltungsakt handelt, für den § 49
LVwVfG nicht gilt.
26 Eine Rücknahme hat das RP Freiburg rechtsfehlerfrei abgelehnt. Zutreffend ist die Behörde davon
ausgegangen, dass grundsätzlich gemäß § 48 Abs. 1 LVwVfG in die Überprüfung, ob eine Rücknahme
stattfinden soll, einzutreten war. Die Ausweisung vom 8.10.1999 ist nämlich rechtswidrig gewesen, weil der
Klägerin eine assoziationsrechtliche Rechtsposition gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zustand. Sie war 1973
zusammen mit ihren Eltern eingereist und hatte ihre erste Aufenthaltserlaubnis am 24.4.1984 zum Zweck der
Familienzusammenführung, d.h. zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit einem
dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmer, ihren Eltern,
erhalten. Mit diesen hatte sie auch die erforderliche Dauer von mindestens drei bzw. fünf Jahren - konkret bis
zum 5.7.1984, als sie zu ihrem türkischen Ehemann nach Tuttlingen zog - zusammengelebt (vgl. zur Geltung
des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechend für ein Kind, das im Mitgliedstaat geboren ist und stets dort gewohnt
hat: EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya] - NVwZ 2005, 198). Ihre Volljährigkeit im Zeitpunkt der
Ausweisung änderte an der unmittelbar aus dem ARB 1/80 folgenden Rechtsposition ebenso wenig etwas, wie
die ab 4.8.1998 erfolgte Verbüßung von U-Haft bzw. später Strafhaft im Zusammenhang mit dem Urteil des LG
Konstanz vom 12.8.1999 (zu diesen Einzelheiten des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 vgl. EuGH, Urt.
v. 7.7.2005 - C-373/03 [Aydinli] - InfAuslR 2005,352; ferner EuGH, Urt. v. 16.1.2006 - C-502/04 [Torun] -
InfAuslR 2006, 209). Ihre Ausweisung hätte folglich nicht, wie vom RP Freiburg damals verfügt, nach den
Regelungen über die Ist-Ausweisung sondern nur nach denjenigen über die - in der Ausweisungsverfügung
auch nicht hilfsweise herangezogene - Ermessensausweisung erfolgen dürfen (grundlegend: BVerwG, Urt. v.
13.9.2005 - 1 C 7/04 - BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110). Ferner wäre, woran es jedoch ebenfalls
fehlte, formell-rechtlich zuvor eine zweite Stelle i.S.v. Art. 9 Abs. 1 RiL 64/221/EWG zu beteiligen gewesen
(vgl. hierzu ebenfalls BVerwG, Urt. v. 13.9.2005, a.a.O.). Ein „dringender Fall“ i.S. der vorgenannten Vorschrift
lag nicht vor, weil sich auf Grund der Strafhaft der Klägerin bzw. ihrer Drogentherapie eine von ihr ausgehende
Gefahr nicht vor Abschluss eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisiert hätte und auch sonst eine
Verzögerung der Ausweisungsentscheidung durch die Einschaltung einer zweiten Stelle hinnehmbar gewesen
wäre (zum letztgenannten Gesichtspunkt vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.6.2006 - 11 S 2299/05 - VENSA).
27 Hiervon ausgehend hat das RP Freiburg jedoch gleichwohl eine Rücknahme ablehnen dürfen und sein
Ermessen insoweit rechtsfehlerfrei erkannt bzw. betätigt (zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab vgl. § 114
VwGO).
28 Umstände, nach denen sich das der Behörde von § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eingeräumte Ermessen dahin
verdichtet hätte, dass nur die Rücknahme des Bescheides ermessensfehlerfrei wäre, liegen nicht vor. Bei der
Ausübung des Rücknahmeermessens ist in Rechnung zu stellen, dass dem Grundsatz der materiellen
Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem
anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit
ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen
Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer
Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
begründet keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer
Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann
„schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in
gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände
gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten
oder Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen
Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin
unerträglich. Ferner kann in dem einschlägigen Fachrecht eine bestimmte Richtung der zu treffenden
Entscheidung in der Weise vorgegeben sein, dass das Ermessen im Regelfall nur durch die Entscheidung für
die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtmäßig ausgeübt werden kann, so dass sich das Ermessen in
diesem Sinne als intendiert erweist (vgl. zusammenfassend: BVerwG, Urteil v. 17.1.2007 - 6 C 32.06 - Juris).
29 Umstände, die das Ermessen hin auf eine Rücknahme reduziert hätten oder die das RP Freiburg sonst - im
Rahmen eines verbleibenden Spielraums - fehlerhaft unberücksichtigt gelassen oder falsch gewichtet hätte,
liegen hier nicht vor. Von einer offensichtlichen Europa- bzw. Assoziationsrechtswidrigkeit kann angesichts des
Zeitpunkts der Ausweisungsentscheidung im Jahr 1999 - über 5 Jahre vor Änderung der höchstrichterlichen
Rechtsprechung - nicht ausgegangen werden (vgl. in diesem Sinne sogar noch für eine unter dem 5.9.2005
verfügte Ausweisung durch das RP Freiburg: VG Freiburg, Urt. v. 28.3.2007 - 1 K 505/06). Ein Festhalten an
der Ausweisung stellt auch keinen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Effizienzgebot dar. Denn die
Klägerin hat es durch die Zurücknahme ihrer damaligen Klage versäumt, die Ausweisung einer gerichtlichen
Überprüfung auf eine Vereinbarkeit mit Gemeinschafts-/Assoziationsrecht zuzuführen. Wie der EuGH im Urteil
vom 19.9.2006 (C-392/04 und C-422/04 [I 21] - InfAuslR 2006, 439) ausgeführt hat, verlangt das
Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine
Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung
des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist. Durch die Beachtung dieses Grundsatzes lässt sich verhindern,
dass Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in Frage gestellt werden können.
Nur in bestimmten Fällen kann jedoch eine Schranke für diesen Grundsatz bestehen, nämlich wenn vier
Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens, die Behörde ist nach nationalem Recht befugt, diese Entscheidung
zurückzunehmen. Zweitens, die Entscheidung ist infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden
nationalen Gerichts bestandskräftig geworden. Drittens, das Urteil beruht, wie eine nach seinem Erlass
ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts,
die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des
Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war. Viertens, der Betroffene hat sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von
der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt. Maßgeblich ist
also, dass der Betroffene sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat. Diese auf
Assoziationsbegünstigte zu übertragenden Ausnahmevoraussetzungen liegen jedoch im Fall der Klägerin nicht
vor (in diesem Sinne bereits konkret für den Fall der Klägerin auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.3.2007,
a.a.O.).
30 Zutreffend hat das RP Freiburg schließlich eine Abwägung von öffentlichen Belangen (Rechtssicherheit) und
privatem Interesse (materielle Gerechtigkeit) auch unter dem Gesichtspunkt der Frage nach „schlechthin
unerträglichen“ Auswirkungen für die Klägerin vorgenommen. Die Ausländerbehörde hat zutreffend darauf
hingewiesen, dass gerade angesichts der den Ausweisungsanlass im Jahr 1999 bildenden
Betäubungsmittelstraftaten eine konkrete Wiederholungsgefahr von der Klägerin ausging, die im damaligen
Ausweisungszeitpunkt auch eine Ermessenausweisung in Betracht kommen lassen konnte (zu diesem
Prüfungsgesichtspunkt und seiner Zulässigkeit im Rahmen des Rücknahmeermessens: Hamb. OVG, Beschl.
v. 14.12.2005 - 3 Bs 79/05 - InfAuslR 2006, 305; OVG Niedersachsen, Beschluss v. 30.5.2006 - 11 LA 147/05
- NVwZ 2006, 1302). Nach ständiger Rechtsprechung ist die Ausweisung eines assoziationsbegünstigten
Türken nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zulässig, wenn die hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit erneuter
Straftaten im Rahmen der Betäubungsmittelkriminalität steht. Der Handel mit und die Verwendung von
gefährlichen Betäubungsmitteln - allen voran Heroin - stellt nämlich sowohl einen schweren Ausweisungsanlass
i.S.d. nationalrechtlichen besonderen Ausweisungsschutzvorschriften (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) als
auch einen EU-/assoziationsrechtlich relevanten Verstoß gegen Grundinteressen der Gesellschaft dar (vgl.
etwa VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.9.2003 - 11 S 973/03 - VENSA, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rspr.
des BVerwG und des EuGH).
31 Eine schlechthin unerträgliche Wirkung hat die Aufrechterhaltung der Ausweisung auch nicht vor dem
Hintergrund des Art. 8 EMRK. Allerdings kann die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Fall des
unwiederbringlichen Verlusts für das Privatleben konstitutiver Beziehungen nicht durch eine Befristung ihrer
Wirkungen erreicht werden, so etwa, wenn das Aufenthaltsrecht nach dem Wegfall der Bindungen an das
Bundesgebiet eine Wiedereinreise grundsätzlich nicht vorsieht, und der spätere (im Wege der Befristung der
Sperrwirkungen eintretende) Wegfall des Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG daher ohne
praktische Wirkung bleibt (BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 - soweit ersichtlich nur veröffentlicht
auf der Internethomepage des Gerichts unter Entscheidungen > Rubrik Mai 2007 > Datum 10.5.; weniger
streng: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.6.2000 - 13 S 1378/98 - VBlBW 2001, 23 , der darauf abstellt, bei Vorliegen
der Voraussetzungen des § 30 Abs. 5 AuslG [jetzt § 25 Abs. 5 AufenthG] könne auch auf eine vorherige
Ausreise des Ausländers verzichtet werden). Im Fall der Klägerin existiert jedoch eine bestandskräftige
Ausweisung, die im Jahr 1999 auch nach Ermessen hätte ernsthaft in Betracht kommen können. Die
Aufrechterhaltung dieser Ausweisung bedeutet zwar, dass damit endgültig der Verlust ihres Aufenthaltsrechts
nach Art. 7 ARB 1/80 feststeht (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Dies hat ferner zur Folge, dass nach dem
Ende der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG sich ein türkischer Staatsangehöriger nicht
(mehr) auf ein Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 berufen kann, also einem (normalem) türkischen
Staatsangehörigen gleichgestellt ist, der in das Bundesgebiet einreisen will (Armbruster, in: HTK-AuslR / ARB
1/80 / Art. 14 05/2007 Nr. 2 und Nr. 9). Da sich die Klägerin jedoch wirksam und effektiv im Rahmen des
Befristungsanspruchs nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG darauf berufen kann, eine Aufenthaltsbeendigung
verstoße gegen Art. 8 EMRK (dazu sogleich unter II.), wird sie im Ergebnis durch eine Aufrechterhaltung der
früheren Ausweisung nicht unerträglich belastet.
32 II. Erfolgreich ist hingegen der zulässige Hilfsantrag der Klägerin. Seine Auslegung (§ 88 VwGO) anhand des
maßgeblichen Anwaltsschriftsatzes vom 4.7.2007 ergibt, dass die Klägerin die Gründe, die eine
Unerträglichkeit der Aufrechterhaltung ihrer Ausweisung darstellen, hilfsweise auch der
Befristungsentscheidung entgegenhalten will. Damit macht sie aber im Ergebnis einen Anspruch auf Befristung
mit sofortiger Wirkung geltend. Dieses Begehren hat in der Sache auch Erfolg. Ziffer 2 des RP-Bescheids ist
nämlich rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil sie einen Anspruch auf sofortige
Beseitigung der Sperrwirkung - mithin eine Befristung auf Null - hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
33 Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG werden die in den vorangehenden Sätzen 1 und 2 bezeichneten (Sperr-
)Wirkungen der Ausweisung auf Antrag in der Regel befristet. Diese Regelung ist eine wichtige Ausprägung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und stellt als solche einen bedeutsamen Baustein im abgestuften
Regelungsgefüge des deutschen Ausländerrechts zur Aufenthaltsbeendigung dar. Sie hat unmittelbar
drittschützende Wirkung dahingehend, dass der Ausländer bei Vorliegen eines Regelfalles einen Anspruch auf
Befristung überhaupt sowie einen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des der Ausländerbehörde hinsichtlich der
Fristdauer eingeräumten Ermessens hat, der sich bei der Ermessensreduzierung „auf Null“ auf eine bestimmte
Fristdauer/-modalität verengen kann. Für die bei der Fristbemessung maßgeblichen Grundsätze gilt, dass sie
am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und am ordnungsrechtlichen Zweck - hier Spezialprävention - der zu
befristenden Maßnahme zu orientieren ist. Bei der Prognose, ob bzw. wie lange der ordnungsrechtliche Zweck
die Sperrwirkung weiterhin erfordert, sind alle - vor allem auch nachträglich eintretende - Umstände des
Einzelfalls zu berücksichtigen, soweit sie geltend gemacht (§ 82 AufenthG) oder sonst für die Behörde
erkennbar sind. Schließlich sind - sei es als Element der eigentlichen Prognoseentscheidung selbst oder aber
als selbstständiges fristverkürzendes Element - die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen höherrangigen
Rechts, vornehmlich die Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK sowie der
im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl.
grundlegend und mit zahlr. Nachweisen zur identischen Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG: VGH
Bad.-Württ., Urt. v. 26.3.2003 - 11 S 59/03 - InfAuslR 2003, 334). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung
der Sach- und Rechtslage des mit der Verpflichtungsklage geltend gemachten Anspruchs auf Befristung der
Wirkungen der Ausweisungsverfügung ist dabei der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. - wenn
die Entscheidung, wie hier, ohne mündliche Verhandlung ergeht - der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung
gefällt wird (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.1.1997 - 11 S 2142/96 - InfAuslR 1997, 158; Armbruster, in HTK-
AuslR, § 11 AufenthG / zu Abs. 1 Satz 3, 5 und 6 > Nr. 9 Rechtsschutz > Nr. 4).
34 Vorliegend kommt der Schutz des Art. 8 EMRK der Klägerin zugute. Im Rahmen der Befristung der
Ausweisung ist zwingend sicherzustellen, dass unzumutbare Auswirkungen, die eine Rückkehr in die Türkei für
sie hätte, unterbleiben. Dies aber kann - mit der Folge einer Ermessensreduktion auf Null - nur dadurch
geschehen, dass die Sperrwirkung sofort, d.h. noch während der Anwesenheit der Klägerin in Deutschland
wegfällt. Sowohl die Klägerin als Migrantin der zweiten Generation als auch ihre beiden Kinder Sibel (17 Jahre
alt - sie wird am 17.12.2007 18 Jahre) und Ali-Erdal (10 Jahre alt - er wird am 8.12.2007 11 Jahre) - sie sind
Migranten der dritten Generation - können sich auf den Schutz des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK
berufen. Die mit einer längeren Befristung - und sei es auch nur von wenigen Monaten - verbundene Folge einer
Rückkehr der Klägerin in Türkei hätte mehrfache, erheblich nachteilige Folgen, die diesen Eingriff im Sinne des
Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft nicht als notwendig bzw. nicht als zumutbar
darstellen.
35 An der Existenz und Schutzwürdigkeit eines Familienlebens kann kein Zweifel bestehen. Die beiden
minderjährigen Kinder haben zwar eine nicht ganz unbeträchtliche Zeit bei Großmutter und Tante gelebt, das
erfolgte erkennbar jedoch vor dem Hintergrund, dass sie für den Fall einer Abschiebung der Klägerin in die
Türkei hier bleiben und versorgt sein sollten. Von Februar 2004 bis Mai 2006 hatte die Klägerin zwar das
Sorgerecht für ihre beiden jüngsten Kinder auf ihre Mutter übertragen lassen. Seither besitzt sie es jedoch
wieder und lebt auch mit den Kindern zusammen. Der Hinweis des RP Freiburg, die Klägerin habe am
24.7.2006 erklärt, keine Umverteilung zu ihren Kindern nach Singen zu wollen, geht von falschen
Voraussetzungen aus. Zu keiner Zeit konnte dem entnommen werden, dass die Klägerin nicht mit ihren
Kindern zusammenleben wollen. Vielmehr war diese Erklärung so gemeint, dass sie zwar in Villingen-
Schwenningen bleiben, jedoch dort zusammen mit den Kindern wohnen wollte. Das wird auch dadurch
bestätigt, dass die Klägerin mittlerweile mit ihren beiden minderjährigen Kindern sowie ihrem erwachsenen
Sohn aus der ersten Ehe dort eine neue Wohnung bezogen hat.
36 Eine Rückkehr der Klägerin in die Türkei würde entweder einen unzumutbaren Zwang auf die minderjährigen
Kinder ausüben, ihr zu folgen, oder aber eine unzumutbare Trennung nach sich ziehen. Es ist davon
auszugehen, dass Sibel und Ali-Erdal dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen. Dies folgt entweder daraus,
dass sie ihrerseits gemäß Art. 7 ARB 1/80 assoziationsbegünstigt begünstigt sind, oder jedenfalls daraus,
dass ihnen i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK und den Vorschriften über die Aufenthaltserlaubnis ein nationales Recht
zusteht. Die beiden Kinder sind nämlich hier geboren und haben Zeit ihres Lebens - das sind im heutigen
Entscheidungszeitpunkt über 17 bzw. über 10 Jahre - in diesem Land und seinem kulturellen sprachlichen
Umfeld gelebt und sind hier bislang zur Schule gegangen. Unabhängig davon, ob sie die türkische Sprache
zumindest in Grundzügen beherrschen mögen, haben sie sonst offensichtlich keine Bindungen zur Türkei - alle
nahen Familienangehörigen leben offensichtlich ebenfalls in Deutschland -, sodass ihnen als faktischen
Inländern eine Rückkehr dorthin bzw. ein Leben dort unzumutbar wäre. Eine Trennung von ihrer Mutter wäre
ihnen nicht zuzumuten. Sie können nicht darauf verwiesen werden, andere Verwandte - so wie in der
Vergangenheit Großmutter und Tante - seien zur Betreuung fähig bzw. bereit. Sowohl der Schutz des Art. 6
Abs. 1 GG als auch derjenige des Art. 8 EMRK beinhaltet nämlich auch die Befugnis zu entscheiden, welche
Personen miteinander in Beistandsgemeinschaft leben wollen.
37 Das Gericht ist schließlich auch davon überzeugt, dass die Kinder weder zusammen mit ihrer Mutter noch
dass diese allein auch nur vorübergehend in der Türkei derart Fuß fassen könnten, dass eine reale
Existenzmöglichkeit dort bestünde. Die Kinder sind für die Existenzsicherung auf die Mutter angewiesen. Die
Klägerin jedoch ist, das darf trotz ihrer erheblichen Strafbarkeit nicht verkannt werden, krank, weil
heroinsüchtig. Sie hat trotz zweier umfangreicher Therapien immer wieder einen Rückfall erlitten. Zwar muss
(vgl. § 42 AsylvfG) auf Grund der unanfechtbaren Asylentscheidung des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge vom 20.7.2000 davon ausgegangen werden, dass die Heroinsucht der Klägerin in der Türkei im Fall
einer Rückkehr behandelt werden kann. Im übrigen hätte wohl auch in der Sache nach nichts für ein
Abschiebungshindernis gesprochen (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.2.2003 - A 12 S 939/02 - VENSA
sowie VG Freiburg, Urt. v. 21.11.2003 - 1 K 205/02 - VENSA). Die negativen Auswirkungen auf die Familie
sowie die mit dem Zwang zu einer auch nur vorübergehenden Integration in der Türkei einhergehende
Überlastung der persönlichen und sozialen Kräfte der Klägerin sind damit jedoch nicht bindend verneint worden.
Maßnahmen aber, die Familienmitglieder an einem Zusammenleben hindern bzw. auseinanderreißen, stellen
einen sehr schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht dar (EGMR, Urt. v. 31.1.2006
- 50252/99 [Sezen] - InfAuslR 2006, 255). Das gilt umso mehr hier, wo die Klägerin und ihre Kinder sich in einer
zweifellos problematischen Lebenssituation befinden, und gerade deshalb besonders aufeinander angewiesen
sind, um ein Mindestmaß an Stabilität zu gewährleisten. Ausgehend von einem Aufenthaltsrecht der Kinder
wird auch die Klägerin wieder einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis geltend machen können. Insoweit
liegt nämlich eine außergewöhnliche Härte i.S.v. § 36 AufenthG vor.
38 Der Gesichtspunkt einer von der Klägerin angesichts späterer einschlägiger Betäubungsmittelstraftaten auch
im heutigen Zeitpunkt ausgehenden Wiederholungsgefahr muss vor diesem gesamten Hintergrund
zurücktreten. Begreift man, wie oben dargelegt, ihre gesamte persönliche und auch familiäre Situation als
äußerst problematisch, so mag sogar zu ihren Gunsten berücksichtigt werden, dass die zuletzt erfolgte
Verurteilung vom 30.9.2004 durch das Amtsgericht Villingen-Schwenningen eine Aussetzung der
Strafvollstreckung zur Bewährung aussprach. Wenngleich ein solcher Umstand zwar tatsächliches Gewicht
hat, gleichwohl aber im ordnungsrechtlichen Kontext nicht ausländerrechtliche Maßnahmen der
Spezialprävention verhindern muss, so ist doch zu beachten, dass offensichtlich auch das Strafgericht der
Möglichkeit einer Resozialisierung der Klägerin für ihre Person eine besonders wichtige Bedeutung
zugemessen hat.
39 Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO; das Gericht hat keinen Anlass, sie für
vorläufig vollstreckbar zu erklären (§ 167 Abs. 2 VwGO). Gründe für eine Zulassung der Berufung liegen nicht
vor, weshalb hinsichtlich der Anfechtbarkeit dieses Urteils folgendes gilt: (Rechtsmittelbelehrung).